Neununddreißig
Tatsache: An Weihnachten sterben mehr Leute als zu jeder anderen Zeit.
Sie verkraften die Kälte nicht. Die Krankenhäuser sind überlastet. Die Einsamkeit lässt sie zu Tabletten, zum Messer, zum Strick greifen.
Oder sie stürzen in eine Faust.
Ich schlug zum ersten Mal am 25. Dezember 1996 zu. Fröhliche Weihnachten.
Anna war fünf, saß in einem Meer von Geschenkpapier neben dem Tannenbaum und hielt verzückt ihren Buzz Lightyear in den Händen.
»Die sind übrigens überall ausverkauft«, sagte Bill ziemlich eingebildet. »Ihr glaubt nicht, was ich tun musste, um noch einen zu erwischen.«
Neben Anna, achtlos auf den Fußboden gelegt, war eine Barbie. Sie hatte Haar, das wuchs, und einen Lidschatten, der die Farbe wechselte. Extrem albern ausgeprägte Fesseln. Eine Barbie, für die ich gearbeitet, die ich ausgesucht und bezahlt hatte. Anna hatte sie nur einmal angeguckt – ausprobiert, wie man mit dem kleinen Rädchen hinten die Haare länger machte – und sie fallen gelassen. Ich glaube nicht, dass sie das Ding an dem Weihnachten noch mal angefasst hat.
Deshalb schenkte ich mir meinen ersten Drink ein. Spürte deinen vorwurfsvollen Blick, als ich ihn herunterstürzte, also goss ich mir gleich nach, da erst recht. Ich saß da und kochte vor Wut.
Du hattest das Weihnachtsessen versaut. Den Truthahn zu lange gegart, den Rosenkohl nicht lange genug. Du hattest selbst etwas getrunken, es witzig gefunden. Ich fand es nicht witzig.
Du versuchtest, Bill zum Bleiben zu überreden, wolltest nicht mit mir allein sein. Als er trotzdem ging, brachtest du ihn zur Tür und umarmtest ihn mit einer Herzlichkeit, wie du sie mir schon lange nicht gezeigt hattest. Ich trank mehr. Wurde wütender.
»Wollen wir nächstes Jahr Alicia fragen, ob sie mit uns Weihnachten feiert?«, fragtest du. »Schrecklich, dass sie und Laura in dieser furchtbaren Wohnung hocken.«
Ich sagte Ja, war mir aber nicht so sicher. Wenn ich ehrlich sein sollte, konnte ich mir Alicia hier, in unserem Haus, nicht vorstellen. Sie war anders als wir, sprach anders, zog sich anders an. Sie gehörte in ihre Welt, nicht in unsere.
Wir warteten mit unseren Geschenken bis zum Schluss. Anna war im Bett und der Truthahn in Folie gewickelt (obwohl er gar nicht noch trockener werden konnte), und du zwangst mich, mit dir auf dem Boden zu fläzen, als wären wir fünf.
»Du zuerst.« Ich gab dir ein Geschenk. Für das Einpacken hatte ich extra bezahlt, und du zogst die Schleife ab, ohne sie richtig anzusehen. Ich dachte, das nächste Mal würde ich mir die Mühe sparen.
»Das ist wunderbar.«
Ich wusste, dass es dir gefallen würde. Die Kamera hatte Anna eingefangen, als sie mit der Schaukel am höchsten Punkt war. Sie lachte, schwang ihre Beine, und ihr Haar flog. Der Rahmen war aus Silber. Teuer. Es war ein gutes Geschenk.
»Jetzt du.« Du gabst mir das Geschenk, warst nervös. »Es ist so schwer, etwas für dich zu finden.«
Vorsichtig puhlte ich das Klebeband ab und zog das Kästchen aus dem Papier. Schmuck? Handschuhe?
Es war eine CD.
Easy Listening. Die größten Hits der Welt. Einfach entspannen …
In der Ecke der Hülle war eine klebrige Stelle, wo du das Preisschild abgekratzt hattest.
Mir war, als hätte mir jemand zwanzig Jahre gestohlen, mich zu einem C&A geschleppt und mir eine beige Hose mit Gummibund angezogen. Ich dachte an mein Leben vor dir; vor Anna. An die Partys, das Koks, den Sex, den Spaß.
Und was war mein Leben jetzt? Eine Easy-Listening-CD.
Man sollte meinen, dass es schnell passieren würde, doch für mich war es andersherum. Die Zeit verlangsamte sich. Ich fühlte, wie sich meine Hand zur Faust ballte, wie sich meine Fingernägel in die weiche Haut meiner Handfläche gruben. Ein Schauer der Anspannung pulsierte von meinem Handgelenk bis zur Schulter, wo er kurz verharrte, um gleich wieder zurückzulaufen. Sich immer weiter aufzubauen. Weiter und weiter.
Der Bluterguss reichte von deiner Schläfe bis zu deinem Hals.
»Tut mir leid«, sagte ich. Tat es wirklich. Ich schämte mich. Und hatte ein bisschen Angst vor dem, wozu ich fähig war, auch wenn ich das nie zugegeben hätte.
»Vergiss es.«
Natürlich vergaß ich es genauso wenig wie du. Aber wir taten trotzdem so.
Bis zum nächsten Mal.
Mir jagte es genug Angst ein, dass ich für eine Weile aufhörte zu trinken. Aber ich war nicht alkoholkrank, weißt du noch? Das redete ich mir jedenfalls ein. Und es war unnötig, gleich ganz abstinent zu werden. Mal ein kühles Bier, mal ein Glas Wein … Es dauerte nicht lange, bis die Säufersonne für mich lange vor sechs Uhr abends aufgehen musste.
Man weiß nie, was hinter verschlossenen Türen vor sich geht. Von zehn Bekannten sind zwei in einer gewalttätigen Beziehung. Zwei. Wie viele Freunde hatten wir? Wir können nicht die Einzigen gewesen sein.
Ich fand das irgendwie beruhigend. Wir fielen nicht aus der Norm.
Selbstverständlich hielten wir es geheim. Hätten wir das nicht getan, wäre es vielleicht nicht so lange gegangen. Aber keiner ist stolz auf eine gescheiterte Ehe. Keiner ist stolz darauf, ein Opfer zu sein.
Du sagtest keinen Ton und ich auch nicht.
Ich würde gerne behaupten, dass ich keine Kontrolle darüber hatte. Immerhin schlug ich dich nur, wenn ich betrunken war; womit ich ja wohl nicht mehr ganz so verantwortlich bin, oder?
Du hast mich nie zur Rede gestellt, doch du wusstest – und ich wusste –, dass ich zumindest noch über ein gewisses Maß an Kontrolle verfügte. Ich schlug nie zu, wenn Anna im Raum war, und später, als sie alt genug war, um die Nuancen von Erwachsenenbeziehungen zu begreifen, nicht mal mehr, wenn sie im Haus war. Es war, als hätte ihre Nähe eine beruhigende Wirkung; wie eine Mahnung, sich wie rationale Menschen zu benehmen.
Das und die Scham, dass sie mich so sehen könnte.
Jedes Mal sagte ich dir, dass es mir leidtat. Jedes Mal sagte ich, es wäre »einfach passiert«, dass ich es nicht gewollt hatte, mich aber nicht bremsen konnte. Heute hasse ich mich für die Lügen, die ich damals erzählte. Ich wusste genau, was ich tat. Denn nach jenem ersten Mal, egal wie betrunken oder wie wütend ich war, schlug ich dich nie wieder so, dass die Blutergüsse zu sehen waren.