Achtunddreißig
Anna
Am Mittwoch, dem Tag nach Boxing Day, fährt Joan nach Hause. Es gibt Päckchen mit Resten und Versprechen, sie besuchen zu kommen, sowie mehrere Beteuerungen, dass es wunderbar war, Zeit als Familie zu verbringen. Doch irgendwann sitzt sie in ihrem Wagen, und wir winken ihr von der Einfahrt aus nach.
Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr sind komisch. Immer muss man in dem Kalender nachsehen, welches Datum gerade ist, und jeder Tag kommt einem wie ein Feiertag vor. Mark bringt den Recyclingmüll weg, und ich liege mit Ella auf dem Wohnzimmerfußboden. Sie ist fasziniert von den knisternden Seiten eines Schwarzweißbuches, das wir ihr zu Weihnachten geschenkt haben. Ich blättre die Seiten für sie und wiederhole immer wieder die Namen der abgebildeten Tiere. Hund. Katze. Schaf.
Drei Tage ist es her, seit meine Mutter zurückkam. Ich hatte mir geschworen, dass ich es nach Weihnachten – nachdem Joan weg war – Mark erzählen würde und wir gemeinsam zur Polizei gehen würden.
Jetzt ist Weihnachten vorbei.
Ich frage mich, ob mein Schweigen eine Straftat ist und ob solch ein Vergehen schwerwiegender wird, je mehr Zeit man verstreichen lässt. Sind vierundzwanzig Stunden hinnehmbar, aber zweiundsiebzig ein Fall für den Richter? Gibt es strafmildernde Umstände für das, was ich tue? Im Geiste hake ich die Gründe ab, warum ich dieses Geheimnis wahre.
Ich habe Angst. Vor den Schlagzeilen, dem Presseansturm, den Blicken der Nachbarn. Dank Internet gibt es keinen Schnee von gestern mehr. Ella wird die Auswirkungen ein Leben lang zu spüren bekommen.
Und da ist noch eine unmittelbare, konkretere Furcht. Vor meinem Vater. Meine Mutter hat mir erzählt, wozu er fähig ist; ich habe selbst genug gesehen, um sie ernst zu nehmen. Wenn ich mit dem, was ich weiß, zur Polizei gehe, müssen sie schnell handeln, meinen Vater verhaften und dafür sorgen, dass er uns nichts tun kann. Aber was ist, wenn sie ihn nicht finden? Was könnte er uns antun?
Ich sorge mich, was Mark sagen wird. Was er tun wird. Er liebt mich, aber unsere Beziehung ist noch jung, zerbrechlich. Und wenn dies hier zu viel ist? Ich versuche mir vorzustellen, was ich im umgekehrten Fall tun würde; doch der Gedanke, dass die vernünftige, gradlinige Joan ihren Tod vortäuscht, ist schlicht zu lächerlich. Nichtsdestoweniger würde ich bleiben, oder? Ich würde Mark nie wegen etwas verlassen, das seine Eltern getan haben. Dennoch sorge ich mich. Die ganze Zeit, die Mark und ich zusammen sind, ist meine Trauer wie eine weitere Person in unserem Leben gewesen. Mark hat sie akzeptiert, Zugeständnisse gemacht. Wenn das wegfällt … Nun begreife ich, wovor ich mich fürchte. Dass wir ohne die Trauer, die uns zusammengeführt hat, auseinanderdriften.
Ich blättere für Ella um. Sie greift mit einer festen kleinen Faust nach einer Ecke der Seite und zieht sie an ihren Mund. Es gibt noch einen Grund, weshalb ich nicht zur Polizei gegangen bin.
Mum.
Auch wenn ich nicht gutheißen kann, was sie getan hat, verstehe ich, warum sie verschwand. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass sie einen anderen Weg gefunden hätte, aber das wird nichts ändern, wenn ich zur Polizei gehe. Ich muss mich entscheiden, ob ich meine Mutter ins Gefängnis bringen will oder nicht.
Und ich kann nicht meine eigene Mutter ins Gefängnis bringen.
In den letzten Tagen habe ich Joan mit Ella erlebt, die Freude einer Beziehung gesehen, die Generationen überspannt. Wir haben Ella gebadet, sind im Park spazieren gegangen und haben abwechselnd den Kinderwagen geschoben. Ich möchte diese Dinge mit meiner Mutter tun. Ich möchte, dass Ella ihre beiden Großmütter kennt.
Meine Mutter ist zurückgekommen, und ich möchte sie so gern in meinem Leben behalten.
Ich brauche dringend einen klaren Kopf, also gehe ich zu Mark.
»Ich fahre Ella ein bisschen aus.«
»Gute Idee. Wenn du fünf Minuten wartest, komme ich mit.«
Ich zögere. »Macht es dir etwas aus, wenn wir allein gehen? Ich habe das Gefühl, dass ich die letzten Tage mit Joan hier und Roberts Party keine Minute für mich hatte.«
Sein Gesichtsausdruck verrät mir, dass er meine Bitte abwägt. Brauche ich Zeit für mich, weil ich etwas Ruhe möchte oder weil ich gleich zusammenbreche?
Ungeachtet dessen, was in mir vorgeht, sehe ich offenbar nicht aus, als könnte ich eine Gefahr für mich – oder Ella – sein, denn er lächelt. »Klar. Dann bis später.«
Ich gehe in Richtung Stadt. Der Wind, der weiter landeinwärts kaum zu spüren ist, frischt zunehmend auf und peitscht an der Küste entlang. Ich halte an, um den Plastikregenschutz vorn über den Kinderwagen zu spannen. Der Kiesstrand ist dunkel und glänzend vom nächtlichen Regen, und es ist still, da die meisten Geschäfte noch geschlossen sind. Aber es spazieren Leute am Strand und auf der Promenade. Alle scheinen gute Laune zu haben – noch von der Feststimmung und den zusätzlichen freien Tagen, schätze ich –, aber vielleicht fühlt es sich auch wegen des Durcheinanders in meinem Kopf bloß so an. Jeder hat Sorgen, erinnere ich mich, obwohl ich denke, dass eher keiner sonst mit der Tatsache ringt, dass seine Eltern von den Toten zurückgekehrt sind.
Ich hatte nicht vor, zum Hope zu gehen, auch wenn es wohl unvermeidlich war. Meine Beine tragen mich von selbst hin, und ich sträube mich nicht.
Es ist ein unscheinbarer Bau mit grauem Rauputz außen und breiter als hoch. Ich klingle an der Tür.
Die Frau, die mir öffnet, ist ruhig und freundlich. Sie steht wie eine Ballerina, die Füße in der ersten Position, die Hände vor ihrer Taille gefaltet.
»Ich würde gerne zu Caroline …« Ich zögere und entscheide, keinen Nachnamen zu nennen. »Kann ich sie vielleicht sehen? Sie wohnt bei Ihnen.«
»Warten Sie bitte hier.« Sie lächelt und schließt die Tür wieder.
Ich frage mich, ob hier üble Leute aufkreuzen. Prügelnde Ehemänner, die ihre Frauen zurückholen wollen. Sicher lächelt die Frau dann nicht. Ich frage mich, ob mein Vater hier nach meiner Mutter gesucht hat. Unwillkürlich blicke ich mich um. Beobachtet er mich? Er muss es getan haben, wenn er wusste, dass ich bei der Polizei war. Ich fange an zu zittern und umklammere den Griff von Ellas Kinderwagen fester.
»Bedaure, aber hier ist niemand, der so heißt.« Sie ist so schnell wieder da, dass ich mich frage, ob sie überhaupt nachgesehen hat und nur für einen Moment hinter der Tür stehen geblieben war. Vielleicht ist es die Standardantwort, die jeder zu hören bekommt, egal ob jemand mit dem genannten Namen dort wohnt oder nicht.
Erst als die Tür wieder zugeht, erkenne ich meinen Fehler. Meine Mutter wird nicht ihren richtigen Namen benutzen – weder den Vornoch den Nachnamen –, wenn sie angeblich tot ist. Ich gehe weg und überlege, ob ich noch mal umkehren und sie beschreiben soll; ob es gut ist, dass ich sie nicht hier gefunden habe. Ob es so sein sollte.
»Anna!« Ich drehe mich um. Meine Mutter kommt aus dem Haus. Sie trägt dieselben Sachen wie am Heiligabend und zieht sich die Kapuze ihres Mantels über den Kopf. »Schwester Mary sagte, dass jemand nach Caroline gefragt hat.«
»Sie ist Nonne?«
»Ja, sie ist fantastisch. Und sie beschützt hier alle sehr. Sie hätte immer Nein gesagt, egal welchen Namen du genannt hättest.«
»Das dachte ich mir schon. Entschuldige, ich hatte nicht richtig nachgedacht.«
»Macht nichts.« Wir gehen nebeneinanderher zurück zum Strand. »Angela.«
Verwirrt sehe ich sie an.
»Der Name, den ich jetzt benutze, lautet Angela.«
»Aha.«
Schweigend gehen wir weiter. Ich bin nicht mit einer vorbereiteten Rede oder einem Plan zum Hope gekommen. Jetzt bin ich unsicher. Sprachlos. Ich nehme die Hände vom Kinderwagen und gehe wortlos zur Seite. Meine Mutter übernimmt, und es ist so einfach – so richtig –, dass ich heulen könnte.
Ich kann sie nicht ins Gefängnis schicken. Ich will sie – brauche sie – in meinem Leben. In Ellas Leben.
Auf der Pier sind mehr Leute. Kinder rennen auf und ab, lassen nach Tagen im Haus Dampf ab. Ich sehe, wie meine Mutter an ihrer Kapuze zupft und den Kopf senkt. Wir sollten an einem einsameren Ort sein. Was ist, wenn wir jemandem begegnen, den wir kennen?
Die Riesenrutsche ist abgedeckt, die Wurfbude für den Winter geschlossen. Wir gehen bis zum Ende der Pier und blicken hinaus aufs Meer.
Wir beide überlegen, was wir sagen könnten.
Meine Mutter spricht als Erste: »Wie war dein Weihnachten?«
Es ist lächerlich banal, und ich spüre, wie ein Lachen in mir aufsteigt. Als ich zu meiner Mutter sehe, fängt auch sie an zu lachen, und plötzlich lachen und weinen wir beide. Ihre Arme sind fest um mich geschlungen. Ihr Duft ist schmerzlich vertraut. Wie viele Umarmungen habe ich schon von meiner Mutter gehabt? Nicht genug. Es können nie genug sein.
Als unser Schluchzen verklingt, setzen wir uns auf eine Bank und ziehen Ellas Kinderwagen nahe zu uns.
»Wirst du es der Polizei sagen?«, fragt meine Mutter leise.
»Weiß ich nicht.«
Eine Weile sagt sie nichts. Dann spricht sie sehr hastig. »Gib mir einige Tage. Bis nach Neujahr. Lass mich etwas Zeit mit Ella verbringen – sie kennenlernen. Entscheide nicht vorher. Bitte.«
Es ist leicht, Ja zu sagen. Meine Entscheidung aufzuschieben. Wir sitzen schweigend da und schauen aufs Meer.
Meine Mutter hakt sich bei mir ein. »Erzähl mir von deiner Schwangerschaft.«
Ich lächle. Es scheint mir ewig her. »Ich hatte schreckliche Morgenübelkeit.«
»Liegt in der Familie, fürchte ich. Bei dir habe ich mich um Sinn und Verstand gekotzt. Und dieses Sodbrennen …«
»Grauenhaft! Am Ende trank ich das Gaviscon direkt aus der Flasche.«
»Irgendwelche komischen Gelüste?«
»Karottenstäbchen mit Schokocreme.« Ihr Gesichtsausdruck bringt mich zum Lachen. »Sag nichts, ehe du das nicht probiert hast.« Trotz des Windes, der über die Pier pfeift, ist mir innerlich wunderbar warm. Wenn die Frauen in meinem Geburtsvorbereitungskurs stöhnten, weil ihre Mütter ihnen unerwünschte Ratschläge gaben, dachte ich, wie sehr ich mich nach einigen weisen Tipps meiner Mutter sehnte. Wie wenig es mir ausmachen würde, wenn sie sich einmischte; wie ich jeden Besuch, jeden Anruf, jedes Hilfsangebot schätzen würde.
»Als ich mit dir schwanger war, wollte ich immerzu Oliven. Konnte gar nicht genug von denen bekommen. Dein Dad sagte, du würdest wahrscheinlich wie eine aussehen.«
Mein Lachen erstirbt, und meine Mutter wechselt schnell das Thema.
»Und Mark – ist er gut zu dir?«
»Er ist ein wunderbarer Vater.«
Sie sieht mich aufmerksam an. Ich habe ihre Frage nicht beantwortet, weil ich nicht sicher bin, ob ich es kann. Ist er gut zu mir? Er ist freundlich und umsichtig. Er hört zu, hilft im Haushalt. Ja, er ist gut zu mir.
»Ich habe großes Glück«, sage ich. Mark hätte nicht bei mir bleiben müssen, als ich schwanger wurde. Viele Männer hätten es nicht getan.
»Ich würde ihn gern kennenlernen.«
Ich will schon sagen, wie schön es wäre, als ich ihr Gesicht sehe. Sie meint es vollkommen ernst. »Das geht nicht … Es ist ausgeschlossen.«
»Wirklich? Wir können ihm erzählen, dass ich eine entfernte Cousine bin. Dass wir uns aus den Augen verloren hatten, uns zerstritten oder …« Sie bricht ab und verwirft den Gedanken.
Im unruhigen Wasser unter der Pier bemerke ich eine hastige Bewegung. Ein Arm. Ein Kopf. Jemand ist im Wasser. Ich stehe schon halb, als mir klar wird, dass dort jemand schwimmt, nicht ertrinkt. Ich fröstele stellvertretend für den Schwimmer und sacke auf die Bank zurück.
Meine selbstgesetzte Frist gibt mir vier Tage mit meiner Mutter, bevor ich es entweder der Polizei erzähle oder sie irgendwohin verschwinden lasse, wo sie keiner erkennt. So oder so bleiben mir vier Tage, bevor ich mich zum zweiten Mal von meiner Mutter verabschiede.
Vier Tage mit dem, was ich mir seit Ellas Geburt herbeigesehnt habe. Mark, Ella, Mum und ich.
Ich überlege.
Sie sieht vollkommen anders aus als auf den wenigen Fotos, die Mark gesehen hat. Sie ist dünner, älter, ihr Haar pechschwarz und so geschnitten, dass es ihre Gesichtsform verändert.
Könnten wir?
»Und du bist sicher, dass du ihm nie begegnet bist?«
Meine unvermittelte Frage bewirkt, dass sie verwundert die Augenbrauen hochzieht. »Das weißt du doch.«
»Die Polizei fand eine Visitenkarte von Mark in deinem Terminkalender.« Ich bemühe mich um einen neutralen Tonfall, doch es klingt wie ein Vorwurf. »Du hattest einen Termin bei ihm gemacht.«
Ich sehe ihre gerunzelte Stirn, die Bewegungen ihres Kiefers, als sie an ihrer Unterlippe nagt. Sie blickt zu den Holzplanken unter unseren Füßen, zu dem Schwimmer, der durch die Wellen krault.
»Ach so!« Jetzt sieht sie wieder zu mir, sichtlich erleichtert, dass sie das Rätsel lösen konnte. »Psychotherapeut in Brighton.«
»Ja. Du hattest einen Termin bei ihm gemacht.«
»Das war Mark? Dein Mark? Mein Gott, wie verrückt.« Sie zupft an einem Hautfetzen an ihrem Nagelbett. »Der Flyer mit der Visitenkarte war an dem Tag in der Post, nachdem dein Dad verschwunden war. Du weißt ja, wie es mir ging – ich war aufgelöst. Ich konnte nicht schlafen, schrak bei Nichtigkeiten zusammen. Und ich hatte ja niemanden, an den ich mich wenden konnte. Ich musste es jemandem erzählen, es mir von der Seele reden, also habe ich einen Termin gemacht.«
»Aber du bist nicht hingegangen.«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich dachte, alles was ich sage, wäre vertraulich. Wie eine Beichte, schätze ich. Aber dann las ich im Kleingedruckten, dass Diskretion nicht garantiert werden kann, wenn das Leben des Klienten in Gefahr ist oder er ein Verbrechen gesteht.«
»Stimmt.« Ich frage mich, ob Mark jemals einen Klienten bei der Polizei gemeldet hat und ob er es mir erzählen würde, wenn er es hätte.
»Also bin ich nicht hingegangen.«
»Er erinnert sich nicht daran.«
»Er muss mit einer Menge Leute zu tun haben.« Sie ergreift meine Hände und reibt sie mit ihren Daumen. »Lass mich wieder Teil einer Familie sein, Anna. Bitte.«
Ich stocke.
»Er wird merken, dass du es bist.«
»Wird er nicht. Die Menschen glauben, was sie glauben wollen«, sagt meine Mutter. »Sie glauben, was man ihnen erzählt. Vertrau mir.«
Und das tue ich.