Achtzehn

Murray

»Ich habe den Kalender meiner Mutter vom letzten Jahr gefunden.« Anna reichte ihm das dicke A4-Buch. »Ich dachte, der hilft vielleicht, ihre Bewegungen nachzuvollziehen.« Sie saßen wieder in derselben Kitchenette-Ecke hinterm Empfangstresen der Lower-Meads-Wache wie bei ihrer ersten Unterredung. Annas Lebensgefährte Mark war bei ihr, und gemeinsam berichteten sie von einem der seltsamsten Vorkommnisse, von dem Murray während seiner Laufbahn jemals gehört hatte.

Mark Hemmings hatte dichtes dunkles Haar und eine Brille, die er gegenwärtig hoch in seine Stirn geschoben hatte. Er saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl, den Knöchel eines Beins auf dem Knie des anderen. Sein rechter Arm lag auf der Rückenlehne von Annas Stuhl.

Anna Johnson nahm nicht mal halb so viel Raum ein wie ihr Partner. Sie hockte vorn auf der Stuhlkante, vorgeneigt, die Beine überkreuzt und die Hände gefaltet, als wäre sie in der Kirche.

Mehrere Broschüren und Visitenkarten lagen lose in dem Kalender, und als Murray ihn aufschlug, fiel eine Fotografie heraus.

Anna griff danach. »Verzeihung, das hatte ich da hineingelegt, damit es nicht zerknickt. Ich wollte es rahmen lassen.«

»Ihre Mutter?«

»Ja, in dem gelben Kleid. Und das ist ihre Freundin Alicia.

Sie starb mit dreiunddreißig an einem Asthma-Anfall. Ihre Tochter Laura ist das Patenkind meiner Mutter.«

Murray erinnerte sich an den Notizbucheintrag des Officers. Laura Barnes. Patenkind. Die Frauen – eher noch junge Mädchen – auf dem Foto standen lachend vor einem Pub, die Arme so eng verschränkt, dass sie wie zusammengewachsen wirkten. Im Hintergrund war ein Tisch voller junger Männer zu erkennen, von denen einer bewundernd hinüber zu Alicia und Caroline blickte. Auf dem Hängeschild am Gebäude hinter ihnen konnte Murray einen Pferdewagen ausmachen.

»Komischer Ort für einen Urlaub – so weit weg vom Meer, wie man nur sein kann –, aber meine Mutter sagte, sie hätten eine wunderbare Zeit gehabt.«

»Ein hübsches Foto. Haben Sie Annas Eltern nie kennengelernt, Mr Hemmings?«

»Leider nicht. Sie waren beide schon tot, bevor wir uns begegnet sind. Genau genommen sind wir uns deshalb überhaupt erst begegnet.« Instinktiv sahen sowohl Mark als auch Anna zu ihrer Tochter, die es, wie Murray vermutete, ohne die Familientragödie nicht geben würde.

»Ich werde mit einem Kriminaltechniker über das Kaninchen reden, aber ohne es untersuchen zu können …«

»Tut mir leid. Wir hatten nicht nachgedacht.« Anna warf ihrem Lebensgefährten einen Blick zu.

»Nächstes Mal lasse ich es einfach da, ja?«, fragte Mark. Er sprach sanft, dennoch schwang ein Unterton mit, der Murray sagte, dass sie diese Unterhaltung nicht zum ersten Mal führten. »Damit sich die Fliegen richtig schön daran austoben können?«

»Es ist nicht mehr zu ändern. Ich habe die Karte an die Forensik weitergeleitet. Sie werden sie auf Fingerabdrücke und DNS überprüfen und versuchen, den Poststempel zu entziffern, damit wir erfahren, woher sie kam. Und ich sehe mir diesen Kalender an. Danke.« Murray gab Anna das Foto zurück, doch sie steckte es nicht ein. Stattdessen hielt sie es mit beiden Händen und starrte es an, als könne sie es so zum Leben erwecken.

»Ich sehe sie dauernd.« Sie blickte auf. Mark verlagerte seinen Arm von der Stuhllehne zu ihren Schultern. Er presste die Lippen fest zusammen, während Anna es zu erklären versuchte.

»Zumindest … ich sehe sie nicht direkt. Aber ich fühle sie. Ich denke … ich denke, sie könnte versuchen, mir etwas mitzuteilen. Klingt das verrückt?«

Mark sprach leise, die Worte ebenso an Murray wie an Anna gerichtet. »Es kommt sehr oft vor, dass Trauernde sich vorstellen, ihre Lieben zu sehen. Eine emotional bedingte Manifestation; man möchte sie so dringend sehen, dass man glaubt …«

»Was ist, wenn ich es mir nicht einbilde?«

Es entstand eine betretene Pause. Murray kam sich wie ein Störenfried vor und fragte sich, ob er sich einen Grund ausdenken sollte, das Paar allein zu lassen. Doch ehe er sich rühren konnte, wandte Anna sich zu ihm.

»Was denken Sie? Glauben Sie an Geister? An ein Leben nach dem Tod?«

Polizisten waren von Natur aus ein zynischer Menschenschlag. Während seiner gesamten Dienstzeit hatte Murray seine Ansichten über Geister für sich behalten, um den Spott zu meiden, den sie unweigerlich provoziert hätten. Nicht einmal jetzt äußerte er sich offen. Ob man an Übernatürliches glaubte oder nicht, war Privatsache – wie Religion oder Politik – und nichts, worüber man im Nebenraum einer Polizeiwache diskutierte.

»Ich bin offen dafür.« Es gab mehr Dinge im Himmel und auf Erden, hatte Shakespeare geschrieben, als wir uns das vorstellen können. Was Murrays Job kein bisschen einfacher machte. Er konnte nicht mit einem Bericht zum CID gehen, dass Anna Johnson von einer ermordeten Verwandten verfolgt wurde. Er beugte sich vor. »Haben Sie eine Ahnung, was sie versuchen könnte, Ihnen zu sagen?« Murray achtete nicht auf die beinahe greifbare Ablehnung, die von Mark Hemmings ausging.

»Nein, leider nicht. Es ist bloß ein … Gefühl.«

Es bräuchte mehr als ein Gefühl, um das CID zu überzeugen, dass Tom und Caroline Johnson ermordet worden waren.

Nisha Kaur war schon Tatortermittlerin gewesen, als sie noch Spurensicherer hießen.

»Derselbe Mist, ein anderer Titel«, hatte sie munter gesagt.

»Warten wir noch mal zehn Jahre, dann wird sich irgendein Genie oben ausdenken, uns alle wieder Spurensicherer zu nennen.«

Nicht, dass Nisha dann noch da wäre. Sie hatte ihre Stelle angetreten, als Murray ein junger Detective war, kam mit einem Hochschulabschluss in Fotografie, einem starken Magen und der beneidenswerten Fähigkeit zur Polizei, sich mit jedem zu verstehen. Dreißig Jahre später leitete sie die Kriminaltechnik, war für das ganze Forensik-Team verantwortlich und zählte die Tage bis zu ihrer Pensionierung.

»Haustier-Porträtfotografie«, sagte sie, als Murray sie nach ihren Plänen für die Zukunft fragte. Sie lachte über seine verblüffte Miene. »Die Arbeitskleidung ist besser, es gibt weniger Blut, und hast du schon mal versucht, in Anwesenheit eines Katzenbabys deprimiert zu sein? Ich kann mir meine Aufträge aussuchen – keine muffige Kundschaft mehr – und meine Arbeitszeiten selbst bestimmen. Alles im sehr kleinen Rahmen, also eher wie ein Hobby als ein Job.« Sie saßen in der geschlossenen Kantine, in der ein Triptychon von Snackautomaten den Beamten durchs Wochenende helfen sollte.

»Klingt nach einem guten Plan.« Insgeheim bezweifelte Murray, dass Nisha irgendetwas im kleinen Rahmen tun konnte. Er vermutete, dass es keine anderthalb Jahre dauern würde, bis sie wieder 50-Stunden-Wochen schob. »Was machst du über Weihnachten?«

»Bereitschaft. Und du?«

»Nichts Besonders. Alles ganz ruhig, du weißt schon.«

»Ist Sarah …?« Nisha legte nicht wie alle anderen fragend den Kopf zur Seite.

»In Highfield. Freiwillig diesmal. Ihr geht es gut.« Sogar in Murrays Ohren hörte sich das wenig glaubwürdig an. Man sollte meinen, dass Sarahs Einweisungen mit der Zeit leichter würden, aber die letzten Male hatten ihn schlimmer ausgelaugt denn je. Er wurde älter, vermutete er, und konnte schlechter mit Stress umgehen.

»Weshalb wolltest du mich sehen?« Nisha, aufmerksam wie eh und je, wechselte das Thema.

»Wie viel Blut ist normalerweise in einem Kaninchen?« Nishas Job war so vielseitig und sie so erfahren, dass die Frage keinerlei Verwunderung oder gar Stutzen auslöste.

»Ein paar hundert Milliliter, wenn überhaupt. Ein kleines Glas voll«, ergänzte sie, als sie Murrays verständnislosen Ausdruck bemerkte.

»Genug, um es über drei Treppenstufen zu verteilen?« Nisha kratzte sich am Kinn. »Da müsstest du schon ein bisschen weiter ausholen.«

Murray erwähnte die Selbstmorde zunächst nicht. Er erzählte, was Anna und Mark ihm berichtet hatten und dass Anna überzeugt war, das Kaninchen wäre nicht von einem Tier dort abgelegt worden.

»Hört sich an, als könnte sie recht haben.«

Interessiert lehnte Murray sich vor, und Nisha hielt warnend einen Finger in die Höhe. »Das ist jetzt total inoffiziell und rein hypothetisch, verstanden? Ohne Fotos und ohne den Fundort gesehen zu haben, kann ich unmöglich ein professionelles Urteil abgeben.«

»Aber?«

Nisha lachte. »Blut – die Menge, über die wir reden – strömt nicht aus einem liegenden Kaninchen heraus. Es sickert, und es gerinnt. Also, auch wenn hundertfünfzig Milliliter auf dem Boden eine Riesenschweinerei machen – hast du mal ein Weinglas fallen gelassen? –, würde dieselbe Menge, die aus einem Kaninchen sickert, schon gerinnen, bevor sie auf die Stufe darunter tropfen kann. Das meiste würde sich im Fell verfangen.«

»Gut. Also hat jemand bewusst das Blut auf den anderen Stufen aufgetragen, um einen eindrucksvolleren Tatort zu schaffen?«

»Gut möglich. Die Frage ist allerdings, warum?« Nisha sah Murray fragend an, und nun neigte sie den Kopf leicht zur Seite.

»Da steckt noch mehr dahinter, oder?« Es klang wie eine Feststellung.

»Im letzten Jahr gab es zwei Selbstmorde, am Beachy Head. Tom und Caroline Johnson – ihnen gehörte das Autohaus an der Ecke Main Street.«

Nisha schnippte mit den Fingern. »Ein neuer schwarzer Audi war auf dem Parkplatz abgestellt, richtig? Und der Rucksack mit Steinen beschwert.«

»Du bist gut. Das war Tom Johnson. Seine Frau Caroline starb sieben Monate später – vor genau einem Jahr. Derselbe Ort, dieselbe Vorgehensweise. Anna Johnson ist ihre Tochter.« Er schob Nisha eine durchsichtige Beweismitteltüte hin, in der sich die anonyme Glückwunschkarte befand, zusammen mit einem Foto der zusammengefügten Kartenschnipsel.

»Selbstmord?«, las Nisha laut. »Von wegen.« Sie blickte auf.

»Sehr dramatisch. Soll das heißen, dass sie ermordet wurde?«

»Auf jeden Fall interpretiert Anna Johnson es so. Heute Morgen öffnete sie die Haustür und fand das Kaninchen mit dem verschmierten Blut draußen.«

»Das sticht Hundescheiße im Briefschlitz allemal aus.«

»Was meinst du?«

»Außer dass sich da jemand um eine leckere Kaninchenpastete gebracht hat? Ich denke, da ist etwas faul. Was sagt das CID?«

»Nicht viel.«

Nisha kannte Murray schon sehr lange. »Oh, Murray …«

»Ich mache nur Hintergrundarbeit, sonst nichts. Du weißt doch, wie es im CID heutzutage zugeht. Die sind komplett überlastet. Ich werde alles schön sortiert weiterreichen, sobald ich etwas Konkretes habe. Fingerabdrücke zum Beispiel.« Er schenkte Nisha ein gewinnendes Lächeln und schob die Beweismitteltüte näher zu ihr.

Nisha schob sie zurück. »Geht leider nicht ohne Budget-Code.«

»Könntest du das nicht unter dem ursprünglichen Fall verbuchen?«

»Du weißt, dass ich das nicht darf.«

»Sie hat beide Eltern verloren, Nisha. Sie ist gerade selbst Mutter geworden, bemüht sich verzweifelt, alles ohne die moralische Unterstützung ihrer Mum hinzubekommen.«

»Das Alter macht dich weich.«

»Während du natürlich immer noch eisenhart bist. Was hattest du noch gleich über kleine Kätzchen gesagt?« Wieder schob er die Tüte über den Tisch.

Diesmal nahm Nisha sie.