Einundsiebzig

Murray

»Noch eines, bitte.«

Es war eine Pose allein für die Kamera, Seite an Seite und die Hände schüttelnd, mit Murrays gerahmter Belobigung zwischen ihnen.

»Erledigt.«

Der Fotograf war fertig, und der weibliche Chief Constable von Sussex schüttelte Murray noch einmal die Hand, diesmal mit einem echten Lächeln voller Wärme. »Wird heute Abend gefeiert?«

»Nur mit einige Freunden, Ma’am.«

»Sie verdienen es. Gute Arbeit, Murray.«

Die Polizeichefin trat zur Seite und gönnte Murray einen Moment im Scheinwerferlicht. Es gab keine Reden, aber Murray straffte die Schultern und hielt seine Belobigung vor sich, und als sie zu klatschen begann, applaudierte der ganze Raum. Einige Tische weiter hinten reckte Nisha beide Daumen in die Höhe, bevor sie weiter energisch klatschte. Von der Tür aus jubelte jemand. Sogar der sauertöpfische John vom Wachtresen in Lower Meads applaudierte.

Für einen kurzen Moment stellte Murray sich Sarah im Publikum vor. Sie würde eines ihrer leuchtenden, voluminösen Leinenkleider tragen, dazu einen Schal, der um ihren Kopf geschlungen und um ihren Hals drapiert war. Sie würde von einem Ohr zum anderen grinsen und heftig blinzeln, bis keine Gefahr mehr bestand, dass ihre Augen überliefen. Er hatte sich Sarah an einem guten Tag vorgestellt, dachte er. Es wäre sehr gut möglich gewesen, dass sie sich gar nicht im Raum befunden hätte; dass sie in Highfield gewesen wäre oder zu Hause unter der Bettdecke, außerstande, Murray zu begleiten. Zu seinem letzten Arbeitstermin.

C6821 Murray Mackenzie wird ausgezeichnet für seine Hingabe, seine Beharrlichkeit und sein Können als Ermittler, die zur Aufklärung des Mordes an Tom Johnson wie auch zur Identifikation beider Verdächtiger führten. Sein Beitrag ist ein außergewöhnliches Beispiel für die Werte der Polizei.

Die Identifikation beider Verdächtiger. Es war vorsichtig formuliert. Murray verspürte einen Anflug von Bedauern, dass sie Caroline Johnson nicht vor Gericht bringen konnten. Sie war von Mark Hemmings’ Balkon im siebten Stock gesprungen und in einer Menge von Schaulustigen gelandet, die der Anblick ihres Körpers, wie er auf der Straße aufschlug, für immer verfolgen würde. Und sie hatte alle Geheimnisse mit ins Grab genommen, die sie ihrer Tochter bis dahin nicht verraten hatte.

Laura Barnes wartete in Untersuchungshaft auf ihren Prozess. Bei der Befragung hatte sie standhaft geschwiegen, doch bei ihrer Verhaftung hatten die Bodycams der Officers eine Reihe von kompromittierenden Aussagen aufgezeichnet. Diese Aufzeichnungen, zusammen mit dem Fall, den DS James Kennedy und sein Team gegen sie hatten, ließen Murray fest an einen Schuldspruch glauben. Laura hatte ihre Spuren gut verwischt, dennoch wiesen die Verkehrskameras ihren Wagen in Brighton zur Zeit des Handykaufs bei Fones4All nach. Ein Stimmenspezialist hatte bestätigt, dass die Aufzeichnung des Notrufs von »Diane Brent-Taylor« zu Lauras Stimme passte, und würde das als Zeuge vor Gericht wiederholen.

Nicht dass Murray dann da wäre.

Der Applaus verebbte. Murray nickte dem Publikum dankbar zu, ehe er von der kleinen Bühne stieg. Als er zurück zu seinem Platz ging, um die Abschlussansprache der Chief Constable anzuhören, sah er Sean Dowling mit ihrem alten DS zusammensitzen, der inzwischen Seans Kollege in der IT-Abteilung war. Geschlossen standen die beiden Männer auf und begannen, Beifall zu klatschen, diesmal langsam. Der Rest an ihrem Tisch stimmte ein. Und während Murray durch die Mitte des Raumes ging, schabten überall Stuhlbeine über den Boden, als die Freunde und Kollegen, mit denen er über die Jahre zusammengearbeitet hatte, ihn mit stehenden Ovationen ehrten. Das Klatschen wurde schneller, schneller als seine Schritte, aber nicht so schnell wie sein Herz, das überging vor Dankbarkeit.

Seine Polizeifamilie.

Bis Murray seinen Platz erreichte, war er sehr rot. Es erklang ein letztes Hurra, dann noch mehr Stühlerücken, als die Polizeichefin die Abschlussrede hielt. Es war gut, dass alle nach vorn sahen, nicht zu ihm, und Murray nutzte die Gelegenheit, um nochmals seine Belobigung zu lesen. Es war die dritte in seiner Polizeilaufbahn, doch die erste als ziviler Mitarbeiter. Die erste und letzte.

»Gut gemacht.«

»Nicht schlecht.«

»Trinken wir mal ein Bier?«

Nachdem der formelle Teil des Abends vorbei war, strebten Murrays frühere Kollegen zum Büffet hinten im Raum und klopften ihm im Vorbeigehen auf die Schulter. Es kam selten vor, dass bei einer internen Veranstaltung Essen gereicht wurde, und es lag in der Natur der Polizisten, diesen Umstand weidlich auszukosten. Nisha drängte sich zu Murray durch, umarmte ihn und flüsterte leise, so dass nur er es hören konnte: »Sie wäre so stolz auf dich.«

Murray nickte, wagte jedoch nicht zu sprechen. Auch Nishas Augen glänzten.

»Wenn ich mal kurz stören darf …« Leo Griffiths in Uniform und mit einer Cola light in der Hand. Ein Krümel auf seiner Krawatte legte nahe, dass er als Erster am Büffet gewesen war.

Murray schüttelte brav die Hand, die Leo ihm reichte.

»Glückwunsch.«

»Danke.«

»Eine recht eindrucksvolle Veranstaltung.« Leo blickte sich um. »Auf der letzten Belobigungsfeier gab es lauwarmen Orangensaft und genau einen Keks pro Person.«

»Es ist eine Kombination aus Belobigung und Verabschiedung. Also effizient und wirtschaftlich«, ergänzte Murray ernst. Bewusst verwandte er eines der Lieblingswörter des Superintendents. Nisha unterdrückte ein Kichern.

»Richtig. Übrigens wollte ich deshalb mit Ihnen reden.«

»Über Effizienz?«

»Ruhestand. Ich hatte mich gefragt, ob Sie die Ausschreibung für zivile Ermittler im Cold-Case-Team gesehen haben.«

Hatte Murray. Tatsächlich hatten ihn sage und schreibe sieben Leute darauf hingewiesen, einschließlich der Chief Constable.

»Ist doch genau Ihr Ding, dachte ich«, hatte sie gesagt. »Eine Chance, Ihr Ermittlertalent sinnvoll zu nutzen und einige der weniger erfahrenen Teammitglieder weiterzubilden. Diesmal offiziell«, hatte sie mit einem strengen Blick hinzugefügt. Der positive Ausgang des Johnson-Falls bedeutete, dass man über Murrays Verstöße gegen das Protokoll hinwegsah. Trotzdem ließ man ihn deutlich wissen, dass es – sollte er weiter angestellt bleiben wollen – niemals wieder vorkommen dürfte.

Murray wollte nicht weiter angestellt bleiben. Er wollte überhaupt nicht mehr bei der Polizei bleiben.

»Danke, Leo, aber ich habe meinen Abschied eingereicht. Ich will meinen Ruhestand genießen, ein bisschen reisen.« Murray dachte an das blitzblanke neue Wohnmobil, auf das er eine Anzahlung geleistet hatte und das er nächste Woche abholen würde. Es hatte einen großen Brocken seiner Pension verschlungen, war aber jeden Penny wert. Drinnen gab es eine Küche, ein winziges Bad, ein Doppelbett und einen gemütlichen Wohnbereich mit klappbarem Tisch sowie ein riesiges Lenkrad, an dem Murray sich fühlte, als würde er einen Lkw fahren.

Er konnte es kaum erwarten. Seine Polizeifamilie war gut zu ihm gewesen, doch es wurde Zeit, sich abzunabeln.

»Verständlich, aber Sie können uns nicht verdenken, dass wir es versuchen, oder? Wohin soll es denn gehen?«

In den Wochen, seit Murray seine Ruhestandspläne bekannt gegeben hatte, war ihm diese Frage wieder und wieder gestellt worden. Murrays Antwort lautete immer gleich. Jahrelang hatte er sein Leben nach dem Takt von anderen gerichtet. Sarahs Aufenthalten in Highfield. Ihren guten Tagen; ihren schlechten. Frühschichten, langen Abenden, Überstunden, Wochenenddiensten. Besprechungen hier, Besprechungen da. In Murrays Ruhestandsplänen gab es keine Uhren, keine Kalender, keine Pläne.

»Dahin, wonach mir ist.«