21
Rule sah, wie Lily erschrak. Er spürte denselben Schock, eine böse, schleichende Gewissheit, dass die Dinge sehr bald außer Kontrolle geraten würden.
„Truppen?“, wiederholte Lily. „Die Armee, meinen Sie? Sie haben vor, die Armee einzusetzen?“
„Nein, ich habe mich bereits dagegen entschieden. Ich erkläre es Ihnen. Ich habe eine Serie von möglichen Szenarien geträumt. Viele handelten von ausgedehnten Bränden, Unruhen, gewalttätigen Horden – der komplette Zusammenbruch der Zivilbehörden in San Diego. In manchen Traumsequenzen war dieser Zusammenbruch jedoch nicht auf San Diego begrenzt. Ich will Sie nicht beunruhigen, aber es besteht die Möglichkeit, dass die kommende Krise das gesamte Land erfasst. Vielleicht auch andere Länder.“
„Wir wurden gerade davor gewarnt“, sagte Lily langsam, „dass überall auf der Welt etwas Unheilvolles passieren könnte.“
Rubens schwacher Seufzer drückte mehr Erleichterung als Entsetzen aus. „Dann habe ich die Richtige angerufen. Gut. Aus irgendeinem Grund habe ich daran gezweifelt … Nun ja.“
„Haben Sie eine Ahnung, ein Gefühl, wie nah die Krise bevorsteht?“
„Hmm. Das kann ich nicht genau beantworten. Ich versuche es etwas einzugrenzen. Dass ich so viele Sequenzen geträumt habe, deutet darauf hin, dass es viele Entscheidungspunkte gibt, die zu dem führen können, was ich gesehen habe. Einige dieser Punkte stehen möglicherweise unmittelbar bevor. Ich glaube, mein erster Impuls, die Präsidentin zu bitten, die Nationalgarde in Alarmbereitschaft zu versetzen, war einer davon. Ich entschied, dass der Einsatz des Militärs die möglichen Schäden eher erhöhen als begrenzen würde. Wissen Sie, warum das so sein könnte?“
„Mist, Mist. Vielleicht. Lassen Sie mich meine Gedanken sortieren. Wir waren gerade bei Sam – Rule ist bei mir –, und was wir dort erfahren haben, könnte diese Träume erklären. Er sagte …“ Sie brach ab. Ein seltsamer Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht, als hätte sie in ein Steak gebissen, um dann festzustellen, dass ihre Zähne auf Stahl getroffen waren. „Er hat uns von diesem Wesen berichtet, dieser … Er sagte, ich … Da gibt es … Oh, Scheiße.“
Lily hielt Rule das Telefon hin. „Ich kann nicht. Ich kann es nicht sagen.“
Er nahm das Telefon und überlegte schnell. Mit Li Qin hatte Lily über die Chimei sprechen können, also warum … Aber Li Qin wusste bereits von der Chimei. Ruben nicht. Das musste der Unterschied sein. „Ruben, hier ist Rule. Ich übernehme mal. Lily ist nicht in der Lage, mit Ihnen über dieses Thema zu sprechen. Eine geis, eine Art geerbtes Tabu, das an Lilys Gabe gebunden ist, statt von ihr abgewehrt werden zu können, hindert sie daran.“
„Hallo, Rule.“ Rubens Stimme war höflich, wenn auch leicht misstrauisch. „Was geht denn da bei Ihnen vor?“
Lily beobachtete ihn, aufmerksam und wütend. Er wünschte, er hätte ihre Hand halten können, hatte aber keine mehr frei. „Ich muss Sie etwas fragen. Jetzt ist es bei Ihnen nach Mittag. Offenbar haben Sie mehrere Stunden gewartet, um Lily anzurufen. Eben sagten Sie, Sie hätten Zweifel gehabt, aber das weiter nicht ausgeführt. Hatten Sie ein ungutes Gefühl dabei, mit Lily über diese Sache zu sprechen?“
„Ja, ich dachte, diese Unterhaltung könnte der nächste Entscheidungspunkt sein oder diesen schneller herbeiführen.“
„Haben Sie dieses Gefühl auch, wenn Sie mit mir sprechen?“
Ruben schwieg einen Moment. „Eigentlich ist es sogar noch stärker.“
„Gut. Lassen Sie mich kurz nachdenken.“
Sehr leise sagte Lily: „Rule, du musst es Ruben sagen.“
„Muss ich? Anscheinend ist Ruben eine Schlüsselfigur, sonst hätte das Abkommen dich nicht zum Schweigen gebracht. Ruben hat ein ungutes Gefühl, wenn er mit mir spricht. Wenn ich ihn nun aufkläre, könnte es eine der indirekten Handlungen sein, von denen Sam gesprochen hat, die das Abkommen brechen.“
„Oder es könnte genau der Grund sein, warum Sam dich hinzugezogen hat – damit du das sagen kannst, was ich nicht aussprechen kann!“
Der Kopf schwirrte ihm von dem Versuch, Vermutungen über Konsequenzen anzustellen, die unmöglich angestellt werden konnten. Sam hatte auch Rule über die Lage informiert. Das war eine bewusste Wahl gewesen, keine Notwendigkeit, und musste deswegen etwas bedeuten. Aber was? „Er hat mich eingeweiht, obwohl die geis keine Wirkung auf mich hat und das Abkommen mich nicht hindert, zu handeln. Deshalb muss es mir möglich sein, etwas zu unternehmen, vorausgesetzt, es bricht das Abkommen nicht.“
„Bisher finde ich die Unterhaltung interessant, wenn auch ein wenig frustrierend“, sagte Ruben am anderen Ende der Leitung.
„Tut mir leid, ich sprach mit Lily. Ich hätte auf ‚stumm‘ stellen sollen. Wenn Sie zu diesem Zeitpunkt zu viel erfahren, hat das Konsequenzen.“
„Aber auch, wenn ich zu wenig weiß, was im Moment der Fall ist.“
„Tut mir leid“, wiederholte Rule, „aber ich muss den Apparat kurz auf ‚stumm‘ stellen.“ Er berührte das Display.
Lily war kurz davor zu platzen. „Verdammt, Rule, wir können das nicht einfach für uns behalten!“
„Aber zuerst müssen wir herausfinden, warum Sam mich hinzugezogen hat – und warum das Abkommen es zugelassen hat.“
„Er hat es getan, damit du für mich sprechen kannst!“
„Das ist eine Möglichkeit.“ Rule vertraute Ruben genauso wie jedem anderen Menschen, der nicht zu seinem Clan gehörte, aber wenn er dem Mann von der Chimei und dem Abkommen erzählte, kamen enorm viele neue Variablen hinzu. „Aber was, wenn Ruben beschließt, dass er sich nicht mehr auf dich verlassen kann, weil du unter fremdem Einfluss stehst?“
„Er würde mich nicht von dem Fall abziehen. Jemand anders wäre zwar nicht durch die geis behindert, aber auch nicht immun gegen die Chimei und ihren Geliebten.“ Ihr Ton war sachlich. Sie dachte wieder nach.
„Aber Ruben reicht mein Wort vielleicht nicht. Und er hätte nur mein Wort, nicht deins, denn du kannst ja nicht mit ihm reden.“
„Wie bescheuert.“
„Ja.“ Und das war nur eine von einem halben Dutzend Möglichkeiten, sich vorzustellen, was alles schiefgehen konnte. Ein halbes Dutzend, die ihm jetzt auf die Schnelle einfielen – wie viele mochten ihm entgangen sein?
Ruben jetzt einzuweihen, war zu riskant. Er hatte keine Kontrolle über die Entscheidungen, die Ruben oder die, die er informieren würde, treffen würden. Vielleicht rief Ruben ja wirklich keine Truppen, aber die Präsidentin konnte womöglich seine Entscheidung kippen. Wenn er Ruben einweihte, hatte das zur Folge, dass die Zahl der Entscheidungspunkte in die Höhe schoss.
Nein, das stimmte nicht ganz … Wenn er ihm Informationen vorenthielt, bedeutete das nicht, dass Ruben nichts unternehmen würde. Er würde dabei nur im Dunkeln tappen. „Zum Henker damit. Erwartet Sam etwa, dass ich herausfinde, was er denkt, dass ich tun würde, und es dann tue? Woher soll ich denn wissen, was ein Drache glaubt, was ich tun würde?“
Widerstrebend sagte Lily: „Sam kennt dich vor allem als Wolf. Er würde deine Handlungen als Wolf voraussagen, nicht als Mensch.“
Ja. Ja, das ergab Sinn. Er lächelte ihr kurz zu und verfiel dann in Schweigen, um halb in seinen Wolf zu schlüpfen – und nach und nach fielen viele der Probleme von ihm ab. Er hatte weniger Möglichkeiten, und sie wurden klarer erkennbar.
Er stellte den Ton des Telefons wieder an und sagte knapp: „Ruben?“
„Ich bin immer noch da.“ In der Stimme des Mannes lag eine untypische Schärfe.
„Sie lagen richtig mit Ihrem Gefühl. Rufen Sie nicht die Armee oder die Nationalgarde. Wir haben es mit einem Wesen zu tun, das imstande ist, die Sinne von großen Mengen zu manipulieren – bis zu fünfhundert Personen auf einmal, soweit wir bisher wissen. So viele haben gestern Abend dieses Wesen weder gesehen noch gerochen oder gehört. Lily war die Einzige. Ihre Gabe hat die Illusion blockiert.“
„Aber sie lässt zu, dass die geis sie am Sprechen hindert.“
„Wie ich bereits sagte, ist die geis Bestandteil ihrer Gabe, auch wenn sie bisher noch nicht ausgelöst wurde. Aber es verwirrt nicht Lilys Sinne, was dieses Wesen bei beinahe jedem schafft.“
„Auch bei Ihnen?“
„Ja. Es handelt sich dabei nicht um eine Gedanken-, sondern um eine Bewusstseinskontrolle. Die Leute sehen und riechen, was diese Kreatur ihnen sagt. Wir kennen nicht die Reichweite ihrer Kräfte. Möglicherweise kann sie noch mehr Menschen erreichen als gestern Abend. Da sie sich aber von den Ängsten anderer nährt, würde es die Krise nur beschleunigen, wenn Sie die Nationalgarde anforderten. Die Garde würde möglicherweise auf Unschuldige schießen, weil sie sie für Monster hielte.“
„Sie sagten ‚sie‘. Was ist das für ein Wesen?“
„Das kann ich Ihnen im Moment noch nicht sagen.“
„Können Sie es nicht, oder wollen Sie es nicht?“
„Lily kann es nicht. Ich will es nicht. Und ich werde meine Entscheidung auch nicht näher erläutern, tut mir leid.“
Ruben schwieg lange. „Es hat etwas mit dem Abkommen zu tun, von dem Sie sprachen, bevor Sie auf ‚stumm‘ stellten. Jede Art von Abkommen obliegt der Regierung, nicht Ihrem Clan.“
„Das Abkommen, von dem ich sprach, ist älter als die Regierung der Vereinigten Staaten.“ Er machte eine Pause und erwog seine Optionen. „Ich glaube, mehr werde ich dazu nicht sagen.“
„Hat es etwas mit der, deren Namen die Lupi nicht nennen, zu tun? Die, die letztes Jahr versucht hat, ein Höllentor zu öffnen und der Sie und Lily sich in Dis entgegengestellt haben?“
Ruben war erstaunlich intelligent – und kam exakt zu der von Rule beabsichtigten Schlussfolgerung. Ein dummer Mensch wäre nicht so schnell zu dem falschen Ergebnis gekommen. „Diese Frage werde ich nicht beantworten.“
„Das kann ich nicht akzeptieren.“
„Ich brauche erst mehr Informationen, um zu wissen, was ich Ihnen gefahrlos mitteilen kann – und jedem anderen auch.“
„Sie brauchen mehr Informationen? Nicht Lily?“
„Wir beide natürlich. Aber da sie sich gegen ihren Willen hierzu nicht äußern kann, muss ich entscheiden, was ich sage und wem und wann. Wir werden diesen Feind aufhalten, Ruben“, fügte er ruhig hinzu, „ich weiß nur noch nicht, wie. Wir sitzen quasi auf einem Pulverfass.“
Rubens Ton war sehr trocken. „So viel meine ich verstanden zu haben. Geben Sie mir Lily.“
„Gut.“ Obwohl er nicht sicher war, dass Lily seine Entscheidung gutheißen würde, gab er ihr das Telefon.
„Lily“, sagte Ruben, „können Sie mir überhaupt irgendetwas sagen?“
Düster erwiderte sie: „Eigentlich nicht.“
„Können Sie mir denn bestätigen, dass das, was Rule gesagt hat – auch wenn es nur wenig war –, stimmt?“
„Ja.“ Ihre Miene hellte sich überrascht auf. „Anscheinend kann ich das. Er hat Ihnen nicht genug berichtet, aber das, was er sagte, ist richtig.“
„Sie sind mit seiner Entscheidung, Informationen zurückzuhalten, nicht einverstanden.“
„Das stimmt, aber …“ Sie warf Rule einen Seitenblick zu. „Aber ich verstehe seine Gründe, und sie sind berechtigt. Er geht auf seine Art vor, und das gefällt mir nicht, aber er tut es in der richtigen Absicht. Ich weiß, wo sich die Szenarien, von denen Sie geträumt haben, abspielen könnten. Ich weiß es nur zu gut.“
„Was brauchen Sie von mir?“
Beinahe hätte Rule vor Erleichterung die Augen geschlossen. Ruben entzog Lily nicht die Leitung der Ermittlungen.
„Das weiß ich noch nicht. Nein, warten Sie. Ein Auto. Ich brauche ein Auto. Meins ist immer noch in der Werkstatt.“
„Da das Schicksal von San Diego und damit wahrscheinlich der ganzen Welt daran hängt“, sagte Ruben trocken, „werde ich das wohl arrangieren können. Was haben Sie jetzt vor?“
„Nach dem Täter zu suchen. Die, äh, die Rule erwähnt hat, die ich aber offenbar nicht erwähnen kann – nein, warten Sie. Ich kann sagen, dass sie versucht hat, Cullen zu töten. Der Täter. Er ist … Mist, weiter komme ich nicht.“
„Dies ist für uns beide frustrierend. Ida wird Ihnen einen Wagen zur Verfügung stellen. Wohin sollen wir ihn schicken?“
„Zum Büro der Gerichtsmedizin. Dorthin fahren wir gerade.“
„Gut. Vermutlich ist er noch vor Ihnen da. Ich sehe Sie dann morgen.“
„Was? Warum?“
„Ich komme zu Ihnen, ich nehme ein Flugzeug“, sagte er gelassen. „Ich habe das Gefühl, ich werde gebraucht. Auf Wiedersehen.“
Lily nahm das Telefon vom Ohr und starrte es verständnislos an. „Er kommt hierher.“
„Gut.“
„Das findest du gut? Obwohl du ihm nicht genug vertraust, um ihm die Wahrheit zu sagen?“
„Er ist ein starker Präkog, der seine Vorahnungen außergewöhnlich genau deutet. Ich wüsste niemanden, der uns besser durch dieses Labyrinth führen könnte.“
„Aber in welchem Labyrinth wir uns befinden, willst du uns nicht sagen?“
Er musterte sie prüfend. Sie war immer noch wütend. Seinetwegen, aber nicht nur. „Mir fällt es schwer, meine Gründe in Worte zu fassen, denn sie sind vor allem nonverbaler Art. Der Wolf wollte … nein, ich wollte, dass Ruben genug weiß, um nicht blind zu agieren, aber es ist gut möglich, dass er anderen von dem berichtet, was ich ihm sage. Das schien mir äußerst gefährlich zu sein. Wir wissen nicht, wie diese anderen reagieren werden, möglicherweise auf eine Art, die Sam nicht vorausgesehen hat und mit der er nicht gerechnet hat.“
„Aber jetzt kann Ruben nur Vermutungen und Spekulationen weitergeben. Inwiefern ist das besser?“
„Deswegen habe ich ihn ja glauben lassen, dass wir es mit der, deren Namen wir nicht nennen, zu tun haben.“
„Was hast du?“
„Ich habe ihm nicht die Unwahrheit gesagt, ihm aber auch nicht widersprochen. Wir beide haben uns ja gestern Abend das Gleiche gefragt, bevor wir von der Chimei wussten. Es war nicht schwer, ihn dorthin zu führen.“
„Du hast ihn bewusst getäuscht.“
„Ruben wird uns eher zutrauen, dass wir mit der Situation fertig werden, wenn er glaubt, sie stecke dahinter. Lupi sind die Einzigen auf der Welt, die sich mit ihr auskennen.“
„Das ergibt nur Sinn, wenn ich deine Ausgangsprämisse akzeptiere – dass es besser ist, ihm nicht die Wahrheit zu sagen.“
Er fand seine Entscheidung jetzt so einleuchtend, dass es ihm schwerfiel zu verstehen, warum sie anderer Meinung war. „Sam will, dass die Zahl der Entscheidungspunkte so niedrig wie möglich ist. Sonst wird das Abkommen möglicherweise ohne sein Wissen gebrochen.“
„Du überlässt Sam die Entscheidung? Ruben gegenüber hast du den Rho gespielt, aber –“
„Ich habe was?“
„Du hast den Rho gespielt. Du hast keine Vorschläge gemacht – du hast ihn einfach über die Lage informiert und ihm gesagt, was er zu tun hat, und ihn dann manipuliert, wie es dein Vater getan hätte. Wenn er nicht am anderen Ende des Kontinents gewesen wäre, hätte er den Sog deiner Clanmacht gespürt.“
„Menschen spüren die Clanmacht nicht.“
Sie schnaubte. „Träum weiter. Ich habe gesehen, wie du die Macht bei einem ehemaligen Mitglied der Marine hast spielen lassen und wie der Mann klein beigegeben hat. Egal – darüber können wir uns später streiten. Der Punkt ist, dass du nach Sams Pfeife tanzt. Wir müssen Ruben zurückrufen und ihm alles erzählen.“
„Sam weiß, wo es langgeht. Wir nicht.“
„Also lässt du ihn einfach für dich entscheiden? Das sieht dir gar nicht ähnlich.“
„So ist es nicht“, fuhr er sie an. Ganz offensichtlich hatte seine nadia in mehr als einer Hinsicht die Natur eines Drachen – was ihm erneut klarmachte, wie schwer es für sie gewesen sein musste, das Band der Gefährten zu akzeptieren, aber darüber würde er zu einem anderen Zeitpunkt nachdenken. Wenn sie ihn bis dahin nicht wahnsinnig gemacht hatte. „Sam und ich sind Verbündete. Du überreagierst.“
„Das tue ich ganz und gar nicht! Ich lasse mich nicht ausschließen, mundtot machen, von dieser … dieser …“
„Im Moment beherrscht das Abkommen mehr von dir als deine Sprache. Du bist wie ein Tier, das versucht, sich das Bein abzubeißen, um einer Falle zu entkommen. Du reagierst nur, denkst nicht nach.“
„Ich denke sehr wohl nach. Ich denke, dass ich es nicht gut finde, dass du Ruben getäuscht hast.“
„Ruben ist ein guter Mann, aber er arbeitet für die Regierung. Wenn Sams Handlungen indirekt eine andere Macht dazu bringen, gegen die Chimei vorzugehen, dann wird das wahrscheinlich das Abkommen brechen.“
„Ich arbeite auch für die verdammte Regierung.“
„Und du darfst nicht mit Ruben sprechen. Um die Regierung mit ins Spiel zu bringen.“ Er ließ ihr Zeit, den Gedanken zu verdauen. „Du erträgst es nicht, wenn man dich zu etwas zwingt. Das verstehe ich. Und Sam noch besser als ich, dessen bin ich mir sicher. Aber er hatte Zeit, sich daran zu gewöhnen. Er lässt nicht zu, dass seine Wut sein Denken beherrscht.“
„Seine was?“ Sie schüttelte den Kopf. „Sam war kühl und gelassen wie immer.“
„Er zeigt seine Gefühle nicht. Das heißt nicht, dass er keine hat. Dieses Abkommen bindet ihn sogar noch stärker als dich. Wie, meinst du, fühlt sich wohl die von Natur aus freieste Art, die es je gegeben hat, wenn sie eingeschränkt wird?“
Sie klopfte mit den Fingern auf den Oberschenkel. Stirnrunzelnd blickte sie ins Leere.
Jetzt befanden sie sich wieder in der Stadt und damit im Verkehr. Er schwieg, um ihr Gelegenheit zu geben, nachzudenken. Dann sagte er: „Diese Leiche, die du dir ansehen willst. Warum kam der Tipp von einem Deputy? Ist es ein Fall für das County?“
„Hmm? Oh. Nein, aber Cody hatte davon gehört. Er hat früher für den Stadtkreis gearbeitet, außerdem ist er Polizist in zweiter Generation. Er hat immer noch viele Freunde bei der Polizei.“ Sie schnitt eine Grimasse. „Mehr als ich anscheinend, denn schließlich hat er mich –“
Ihr Telefon klingelte. Auch diesen Klingelton erkannte er wieder – die Melodie von Alien versus Predator – und wusste, zu wem er gehörte.
Lily betrachte kritisch ihren Schoß, in dem das Telefon immer noch lag. Dann seufzte sie. Und nahm ab. „Hallo, Mutter. Danke, dass du mich zurückrufst.“
„Natürlich rufe ich dich zurück. Du hast gesagt, es sei wichtig. Er hat doch keinen Rückzieher gemacht? Hat er es sich anders überlegt?“
Als Rule Lilys verständnislosen Blick sah, musste er trotz allem grinsen. „Wer?“
„Rule natürlich! Wen soll ich sonst meinen? Bekommt er kalte Füße? Habt ihr euch gestritten? Wenn ja, überlass ihn einfach mir. Ich und er werden uns morgen treffen, um den Ort für die Zeremonie zu besprechen. Ich werde ihm klarmachen, dass deine Familie von ihm erwartet –“
„Nein. Nein, Mutter, ich rufe nicht wegen Rule an, der immer noch fest entschlossen ist, mich zu heiraten. Keine kalten Füße. Ich habe gehört, dass Großmutter dir einen Talisman gegeben hat.“
„Deswegen hast du angerufen? Äh! Ein komisches kleines Ding, so ein kleiner, schwarzer Anhänger an einer Kette. Er schimmert wie ein Opal, hübsch, aber seltsam. Hast du ihn schon mal gesehen? Ich nicht, bevor sie ihn mir geschenkt hat. Obwohl sie ihn mir nicht wirklich geschenkt hat. Sie hat nur gesagt, er wäre selten und wertvoll und ich solle ihn immer tragen. Natürlich konnte sie mir nicht einfach etwas schenken, sondern musste mir gleich wieder Anweisungen geben. Ich weiß eigentlich gar nicht, ob er in ihren Augen jetzt mir gehört. Du weißt ja, wie deine Großmutter ist. Sie könnte ihn mir auch geliehen haben. Und du bist sicher, dass Rule keinen Rückzieher macht?“
„Ja, ich bin sicher. Wann hat sie ihn dir gegeben? Oder dir gesagt, dass du ihn tragen sollst“, ergänzte Lily hastig. „Wann war das?“
„Vorgestern, glaube ich. Ja, das stimmt, weil ich nämlich gerade Tante Mequi besuchen wollte, aber deine Großmutter hat es ja nicht nötig, vorher anzurufen, deswegen musste ich Mequi anrufen und ihr sagen, dass es später würde.“
„Trägst du den Talisman jetzt gerade?“
„Jetzt? Ich trage das Kleid mit den Rosen. Du weißt, welches ich meine, das mit den weißen Applikationen. Dazu passt die Kette nicht.“
„Du trägst es nicht?“
„Der Talisman ist schwarz, Lily. So ein komisches Schwarz, das noch in anderen Farben schimmert, aber trotzdem. Schwarz passt nicht zu meinem Rosenkleid. Aber mach dir keine Sorgen. Ich habe ihn sicher weggepackt. Ich würde nicht zulassen, dass einem von Großmutters Schätzen etwas zustößt.“
Lily atmete tief ein, dann wieder aus. „Es ist lebenswichtig, dass du diesen Talisman immer trägst. Im Moment ist gerade viel … viel böse Magie aktiv. Großmutter hat dir den Talisman zu deinem Schutz gegeben. Vater, ich und die Mädchen sind geschützt, weil wir blutsverwandt mit ihr sind. Du nicht.“
„Das ist doch Unsinn. Deine Großmutter nimmt dich auf den Arm, erzählt dir Geschichten. Das hat sie auch schon bei mir versucht – hat irgendetwas von einem Zauber erzählt, in dem große Magie steckt. Aber wenn das so ist, warum habe ich sie ihn nie tragen sehen? Wenn es ein mächtiger Talisman wäre, würde sie ihn doch tragen. Du bist zu gutgläubig, Lily. Du kennst sie doch.“
„Mutter, bitte, du musst mir glauben. Nur dieses eine Mal, auch wenn ich es dir nicht beweisen kann, glaube mir, dass dein Leben davon abhängen könnte, dass du diesen Talisman trägst.“
Es folgte eine kurze Stille, dann: „Du meinst es ernst.“
„Sehr ernst.“
„Oh, na gut. Iss am Montag mit mir zu Mittag, damit wir dein Brautkleid aussuchen können, dann trage ich den dummen Talisman. Zu irgendetwas aus meiner Garderobe wird er ja wohl passen. Dann muss ich mich jetzt wohl umziehen.“
Lily stieß einen erleichterten Seufzer aus. „Danke, Mutter. Ich weiß, das kommt dir alles seltsam vor, aber es ist wirklich sehr wichtig. Aber, äh … was Montag angeht –“
„Du musst endlich entscheiden, was für ein Kleid du möchtest, Lily. Du kannst nichts von der Stange kaufen. Es muss bestellt und geändert werden. Das braucht seine Zeit.“
„Vielleicht Montag in einer Woche. Ich glaube, dann kann ich.“
„Dann trage ich den Talisman auch erst in einer Woche.“
„Nein! Du wirst doch nicht dein Leben riskieren, nur um mich zu erpressen –“
„Dann also Montag. Diesen Montag. Wir treffen uns bei deinem Onkel Chen um zwölf Uhr Mittag. Ich weiß, du magst sein Orangenhuhn.“
„Aber –“
„Montag, Lily.“
Lily presste die Augenlider zusammen. Auch ihre Stimme klang angespannt. „Montag. Mittag. Onkel Chen.“
„Gut. Das wird lustig, du wirst sehen. Jetzt muss ich auflegen, weil ich mich umziehen muss. Eine schwarze Hose, denke ich. Die passt zu dem Talisman. Ich habe eine, die nicht zu dick für den Sommer ist.“ Dann verabschiedete sich Julia Yu gut gelaunt von ihrer Tochter und legte auf.
Lily ließ die Hand in den Schoß sinken. Sie schüttelte den Kopf. „Was ist da gerade passiert? Wie macht sie das bloß? Eben noch versuche ich zu verhindern, dass ein Dämon die Stadt in seine Gewalt bringt, und kurz darauf verabrede ich mich mit meiner Mutter zum Mittagessen, um Brautkleider auszusuchen. Brautkleider“, wiederholte sie, als wären Brautkleider das Trivialste der Welt.
„Den meisten Frauen ist das Brautkleid wichtig“, sagte er milde. „Ganz offensichtlich deiner Mutter auch.“
„Aber es ist nicht ihre Hochzeit, sondern meine. Und …“ Lily machte ein mürrisches Gesicht. „Was mache ich hier eigentlich? Ich streite mich mit ihr, obwohl ich gar nicht mehr mit ihr spreche. Ich hasse das. Und was meinst du damit: Den meisten Frauen ist es wichtig? Mir auch. Nur nicht jetzt.“
Sie hatten den Komplex der Behördengebäude erreicht, in dem sich auch das Büro des Gerichtsmediziners befand. Rule fuhr langsamer. „Schon ohne Chimei hast du diese Entscheidungen hinausgeschoben. Du willst kein Datum festlegen. Dir ist es egal, wo die Trauung stattfindet. Du trägst nicht einmal meinen Ring am Finger, sondern unter deiner Kleidung. Versteckt.“
„Weil wir es noch nicht offiziell der Presse bekannt gegeben haben und du es geheim halten wolltest, damit du alles so drehen kannst, wie es dir am besten passt.“
„Ich bin bereit. Ich bin schon lange bereit. Du setzt immer andere Prioritäten.“
„Jetzt, vielleicht? Willst du es jetzt machen? Klar, lass uns eine Pressekonferenz abhalten. Das geht vor, der Kampf gegen die Chimei kann warten.“
„Du verstehst nicht, was ich sagen will. Du siehst die Ehe so wie damals am Anfang das Band der Gefährten. So, wie die geis dieses Abkommens. Du empfindest sie als Fessel, als Beschränkung.“
„Das stimmt nicht! Gott, warum sagst du das?“
„Du solltest mal darüber nachdenken, warum du mich heiraten willst. Ich selbst musste auch erst meine eigene Einstellung zur Ehe finden. Ich weiß, warum ich sie will. Warum ich meinen Ring an deinem Finger sehen will und deinen an meinem.“
„Ich will es, weil ich dich liebe, du verdammter Idiot!“
„Ja, das tust du, aber du hast eingewilligt, mich zu heiraten, weil ich dich gedrängt habe.“ Damals war er sich dessen bewusst gewesen. Und er hatte es nicht bereut. Aber trotzdem trat er härter auf die Bremsen als nötig, als er auf dem Besucherparkplatz hielt. „Du hast meinen Antrag angenommen, weil von dir erwartet wird, dass du heiratest. Aber was du wirklich willst, weißt du nicht.“
„Danke für die Psychoanalyse. Wenn du fertig bist –“
„Noch nicht. Für alles brauchst du Gründe, das Was, Wann, Warum, sonst fühlst du dich nicht wohl. Du musst für dich herausfinden, warum du mich heiraten willst.“
„Na klar, kein Problem. Erst rette ich die Stadt, dann drehe ich dir den Hals um, und wenn ich dann noch Zeit finde, denke ich drüber nach und melde mich dann wieder bei dir.“ Sie stieß die Tür auf und packte ihren Laptop. „Ich bekomme ein anderes Auto, und es ist effizienter, wenn wir uns aufteilen. Du brauchst also nicht auf mich zu warten.“
Er wusste, wann er entlassen war. Und das machte ihn wütend. Er hatte bei ihr bleiben wollen. Und auch sie hatte das vorgehabt. Aber vielleicht war es besser, wenn sie sich getrennt voneinander beruhigten. „Na gut. Ich bin dann im Krankenhaus und kümmere mich darum, dass Cullen verlegt wird.“
„Gut.“ Sie knallte die Tür zu.
Rule fuhr vom Parkplatz, ohne dass die Reifen quietschten. Als er noch einmal zurücksah, lehnte ein stämmiger, dunkelhäutiger Mann in Khakihosen an einem Sheriffwagen.
Deputy Cody Beck.
Rule trat nicht auf das Gaspedal. Schließlich war er kein hormongesteuerter Jugendlicher.
Aber er hätte es gern getan.