Vierundvierzig
Anna
Es ist seltsam, Mum wieder in Oak View zu haben. Seltsam und wunderbar. Sie ist nervös, doch ob sie sich vor der Entdeckung durch Mark fürchtet oder einfach Angst vor meinem Vater hat, weiß ich nicht. Jedenfalls zuckt sie bei dem kleinsten Geräusch draußen zusammen und redet nur wenig, es sei denn, wir sprechen sie direkt an. Rita folgt ihr auf Schritt und Tritt, und ich frage mich, wie es für sie wird, wenn Mum wieder verschwindet.
Denn das ist die Vereinbarung. Drei Tage noch als Familie – wenn auch eine voller Geheimnisse –, dann ist es vorbei.
»Du musst nicht gehen.« Wir sind im Garten, und meine Worte verwandeln sich in Nebelwolken, als sie über meine Lippen kommen. Heute ist es trocken, aber so kalt, dass es im Gesicht schmerzt. Ella liegt in ihrer Babywippe in der Küche, die ich zur Glastür gerichtet habe, damit ich sie im Auge behalten kann.
»Doch, muss ich.« Sie hat darum gebettelt, in ihren geliebten Garten zu dürfen. Er ist nur von einer Seite einsehbar, während uns auf den anderen beiden Seiten hohe Hecken vor neugierigen Blicken schützen. Trotzdem rast mein Herz. Nun stutzt sie ihre Rosen – nicht das richtig fachmännische Schneiden, das im Frühjahr gemacht werden muss –, sie kürzt sie nur um ein Drittel ein, damit die Winterstürme sie nicht umknicken. Ich habe den Garten, der Mums ganzer Stolz war, sehr vernachlässigt, und die Rosen sind zu hoch und schief. »Jemand wird mich sehen, wenn ich bleibe. Es ist zu riskant.«
Immer wieder schaut sie zu Roberts Haus, das einzige, von dem aus man freien Blick in den Garten hat. Dabei haben wir ihn beide morgens wegfahren gesehen, den Wagen beladen mit Weihnachtsgeschenken für seine Verwandten im Norden. Meine Mutter trägt Marks Gartenjacke und hat sich eine Wollmütze tief über die Ohren gezogen.
»Ihr hättet den Schmetterlingsflieder letzten Monat zurückschneiden müssen. Und der Lorbeer muss eingewickelt werden.« Kopfschüttelnd blickt sie zu dem Zaun zwischen unserem Garten und Roberts, wo ich die Kletterrosen und die Klematis hätte schneiden müssen, nachdem sie verblüht waren.
Schon jetzt sieht alles besser aus, obwohl ich meine Mutter hin und wieder schnalzen und seufzen höre; vermutlich weil meine Nachlässigkeit bereits einige Pflanzen unrettbar ruiniert hat.
»In der Küche steht ein Buch, in dem du nachschlagen kannst, was in welchem Monat zu tun ist.«
»Ich sehe es mir an, versprochen.« Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Es ist ihr ernst damit, dass sie geht. Dass sie nie mehr wiederkommt.
Irgendwo habe ich gelesen, dass nach dem Verlust eines nahen Menschen das erste Jahr am schlimmsten ist. Das erste Weihnachtsfest, der erste Todestag. Einmal alle Jahrestage ohne die Person, bevor ein neues Jahr frische Hoffnung keimen lässt. Es stimmt, dass es hart war. Ich wollte meinen Eltern von Ella erzählen, Schwangerschaftsgeschichten mit meiner Mutter austauschen und Mark mit meinem Dad in den Pub schicken, um das Baby zu begießen. Ich wollte grundlos heulen, während meine Mutter winzige Strampler faltete und mir erklärte, dass jede Frau den Babyblues hat.
Das erste Jahr war schlimm, doch ich weiß, dass mir noch schlimmere Zeiten bevorstehen. An der Endgültigkeit des Todes ist nicht zu rütteln, aber meine Eltern sind nicht tot. Wie werde ich damit fertig? Meine Mutter wird mich willentlich verlassen, weil sie zu große Angst hat hierzubleiben, wo mein Vater sie finden wird; zu große Angst, hier zu sein, wo sie erkannt und ihre Tat entlarvt werden könnte. Ich bin keine Waise mehr und dennoch elternlos, und die Trauer, die ich empfinde, ist kein bisschen weniger heftig als die nach einem echten Verlust.
»Robert bezahlt für die Gartenarbeiten, wenn seine Bauarbeiten fertig sind. Überleben es die Pflanzen am Zaun, wenn sie umgesetzt werden?« Zu spät wird mir klar, dass ich nichts von dem Anbau hätte sagen sollen.
»Hast du Widerspruch eingelegt? Das musst du. Mit dem Anbau wird die Küche furchtbar dunkel, und ihr habt keine Privatsphäre mehr auf der Terrasse.« Sie fängt an, all die Gründe aufzuzählen, warum Roberts Anbau eine Zumutung für uns ist, und ihre Stimme springt dabei eine Oktave höher. Ich möchte sie fragen, warum es sie kümmert, wo sie doch nicht wieder herkommen will. Andererseits pflegt sie auch hingebungsvoll Rosen, die sie nicht blühen sehen wird. Wir sind so gestrickt, dass wir uns noch um Dinge sorgen, die uns längst nicht mehr betreffen.
Also gebe ich vage zustimmende Laute von mir und erwähne das Geld nicht, das Mark als Entschädigung für die Unannehmlichkeiten während der Bauphase ausgehandelt hat.
»Hilf mir mal mit dem hier.« Meine Mutter hat den Lorbeer fertig eingehüllt, der in einem großen Terrakotta-Topf auf einem Grubendeckel steht. »Er muss an eine geschütztere Stelle.« Sie zieht an dem Topf, doch der rührt sich keinen Millimeter. Ich gehe hin, um ihr zu helfen. Roberts Bauarbeiter werden ihn versetzen, wenn sie die Abwasserleitungen für sein Fundament ausgraben, aber ich will nicht, dass meine Mutter sich wieder aufregt. Gemeinsam ziehen wir den Topf über die Terrasse auf die andere Gartenseite.
»So. Da haben wir doch einiges geschafft.«
Ich hake mich bei ihr ein und drücke ihren Arm fest, so dass sie sich nicht rühren kann.
»Geh nicht weg.« Bisher habe ich nicht geweint, aber jetzt bricht meine Stimme, und ich kann die Tränen nicht zurückhalten.
»Ich muss.«
»Können wir dich besuchen kommen? Ella und ich? Wenn du nicht herkommen willst, dürfen wir dann zu dir kommen?«
Ihre Stille verrät mir schon, dass die Antwort nicht die sein wird, die ich mir wünsche.
»Es wäre nicht sicher.«
»Ich würde es keiner Menschenseele erzählen.«
»Du würdest dich verplappern.«
»Würde ich nicht!« Ich ziehe meinen Arm weg, und heiße Wuttränen brennen in meinen Augen.
Meine Mutter sieht mich an und seufzt. »Wenn die Polizei herausfindet, dass Tom und ich noch leben und du es gewusst hast – dass du unsere Straftaten verschleiert, mir Unterschlupf gewährt hast –, wird man dich verhaften. Du könntest ins Gefängnis gehen.«
»Ist mir egal!«
Meine Mutter spricht ruhig und langsam, sieht mir in die Augen. »Tom wird keine Ruhe geben, Anna. Seiner Meinung nach habe ich ihn betrogen, ihn zum Narren gehalten. Er wird nicht eher ruhen, bis er weiß, wo ich bin. Und er wird dich benutzen, um mich zu finden.« Sie wartet, um ihre Worte wirken zu lassen.
Nun kommen die Tränen, rinnen über meine von der Kälte tauben Wangen. Solange ich weiß, wo meine Mutter ist, bin ich in Gefahr. Sind es Mark und Ella gleichfalls. Ich sehe zurück ins Haus, wo Ella in ihrer Wippe eingeschlafen ist. Ich darf sie nicht leiden lassen.
»Es geht nur so.«
Ich zwinge mich zu nicken. Es geht nur so. Aber es wird hart. Für uns alle.