Achtundsechzig

Anna

»Das machst du nicht.«

Laura zog eine Augenbraue hoch. »Was für eine kühne Behauptung von jemandem auf der falschen Seite einer Waffe.« Sie rümpfte die Nase. »Kannst du ihr Schreien nicht abstellen?«

Ich wiege meine Arme von einer Seite zur anderen, aber Ella ist viel zu quengelig, und ich bin zu angespannt, um meine Bewegungen fließender auszuführen, weshalb sie nur noch mehr schreit. Ich lege sie horizontal vor meinen Bauch und hebe mein Oberteil, um sie zu stillen. Im Zimmer wird es wohltuend ruhig.

»Sie ist noch ein Baby.« Ich versuche, an Lauras mütterliche Gefühle zu appellieren, obwohl sie meines Wissens nach nie Kinder wollte. »Was immer du auch vorhast, bitte tu Ella nichts.«

»Aber verstehst du denn nicht? Das ist der einzige Weg. Du und Ella müsst als Erste sterben. Caroline muss euch umbringen.«

Irgendwo im Haus ist ein dumpfes Klopfen zu hören.

»Nein!« Meine Mutter ist bisher stumm geblieben, und ihr plötzlicher Ausruf erschrickt Ella. »Das werde ich nicht.« Sie sieht mich an. »Ganz bestimmt nicht. Sie kann mich nicht zwingen.«

»Das muss ich auch nicht. Ich habe die Waffe.« Laura hält sie in die Höhe. Immer noch ist der Glitzerstoff ihres Ärmels um ihre Finger gewickelt. »Und da sind deine Fingerabdrücke drauf.« Langsam geht sie auf meine Mutter zu, richtet die Waffe direkt auf sie. Ich blicke zur Tür, überlege, ob ich es schaffen könnte. »Keiner wird je wissen, dass sie nicht die ganze Zeit in deiner Hand war.«

»Damit kommst du nicht durch.«

Wieder zieht sie eine perfekt gezupfte Braue hoch. »Das werden wir wohl nur auf eine Weise erfahren, nicht?«

In meinen Ohren dröhnt es, während Ella gierig trinkt.

»Zufällig habe ich eine eigene Versicherung.« Sie lächelt.

»Sollte die Polizei Verdacht schöpfen, muss ich nur in die richtige Richtung zeigen. Ich werde mich daran erinnern, dass ich euch beide über Toms Lebensversicherung reden hörte und ihr schlagartig verstummt seid, als ihr mich kommen saht. Dass ihr beide das von Anfang an gemeinsam durchgezogen habt.«

»Sie werden dir nie glauben.« Da sind mehr Geräusche irgendwo im Gebäude. Ich lausche auf das »Ping« des Aufzugs, aber dies klingt anders. Irgendwie rhythmisch.

»Und wenn sie ein bisschen gründlicher nachforschen, werden sie entdecken, dass das Handy, von dem Toms Selbstmord gemeldet wurde, in Brighton gekauft worden ist von …« Um des Effekts willen legt sie eine Pause ein. »Von keiner Geringeren als Anna Johnson.«

Das rhythmische Geräusch wird lauter. Schneller. Ich muss Zeit schinden. »Ich habe uns immer als Familie gesehen.« Langsam bewege ich mich durch den Raum, bis ich neben meiner Mutter stehe. Laura gegenüber.

»Die arme Verwandte, nehme ich an.« Ich weiß, was das für ein Geräusch ist.

Laura ist ganz von ihrem Zorn eingenommen, entlädt dreiunddreißig Jahre Verbitterung. »Für dich war das alles normal, nicht? Großes Haus, Klamottengeld, jeden Winter Skifahren.«

Das Geräusch ist das von Füßen, die Treppen hinauflaufen. Polizeistiefel. Zwei Stockwerke tiefer werden sie leiser, kriechen nur noch voran.

Laura sieht zur Tür.

Ich beginne zu zittern. Meine Mutter hat die Waffe gekauft; sie war es, die Ella und mich herbrachte. Die Dad ermordete und seine Leiche versteckte. Sie wissen nicht mal, dass Laura irgendwas damit zu tun hatte. Warum sollten sie ihr die Geschichte nicht glauben? Sie wird mit allem davonkommen …

»Das ist nicht meine Schuld, Laura. Und erst recht nicht Ellas.«

»Genau wie es nicht meine Schuld war, mit einer kranken Mutter auf Stütze in einer feuchten Wohnung zu leben.«

Vor der Tür ist ein sehr leises Geräusch zu hören.

Lauras Hand bewegt sich. Nur ganz wenig. Ihr Finger krümmt sich um den Abzug. Sie ist blass, und ich sehe, wie sie schluckt. Auch sie hat Angst. Wir alle haben Angst.

Tu es nicht, Laura.

Ich horche angestrengt und höre ein Scharren von Füßen vor der Tür. Werden sie hereinstürmen, so wie sie es in Filmen immer tun? Erst schießen, dann Fragen stellen? Adrenalin rauscht durch meinen Kreislauf, und während Ella den Kopf zurückzieht, spannt sich mein ganzer Körper an.

Meine Mutter atmet schwer. Sie ist in die Ecke getrieben, kann nirgends mehr hin, keine Lügen mehr erzählen. Langsam bewegt sie sich rückwärts von Laura und mir weg.

»Was hast du jetzt vor? Bleib, wo du bist!«

Meine Mutter sieht zu dem ungeschützten Balkon hinter sich, von dem es sieben Stockwerke in die Tiefe geht. Sie blickt mich mit einem Ausdruck an, der um Vergebung fleht. Mein Kopf füllt sich mit Bildern, wie im Film sehe ich Szenen meiner Kindheit: Mum, die mir vorliest; Dad, der mir Fahrradfahren beibringt; Mum beim Abendessen, die zu laut und zu lange lacht; die unten im Haus herumbrüllt; Dad, der zurückbrüllt.

Worauf wartet die Polizei?

Ein Kaninchen vor meiner Haustür; ein Stein, der durchs Fenster fliegt. Mum, die Ella in den Armen hält. Die mich umarmt.

Plötzlich weiß ich, was sie denkt, was sie vorhat.

»Mum, nein!«

Sie geht weiter. Sehr langsam. Aus der Wohnung nebenan ist lautes Rufen zu hören; die Partygäste beim Countdown bis Mitternacht. Laura sieht hektisch von der Tür zu meiner Mutter und wieder zurück, ist abgelenkt von dem Rufen, weiß nicht, was sie tun, wohin sie sehen soll.

»Zehn! Neun! Acht!«

Ich folge meiner Mutter auf den Balkon. Sie weiß, dass es vorbei ist. Dass sie für das, was sie getan hat, ins Gefängnis gehen wird. Ich denke daran, wie es sich anfühlen wird, meine Mutter ein zweites Mal zu verlieren.

»Sieben! Sechs!«

Da ist ein dumpfer Knall von etwas Schwerem auf dem Korridor.

Laura richtet die Waffe erneut aus, zielt direkt auf mich. Ihr Finger bewegt sich zum Abzug. Hinter mir weint meine Mutter. Der Wind pfeift über den Balkon.

»Fünf! Vier! Drei!« Das Johlen von nebenan wird lauter.

Um uns herum ist Feuerwerk, mehr Jubel, mehr Musik.

»Nicht schießen!«, schreie ich, so laut ich kann.

Das Geräusch ist außergewöhnlich. Tausend Dezibel. Mehr. Die Tür fliegt aus den Angeln und kracht zu Boden, und hunderte Polizisten rennen über sie hinweg. Lärm – so viel Lärm – von ihnen, von uns und …

»Die Waffe runter!«

Laura weicht in die Zimmerecke zurück, immer noch mit der Waffe in der Hand. Die Füße meiner Mutter streifen das zerbrochene Glas an der Balkonkante. Ihr Rocksaum flattert.

Und dann ist sie weg.

Ich schreie – immer weiter, bis ich nicht mehr weiß, ob es nur in meinem Kopf ist oder alle anderen es auch hören. Ihr Rock bläht sich unordentlich, wie ein versagender Fallschirm, und sie dreht sich immer wieder im Fall. Feuerwerk explodiert über uns, füllt den Himmel mit goldenem und silbernem Funkenregen.

Ein Police Officer ist neben mir, spricht Worte, die ich nicht verstehen kann, sieht besorgt aus. Er legt eine Decke um mich und Ella, drückt eine Hand auf meinen Rücken und führt mich nach drinnen, lässt mich nicht innehalten, als wir durch die Wohnung und hinaus auf den Korridor gehen. Trotzdem sehe ich Laura auf dem Boden liegen und einen anderen Police Officer neben ihr knien. Ich weiß nicht, ob sie noch lebt, und ich habe keine Ahnung, ob es mich überhaupt interessiert.

In dem Krankenwagen kann ich nicht aufhören zu zittern. Die Sanitäterin ist freundlich und routiniert, hat blondes, zu zwei dicken Zöpfen geflochtenes Haar. Sie gibt mir eine Spritze in den Arm, und Sekunden später fühle ich mich, als hätte ich eine ganze Flasche Wein getrunken.

»Ich stille«, sage ich zu spät.

»Sie nützen ihr nichts, wenn Sie eine Panikattacke haben. Lieber ist sie ein bisschen schläfrig als hyperaktiv von Secondhand-Adrenalin.«

Scheppernd wird die hintere Tür des Krankenwagens geöffnet. Ich glaube, den Officer mit der Decke wiederzuerkennen, aber das Beruhigungsmittel benebelt mich, und alle Uniformierten sehen gleich aus.

»Besuch«, sagt er und tritt zur Seite.

»Sie wollten uns nicht durch die Absperrung lassen.« Mark klettert in den Wagen und fällt halb auf die Liege neben mir.

»Keiner wollte uns sagen, was los ist. Ich hatte solche Angst, dass ihr …« Er bricht ab, ehe seine Stimme versagt, und legt stattdessen die Arme um Ella und mich. Sie schläft, und ich frage mich mal wieder, wovon Babys träumen und ob sie jemals Albträume von dem haben wird, was heute Nacht geschehen ist.

»Warst du im Krieg, Annie?« Billy versucht zu grinsen, was ihm gründlich misslingt. Sorgenfalten haben sich in sein Gesicht gegraben.

»Laura …«, beginne ich, aber mein Kopf ist zu schwer und meine Zunge zu groß für meinen Mund.

»Ich habe ihr etwas gegen den Schock gegeben«, höre ich die Sanitäterin sagen. »Sie wird sich eine Weile sehr groggy fühlen.«

»Wissen wir«, sagt Billy zu mir. »Als Mark die Party absagte, erzählte er mir, was passiert war. Von Carolines Cousine und ihrem gewalttätigen Ex. Das gefiel mir nicht. Caroline hat nie eine Cousine Angela erwähnt, und dann musste ich an den Shogun denken, den Laura sich geliehen hat …«

Vor wenigen Stunden erst habe ich über Ellas Kindersitz gelegen. Habe mich geduckt, weil ich Angst hatte, gesehen zu werden. Es ist, als würde ich mich an einen Film oder eine Geschichte erinnern, die jemand anderem widerfahren ist. Ich kann die Angst nicht nachvollziehen, die ich empfunden habe, und frage mich, ob es nur das Medikament ist, das alles so unwirklich macht. Ich hoffe nicht.

»Ich habe Billy abgeholt, und wir sind so schnell wie möglich hergekommen.«

Etwas zwischen ihnen ist anders – keine Spannung mehr, keine verbalen Schlagabtausche. Aber ich bin zu müde, um ernsthaft darüber nachzudenken, und jetzt bugsieren die Sanitäter die beiden freundlich nach draußen, legen mich auf die Trage und schnallen auch Ella fest. Ich schließe die Augen, gebe der Müdigkeit nach.

Es ist vorbei.