Siebenunddreißig

Murray

Boxing Day war von jeher der Absturz nach dem Feiertag. Als Murray noch in Uniform war, hatte Boxing Day einen Einsatz wegen häuslicher Gewalt nach dem anderen bedeutet. Wenn der Weihnachtskater mit noch mehr Alkohol kuriert wurde, explodierten familiäre Spannungen, die anlässlich des Feiertags einen Tag lang unter dem Deckel gehalten worden waren.

Für jemanden wie Sarah, der alles so intensiv empfand, war es noch schlimmer. Es war Mittag, bis sie sich blicken ließ, und das auch nur, um sich den Tee zu holen, den Murray ihr bereitet hatte, und wieder ins Bett zurückzugehen. Murray räumte die Küche auf, machte sich ein Mittagessen und fragte sich, was er tun sollte. Er wollte Sarah nicht allein lassen, wenn sie in dieser Stimmung war, doch das Haus fing an, sich erdrückend anzufühlen.

Er holte sich die Johnson-Akte und breitete sie auf dem Küchentisch aus. Tom Johnson hatte mehrfach auf Google nach Beiträgen zu Suizid, Beachy Head und Tiden gesucht, und alle Suchen hatten zwischen Mitternacht am 17. Mai und neun Uhr am folgenden Morgen stattgefunden. Vollkommen plausibel bei einem Mann, der über Selbstmord nachdachte – was vermutlich auch die Ermittler angenommen hatten –, doch im Kontext des Bildes, das Murray allmählich gewann, waren diese Internetsuchen zu sorgfältig. Zu passend. Sie waren eindeutig von demjenigen durchgeführt worden, der die Johnsons ermordete und es wie Suizide aussehen ließ.

Wer könnte Zugriff auf Toms Handy gehabt haben? Es war eine hoffnungslose Frage, solange man nicht wusste, wo der Mann am Morgen vor seinem Tod gewesen war. Das CID hatte versucht, seine Bewegungen nachzuvollziehen, doch nachdem der Audi von der Verkehrskamera nahe Beachy Head aufgenommen und das Kennzeichen zugeordnet war, wurde nichts mehr unternommen. Es war scheinbar nicht nötig gewesen.

Wo war Tom in jener Nacht? Wo war er an dem Morgen? Murray füllte drei Seiten seines Notizbuches mit möglichen Fragen und ärgerte sich über die Feiertage, denn so war niemand bei der Arbeit, mit dem er reden konnte.

Es war früher Abend, als Murray eine Hand auf den Bettdeckenhügel legte und vorschlug, dass Sarah sich eventuell besser fühlte, wenn sie duschte und sich anzog. Die Luft im Schlafzimmer war abgestanden, und die Teetasse, die er Sarah in die Hand gedrückt hatte, stand unangerührt da. Auf dem Tee hatte sich ein glänzender Film gebildet.

»Ich will zurück nach Highfield.«

»Du siehst Mr Chaudhury am Freitag.«

Sarah weinte, vergrub sich unter der Decke, so dass ihre Worte gedämpft klangen. »Ich will nicht hier sein. Ich will nach Highfield.«

»Soll ich deine Decke ins Wohnzimmer bringen? Dann können wir uns auf die Couch lümmeln und Schwarzweißfilme sehen.«

»Geh weg!«

Wäre Sarah zu sehen, hätte Murray seine Kränkung hinter dem Lächeln des treu sorgenden Ehemanns verborgen. Nun legte er eine Hand an die Stelle, an der er Sarahs Schulter vermutete, und begann, die Worte vorzuformulieren, die er brauchte. Die sie brauchte. Nur fühlte er sich auf einmal ausgebrannt, todmüde. Nichts würde irgendwas bringen. Was er auch sagte, was er auch tat, es würde Sarah nicht helfen. Nichts konnte Sarah helfen.

Er stand auf, ging aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Dann blickte er hinaus zur Straße und zu den Häusern mit ihrer Weihnachtsbeleuchtung. Drinnen saßen Familien bei Brettspielen oder stritten sich um die Fernbedienung.

»Krieg dich wieder ein, Mackenzie«, murmelte er.

In der Küche schob er sich zwei Scheiben Toast mit Käse unter den Grill. Er würde Anna Johnson anrufen. Zum Teufel mit den Feiertagen. Die Frau trauerte um ihre Eltern; ein Ziegelstein zertrümmerte ihr Fenster. Das waren wohl kaum normale Zeiten. Sie hatte ihn bekniet, die Ermittlungen wiederaufzunehmen, und nach seiner Standpauke von Leo Griffiths würde bald das CID übernehmen. Es wurde also Zeit, dass er Anna Johnson erzählte, was er wusste.

Er drehte den Grill auf kleinere Flamme und griff zum Telefon.

»Hallo?«

»Hallo, hier ist Murray Mackenzie. Von der Polizei«, ergänzte er, als Anna nichts sagte.

»Ja, ich weiß. Ehrlich gesagt ist es im Moment ungünstig …«

»Tut mir leid, dass ich Sie am Boxing Day störe. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich denke, Sie haben recht. Hinter dem Tod Ihrer Eltern steckt mehr, als sich auf den ersten Blick erschließt.« Er sprach hastig, ebenso sehr um seinetwillen wie um Annas. Die kleine Enge in seiner Brust löste sich. Er stellte sich vor, wie Anna eine Hand an ihren Hals hielt; vielleicht sogar vor Erleichterung weinte, weil ihr endlich jemand zugehört hatte. Er wartete. Am anderen Ende war ein sehr schwacher Laut zu hören, dann Stille.

Murray rief erneut an.

»Ich glaube, das Gespräch wurde unterbrochen. Ich dachte, dass wir uns vielleicht morgen treffen könnten. Haben Sie Zeit? Ich könnte Ihnen sagen, was ich herausgefunden habe, und wir können besprechen …«

»Nein!«

Nun war es an Murray, zu verstummen. Er war nicht mal sicher, ob das plötzliche, laute Kommando ihm galt oder jemandem bei Anna zu Hause. Ihrem Partner? Einem Hund? Dem Baby?

»Ich habe es mir anders überlegt.« Da war ein Zittern in Annas Stimme, doch sie redete weiter, wurde lauter, als müsse sie die Worte herauszwingen. »Ich muss nach vorn sehen, mich mit dem abfinden, was passiert ist. Das Urteil des Coroners akzeptieren.«

»Aber das meine ich doch, Anna. Ich denke, Sie haben recht.

Ich glaube, Ihre Eltern wurden ermordet.«

Anna gab einen wütenden Laut von sich. »Sie hören mir nicht zu. Es tut mir leid, dass ich Ihre Zeit vergeudet habe, aber ich will das nicht. Ich möchte nicht, dass Sie in der Vergangenheit herumwühlen. Ich will nicht, dass Sie irgendwas tun.« Das Beben in ihrer Stimme veränderte sich, und Murray erkannte, dass sie weinte. »Bitte, lassen Sie es einfach!«

Diesmal war das Klicken am anderen Ende lauter. Anna Johnson hatte aufgelegt.

Die Enge in Murrays Brust kehrte zurück, und er schluckte den albernen Impuls herunter zu weinen. Regungslos stand er da, das Telefon in der Hand, und erst als der Rauchmelder lospiepte, bemerkte er, dass sein Abendessen verbrannte.