11
Das Treppenhaus war gut beleuchtet, und irgendwo über ihnen hörte Lily Schritte.
Deshalb war sie ein wenig nervös, als Rule sie festhielt, umdrehte und ihr einen Kuss auf die Stirn gab. „Du machst dir Sorgen um deine Großmutter.“
„Nein. Ja. Ja, ich glaube wohl. Obwohl es dumm ist. Ich meine, wir sprechen hier von Großmutter. Sie hat eine Notiz hinterlassen“, fügte Lily unvermittelt hinzu. „Nicht Großmutter. Li Qin. Sie hing an der Wand gegenüber der Eingangstür.“
„Ich wusste gar nicht, dass du einen Schlüssel für ihr Haus hast.“
„Großmutter hat ihn mir vor Jahren gegeben. Ich habe ihn nie benutzt.“ Und auch heute Abend hatte sie lange gezögert, aber schließlich hatte sie entschieden, sie müsse sich vergewissern, dass niemand dort drinnen in seinem Blut lag. „Die Notiz war an mich gerichtet. Auf dem Zettel stand, dass sie und Großmutter für eine Weile verreisen müssten und dass sie mir nicht sagen würde, ich müsse mir keine Sorgen machen, denn Worte seien machtlos gegen die Angst, die ein Geheimnis auslöst, aber es gehe ihnen beiden gut und sie kämen dann zurück, wenn sie könnten.“
Rule runzelte die Stirn. „Wenn sie könnten?“
„Ja.“ Und genau deswegen machte Lily sich doch Sorgen. Es sah ihrer Großmutter gar nicht ähnlich, so einfach zu verschwinden. Das einzige Mal, als sie so etwas schon einmal getan hatte, hatten sie es mit einer verrückten Telepathin, einem Höllentor und ein paar Großen Alten zu tun bekommen. Doch damals hatte sie nicht Li Qin mitgenommen. „Großmutters alter Buick ist auch weg“, ergänzte sie.
„Dann musste Li Qin sie fahren.“
Lily nickte. Ihre Großmutter konnte entweder nicht Auto fahren oder weigerte sich – Lily war sich nicht sicher, was von beidem zutraf. „Großmutter würde Li Qin nie in Gefahr bringen, deswegen wird es schon nicht so schlimm sein, was sie vorhat.“
Über ihnen öffnete und schloss sich eine Tür, und dann verstummten die Schritte. Lily war unruhig. Sie begann, die Treppe hinaufzugehen. „Ich habe nicht erkennen können, wie viel sie gepackt haben, aber Kleidung haben sie definitiv mitgenommen. Das lässt vermuten, dass sie nicht so schnell zurück sein werden.“
Rule ging mit ihr Schritt haltend neben ihr her. „Ich weiß, dass Madame Yu Englisch spricht, aber kann sie es auch schreiben?“
„Sicher. Sie behauptet, dass sie Hanzi lieber mag, aber sie mag alles Chinesische lieber, wenn sie schlecht gelaunt ist. Warum?“
„Ich habe mich gefragt, warum Li Qin und nicht deine Großmutter dir eine Nachricht hinterlassen hat.“
„Gute Frage. Großmutter weiß vielleicht nicht einmal davon.“ Darüber dachte Lily einen Moment nach. „Falls sie die Reise geheim halten wollte, würde Li Qin nichts verraten, aber sie würde auch nicht einfach etwas erfinden.“
„Bist du sicher, dass es Li Qins Handschrift war?“
„Wenn nicht, war da ein sehr guter Fälscher am Werk. Niemand schreibt wie Li Qin. So gestochen. Außerdem hört es sich nach ihr an. Zu Beginn hofft sie, dass es mir gut geht, und am Schluss bedauert sie, dass ihre plötzliche Abwesenheit mir Sorgen machen könnte.“ Lily runzelte die Stirn. „Obwohl Großmutters Entscheidung zu verschwinden vielleicht gar nicht so plötzlich kam, wie es scheint. Beth sagt, Großmutter habe sich in letzter Zeit merkwürdig verhalten. Sie wollte mich überreden, sie zu besuchen, um herauszufinden, was los sei.“
„Ah, ich verstehe, was dir zu schaffen macht. Du machst dir Vorwürfe, dass du nicht schon letzte Woche nach dem Rechten gesehen hast. Ganz sicher hätte sie dir auf der Stelle ihr Herz ausgeschüttet.“
Sie musste lächeln. „Wenn du damit meinst, dass sie mir nichts gesagt hätte, hast du wahrscheinlich recht, aber –“
„Wahrscheinlich?“
„Na gut, na gut, du hast Recht. Wenn sie mich hätte einweihen wollen, hätte sie es getan.“ Und nichts und niemand konnte ihre Großmutter dazu bringen, mehr von sich preiszugeben, als sie selbst wollte, weder durch Zwang noch durch Überredung, Täuschung oder Schmeichelei. „Aber ich hätte merken müssen, dass etwas im Busch ist. Beth hat es gemerkt.“
„Dann ist dein Problem also, dass du nicht deine Schwester bist.“
Lily zog eine Grimasse. „Wenn ich will, kann ich unlogisch sein.“
„Du weißt, dass du jederzeit Cynna bitten kannst, Madame Yu zu finden, wenn du es für nötig hältst.“
„Ja, das könnte ich.“ Der Gedanke munterte sie etwas auf, obwohl sie nicht vorhatte, darauf zurückzugreifen. Cynna hatte im Moment schon genug zu tun. „Was hältst du denn davon? Großmutter verschwindet, weil sie irgendetwas zu tun hat, ohne jemandem etwas über den Grund und ihr Ziel zu erzählen. Ein paar Stunden später wird Cullen von einem geheimnisvollen Mann angegriffen, der zu unmöglichen Dingen imstande ist, magisch gesehen. Diese Ereignisse scheinen nur dadurch verbunden, dass sie zur gleichen Zeit stattfanden und trotzdem … Versuche ich, da einen Zusammenhang zu sehen, nur weil ich beide Personen kenne?“
„Wenn es so ist“, sagte er grimmig, „dann sehe ich denselben Zusammenhang, und das gefällt mir gar nicht.“
Sie hatten den dritten Stock erreicht. Sie zögerte und drehte sich dann zu Rule um, ohne die Tür zu öffnen. „Du fürchtest, sie hat irgendwie ihre Finger im Spiel. Die, deren Namen wir nicht aussprechen.“
„Du nicht?“
Doch. Sie auch. „Ich will nicht alles, was ich nicht verstehe, auf sie schieben. Das bringt mich nicht weiter. Aber … nun, wir sollten das weiter besprechen, aber nicht hier im Treppenhaus. Vielleicht kann Cullen ja ein paar Lücken füllen – zum Beispiel, warum ihn jemand so dringend tot sehen will, dass er in aller Öffentlichkeit einen Mordversuch an ihm begangen hat.“
Cullens Zimmer lag zum Flur hin und hatte, wie Lily befriedigt feststellte, keine Fenster. Zwar befanden sie sich im dritten Stock, und der Killer würde wohl kaum wie Spiderman die Außenwände hochklettern, aber dieser Killer war zu den unwahrscheinlichsten Dingen imstande. Und Fenster waren nun einmal eine Schwachstelle.
Gut war auch, dass das Zimmer in der Abteilung für Infektionskrankheiten lag, nicht in der Kardiologie oder der Intensivstation oder sonst einer Abteilung, an die man zuerst denken würde. Laut Krankenhausakte litt „Adrian Fisher“ an einer seltenen tropischen Krankheit und hatte genug Geld, um sich private Pflege in seiner Quarantäne zu leisten. Im Moment war Cullen am besten geschützt, wenn er schwer zu finden war.
Doch Lily wusste, dass das keine Lösung auf Dauer war. Heute Nacht würde der Trick wirken und morgen vermutlich auch noch. Bis dahin müsste sie sich jedoch etwas anderes ausgedacht haben, wie sie Cullen gegen jemanden schützen konnte, der wie jeder x-Beliebige aussehen konnte.
Oder wie niemand. Denn das hatte ja einer der Zeugen ausgesagt. Es sei niemand gewesen.
Lily klopfte an die Tür mit der Nummer 418 und klinkte sie dann auf. Zufrieden stellte sie fest, dass Jason sprungbereit vor ihr stand – und Cynna neben Cullens Bett, in der einen Hand die Waffe, die andere ihr entgegengestreckt.
„Okay“, sagte Cynna nach einer Sekunde. „Du bist es wirklich.“ Sie legte die Waffe auf das Tischchen neben dem Bett. „Ich weiß jetzt, wie ich Personen überprüfen kann“, fügte sie hinzu. „Wenn es jemand anders ist als ihr beiden, dann suche ich nach Magie. Das ist schnell und einfach, und wer immer sich hinter anderen Gesichtern versteckt, benutzt Magie dazu. Die wird er nicht verstecken können.“
„Das ist gut.“ Lilys Augenbrauen schossen in die Höhe. „Sehr gut. Daran hätte ich denken sollen.“
„Du hattest genug zu tun. Während des Wartens hatte ich reichlich Zeit, nachzudenken. Ich werde auch die Tür mit einem Schutzbann versehen – einem visuellen. Falls ich mal einnicke, kann dann auch Jason sehen, wenn jemand mit Magie versucht, ins Zimmer zu kommen, und ihn aufhalten.“
„Kannst du den Bann aufrechterhalten, wenn du nicht hier bist? Ich werde dich ja mal ablösen und –“
„Nein, du gehst nach Hause und schläfst ein bisschen, wenn du mit Cullen gesprochen hast. Heute Nacht gehe ich nirgendwo hin, und wir brauchen nicht beide Wache zu stehen. Und du bist die Ermittlerin. Ich will, dass du ausgeruht und konzentriert bist, damit du den Lumpen fangen kannst.“
Lily wollte erst widersprechen, doch dann nickte sie. Heute Nacht war Cullen vermutlich ohnehin noch sicher. „Okay, ich werde dich dann morgen früh ablösen, zumindest bis wir herausgefunden haben, wie wir Cullen richtig schützen können.“
„Ich hätte da einen Vorschlag“, sagte Rule und schob sich an Lily vorbei, um Cynna zu umarmen.
Für ihn war so etwas ganz selbstverständlich, ganz natürlich. Lily wünschte, sie hätte daran gedacht, Cynna in den Arm zu nehmen. „Dann lass mal hören.“
„Max.“
Erleichterung erfasste sie. „Natürlich. Er behauptet, er sei immun gegen Mentalmagie, also … Rufst du ihn an?“ Max war griesgrämig, lüstern und potthässlich, Letzteres möglicherweise, weil seine Vorstellung von Schönheit so ganz anders war als die ihren, denn er war ein Gnom. Ein ungewöhnlich großer Gnom zwar, der aus unerfindlichen Gründen nicht wie seine Artgenossen unter der Erde lebte – Gnome, sagte man, konnten besonders gut mit Stein umgehen –, aber trotzdem ein Gnom.
„Er kommt. Er wird endlos darüber schimpfen, aber er kommt.“ Rule lächelte Cynna an, den Arm um ihre ehemalige Taille gelegt. „Geht es dir gut?“
„Klar.“ Sie warf einen Blick auf das Bett und den darin schlafenden Mann. „Dornröschen sieht im Moment nicht ganz so rosig aus, aber Nettie sagt, er hält sich gut.“
Nettie saß auf der anderen Seite des Krankenhausbettes. Sie hatte nur kurz aufgeblickt, als sie hereingekommen waren. „Er wird in weniger als zehn Minuten aufwachen. Dann kannst du kurz mit ihm sprechen, anschließend versetze ich ihn wieder in seinen Heilschlaf.“
Lily nickte und begab sich an den Fuß des Bettes.
Cullen war an eine Infusion und an ein leise piependes Herzfrequenzmessgerät angeschlossen. Er schlief tief oder war bewusstlos. Und er war viel zu blass.
Cullen Seabourne war das genaue Gegenteil von Max – so atemberaubend schön, wie der Gnom hässlich war. Rule war Lilys Meinung nach sexier und hatte mehr Präsenz. Aber Cullen besaß die Art von Schönheit, nach der sich Fremde auf der Straße umdrehten. Im Moment allerdings traten die Linien der Knochenstruktur seines Gesichts beunruhigend markant hervor. Die bleiche Haut war gespannt, und er war nackt, zumindest bis zur Hüfte. Ab da war eine leichte Decke über ihn gebreitet.
Seine Brust war leuchtend hässlich orange-gelb von Betadine, dem Desinfektionsmittel, gefärbt. Der lange, geklammerte Schnitt links von seinem Brustbein war nicht verpflastert. Er sah frisch aus. Sie blickte Nettie an. „Er hat den Schnitt nicht geheilt.“
„Der Erreger konzentriert sich auf die Herzgegend, und in gewisser Hinsicht wirkt er wie Wolfswurz. Er behindert seine Selbstheilungskräfte. Wenn ich mich ausgeruht habe, kann ich ihm dabei helfen.“ Netties Stimme war leiser und rauer als sonst. Sie brauchte den Schlaf fast ebenso dringend wie ihr Patient.
Lily nickte und traf eine Entscheidung. „Cynna, eigentlich sollte ich mit der Rhej darüber sprechen, aber da du nun schon mal da bist … Rule und ich haben uns gefragt, ob die, deren Namen wir nicht nennen, damit zu tun haben könnte.“ Die Große Alte, die Erzfeindin der Lupi, hatte einen Namen, möglicherweise auch viele … aber die Lupi glaubten, dass sie es hören könnte, wenn ihr Name ausgesprochen wurde.
„Oh. Oh!“ Cynna runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf. „Ich verstehe, wie ihr darauf kommt. Der Täter muss ein paar unschöne Tricks draufhaben. Aber wer immer er ist, er handelt nicht in ihrem Auftrag. Es wäre möglich, dass sie ihm geholfen hat. Wir wissen nicht, was ihr hier bei uns möglich ist, aber wir dürfen davon ausgehen, dass sie ihre Vertreter für diese Welt hat. Aber der Scheißkerl ist keiner von ihnen. Ihr Vertreter hätte unmöglich auf das Clangut gelangen können, ohne bemerkt worden zu sein. Die Rhej hätte es gemerkt.“ Sie überlegte einen Moment und fügte dann hinzu: „Und der Rho hätte es ebenfalls gespürt, obwohl er es vielleicht nicht hätte einordnen können.“
Rule hob erstaunt die Brauen. „Das wusste ich nicht.“
„Aber ja“, sagte Cynna. „Das Clangut ist das Revier des Trägers der Clanmacht. Die Macht wurde ihm von der DAME gegeben, und die DAME erkennt ihre Feinde. Deshalb würde die Macht es bemerken, wenn sich einer ihrer Vertreter auf dem Clangut aufhielte. Ich weiß nicht, wie sich das für Isen bemerkbar machen würde, aber irgendetwas würde er spüren. Du vielleicht auch.“
Jetzt hoben sich Lilys Brauen. „Du weißt aber auf einmal ganz schön gut Bescheid über die Mächte.“
Sie zuckte die Achseln. „Das gehört zu den Erinnerungen.“
Die Erinnerungen waren genau das, was das Wort bedeutete: unglaublich lebendige Erinnerungen verschiedener längst toter Nokolai, die über Tausende von Jahren von einer Rhej an ihre Schülerin weitergegeben wurden. Da viele dieser Erinnerungen von Krieg und Tod handelten, waren sie mit Schmerz und Angst verbunden. Mit anderen Worten, mit vielen Anstrengungen für eine Schwangere. „Ich verstehe nicht, warum die Rhej sich umentschieden hat. Sie wollte doch mit diesem Teil der Ausbildung bis nach deiner Niederkunft warten.“
„Sie hatte einen guten Grund.“
„Du klingst schon genau wie die Rhej. Kryptisch.“
Cynna antwortete mit einem vagen, entschuldigenden Lächeln und einer ebenso vagen Geste. „Ich darf nicht darüber reden.“
Na toll. Widerstrebend wandte sich Lily wieder dem eigentlichen Thema zu. „Wenn du sagst ‚Vertreter‘, meinst du etwas Spezielles, aber ich frage mich, was genau.“
„Jemand, der von der Feindin berührt wurde. Jemand, der einen Gegenstand oder einen Zauber benutzt, der von ihr berührt oder hergestellt wurde. Äh … mit ‚Berührung‘ meine ich keine körperliche Berührung, sondern einen Kontakt oder eine Einwirkung.“
„Also wenn sie beteiligt ist, dann indirekt.“
„Sehr indirekt. Jemand wie die Große Alte hinterlässt Spuren. Zum Beispiel der Inkognito-Zauber, den der Killer anscheinend benutzt hat – der kann nicht von ihr stammen. Selbst wenn er durch andere Hände gegangen ist, bevor der Täter ihn bekam, würde ihm immer noch ein wenig von ihrer Energie anhaften. Die Rhej und der Rho hätten auf dieses wenige reagiert, weil die DAME sie spüren würde.“
Lily sah sie aufmerksam an. Das hörte sich ja so an, als pflege Cynna sehr vertrauten Umgang mit der DAME der Lupi. „Bist du –“
„Er wacht auf“, unterbrach sie Nettie. „Rule –?“
Schnell stellte sich Rule neben Nettie und legte die Hand auf Cullens Schulter. Nichts geschah. Cullen sah aus, als würde er genauso tief schlafen wie zuvor – bis auf einmal seine Augen aufflogen, hell und strahlend blau.
„Ganz ruhig“, sagte Rule mit fester Stimme. „Du bist in Sicherheit. Cynna auch. Ihr geht es gut. Dem Baby geht es gut. Du wurdest verletzt.“
Cullen blinzelte. „Sag bloß“, sagte er schwach. „Cynna …“
Sie hatte Cullens rechte Hand ergriffen. „Ich bin hier, und es könnte mir gar nicht besser gehen“, sagte sie fröhlich. Lily sah die Abgespanntheit in ihren Augen, die ihrer Stimme jedoch nicht anzumerken war. „Und der kleine Reiter scheint gern lange wach zu bleiben. Er strampelt wie wild.“
Cullen lächelte nur schwach, aber man sah ihm an, dass seine Erleichterung groß war.
„Cullen“, sagte Nettie. „Ich weiß, du hast starke Schmerzen, aber ich muss wissen, ob sich deine Wunde irgendwie seltsam anfühlt.“
Selbst das Stirnrunzeln schien ihm Mühe zu bereiten. „Fühlt sich an, als hätte mir jemand ein Messer in die Rippen gerammt, auf mir herumgetrampelt und mich aufgeschnitten.“
„Genau das ist auch passiert“, sagte Rule. „Bis auf das Herumtrampeln.“ Er schluckte. „Cullen. Ich bin froh, dass du nicht tot bist.“
Das Stirnrunzeln wurde nachdenklich. „War es so knapp?“
„Ja. Auf der Klinge befand sich irgendeine magische Komponente. Daran wärst du gestorben, wenn Nettie nicht in der Nähe gewesen wäre und die Rhej nicht Energie an Nettie weitergegeben hätte. Diese fremde Magie behindert immer noch deine Heilung. Deswegen hat Nettie dich gefragt, wie sich deine Wunde anfühlt.“
„Scheiße.“ Er hob leicht den Kopf. „Au. Scheiße.“ Er sank zurück. „Ich kann nichts sehen.“
Lily wusste, warum er sich die Wunde ansehen wollte. Sie fühlte Magie. Er sah sie. Das war es, behauptete er stets, was einen Zauberer ausmachte: die Fähigkeit, die Energien, mit denen er arbeitete, zu sehen. „Fühlst du dich stark genug, um ein paar Fragen zu beantworten?“
„Meine Güte, du bist auch hier?“
Sie musste lächeln. Typisch Cullen. „Hast du eine Ahnung, wer dich angegriffen hat und warum?“
„Nein. Cynna, heb meinen Kopf an. Ich kann meine Brust nicht sehen.“
Nettie schüttelte den Kopf. „Cullen, dein Brustkorb wurde geöffnet und dein Herz zusammengenäht. Und du heilst nicht so schnell wie normal. Du bleibst schön auf dem Rücken liegen und rührst dich nicht. In ein paar Minuten versetze ich dich wieder in Schlaf.“
„Ich muss es sehen“, sagte er hartnäckig. „Um herauszufinden, was nicht stimmt.“
„Mal sehen, was ich erspüre.“ Lily warf Nettie einen Blick zu. „Wenn ich darf.“
Sie nickte. „Aber wir bewegen ihn nicht einen Millimeter mehr, als wir müssen. Das heißt, er wird nicht gedreht, um die Eintrittwunde zu untersuchen. Und wasch dir erst die Hände. Wir wissen nicht, womit wir es zu tun haben, und ich will kein Risiko eingehen.“
Lily hob die Brauen. Normalerweise bekamen Lupi keine Infektionen, aber da offenbar Cullens Selbstheilungskräfte geschwächt waren … war wohl besondere Vorsicht geboten. Sie ging zu dem kleinen Waschbecken in der Ecke und spritzte sich Seife auf die Hände. „Cullen, wer war in deiner Nähe, als es passierte?“
„Cynna. Mike. Ich sprach gerade mit ihm. Äh … Sandra, glaube ich. Jesses, das tut höllisch weh.“
Netties Stimme war jetzt sanft. „Ich kann dich wieder einschlafen lassen.“
„Nein.“ Er schwieg einen Augenblick. „Hinter mir … Ich hörte Phil hinter mir. Äh …“ Seine Stimme wurde so leise, dass Lily den Rest nicht hörte, weil der Wasserhahn lief. Sie blickte Rule fragend an.
„Er sagte, dass deine Schwester in der Nähe war und Jason und Teresa. Ich glaube, er meint Teresa Blankenship.“
„Okay. Die hatte ich nicht auf meiner Zeugenliste, das ist doch schon mal was.“ Lily spülte sich die Seife von den Händen und schloss den Hahn mit dem Ellbogen. Jason reichte ihr ein Handtuch. Sie trocknete sich die Hände ab und stellte sich neben Cynna. „Was ist mit Rule? War der in der Nähe?“
„Nein.“
„Hast du jemanden gesehen, der da nicht hingehörte, oder etwas Ungewöhnliches gerochen?“
„Nein“, nuschelte er.
„Einen Asiaten vielleicht? Einer, der nicht aussah wie mein Schwager.“
„Ich kenne deinen verdammten Schwager gar nicht. Ich kann mich nicht …“ Stirnrunzelnd schloss er die Augen. „An so jemanden kann ich mich nicht erinnern.“
„Das ist in Ordnung. Hast du irgendetwas Komisches mit deinem anderen Blick gesehen?“
„Nichts Komisches. Nur ein paar Sorcéri.“
„Gut. Ich werde erst deine Schulter berühren, dann den Schnitt. Nur leicht. Ich bemühe mich, dir nicht wehzutun.“
Er grunzte.
Sie interpretierte das als Einverständnis und legte ihm leicht die Hand auf die Schulter. Die Haut war warm, aber das bemerkte sie kaum.
Cullens Magie fühlte sich einzigartig an. Da war das, was sie scherzhaft Fell-und-Fichte-Magie nannte – die Lupus-Magie, die sich anfühlte wie Fell und sie dabei stets auch an immergrüne Pflanzen erinnerte. Darunter mischte sich das Kitzeln von Hitze, wie tanzende Flammen. Das Kitzeln, das war seine Feuergabe. Im Tanz der Flammen jedoch spürte sie seine Zauberkraft. Als Bewegung.
Sie strich sanft mit der Hand hinunter zu seiner Brust.
Dort. Seltsam. Sie fühlte eine kleine Beule oder eine längliche Erhöhung. Auf der einen Seite fühlte sich alles normal an – Fell und kitzelnde Hitze. Auf der anderen spürte sie warme Haut und darüber eine hauchdünne Schicht von Magie … und etwas anderes. Etwas Glattes.
Probeweise näherte sie sich dem Schnitt von einer anderen Seite. Und noch einer anderen. Bald hatte sie herausgefunden, wo … dieses Etwas anfing und wo es aufhörte. Und was immer es war, es war bemerkenswert einheitlich.
Lily richtete sich auf. „Da ist eine Stelle mit dreizehn Zentimeter Durchmesser, wo deine Magie dünner ist, als wenn sie nur äußerlich wäre. Ich kann die … sagen wir mal Abgrenzung spüren. Sie fühlt sich glatt an, einheitlich. Geformt. Ich kann nicht feststellen, welche Art von Magie es ist, nicht mit deiner Haut dazwischen.“
„Ich will es sehen“, sagte Cullen jetzt mit kräftigerer Stimme, aber ohne die Augen zu öffnen.
„Wir sollten ihn gewähren lassen“, sagte Cynna. „Er muss es wissen. Es könnte ihm helfen.“
Nettie zörgerte. „Na gut. Du kannst seinen Kopf halten.“
Cynna schob die Hand unter seinen Kopf und hob ihn an. Er hielt die Augen geschlossen. Lily wusste, dass er sie nicht brauchte, nicht, wenn er seinen anderen Blick nutzte. So hatte er auch „gesehen“, als man ihm die Augen ausgehöhlt hatte.
Aber es sah trotzdem merkwürdig aus, wie er jetzt mit geschlossenen Augen seine Brust untersuchte. Endlich sagte er: „Scheiße.“ Er holte vorsichtig Luft und zuckte zusammen. „Nettie …“
„Ich bin hier.“ Sie ergriff seine Hand. „Du schläfst jetzt lieber wieder.“
„Ich glaube auch. Lily.“
„Ja?“
„Du hast recht. Es ist geformte Magie. Jemand hat zusammen mit dem Messer einen gottverdammten Zauber in mein Herz gesteckt.“ Langsam atmete er ein. „Eines kann ich dir sagen: Es ist Blutmagie. Und der Scheißkerl lässt mich mein eigenes Blut benutzen, um sie mit Energie zu versorgen.“