Siebenundvierzig
Murray
Nisha unterhielt sich noch mit Sarah, als Murray zurückkam.
»Das hat ja nicht lange gedauert.«
»Sie war nicht unbedingt gastfreundlich.« Murray versuchte noch zu ergründen, was an der Situation in Annas Küche nicht gestimmt hatte. Sie war schreckhaft gewesen, ja, aber da war noch etwas anderes.
»Hast du sie auf den Kopf zu gefragt?«
Murray verneinte stumm. »Momentan wissen wir nicht, ob sie erst kürzlich erfahren hat, dass ihre Eltern leben, oder ob sie es von Anfang an wusste. Falls sie eine Komplizin ist, muss sie offiziell vernommen werden, nicht von einem Expolizisten in ihrer Küche befragt.«
Nisha stand auf. »Ich würde ja gerne bleiben, aber Gill schickt einen Suchtrupp los, wenn ich nicht bald zu Hause bin. Wir wollen später noch weg. Sag mir Bescheid, wenn sich irgendwas ergibt, ja?«
Murray brachte sie zur Tür und wartete draußen mit ihr, als sie in den Untiefen ihrer Tasche nach den Autoschlüsseln suchte.
»Sarah scheint es gut zu gehen.«
»Du weißt ja, wie es ist: zwei Schritte vor, einer zurück.
Manchmal auch andersrum. Aber ja, heute ist ein guter Tag.« Er blickte Nisha nach, als sie wegfuhr, und winkte noch einmal, ehe sie um die Ecke bog.
Drinnen hatte Sarah Carolines Kontoauszüge ausgebreitet. Sie waren schon nach dem angeblichen Selbstmord überprüft worden, und eine Notiz in der Akte besagte, dass sie keinerlei relevante Informationen ergeben hatten. Es hatte keine großen Auszahlungen oder Überweisungen vor dem vermeintlichen Suizid gegeben, keine Auslandsgeschäfte, die auf eine geplante Flucht hindeuten könnten. Sarah bewegte ihren Finger an den Zahlenreihen entlang, und Murray setzte sich mit Carolines Terminkalender aufs Sofa.
Er markierte die Zeit zwischen Toms Verschwinden und Carolines mit Haftnotizen. Hatte sich das Paar verabredet? Irgendwelche Vorbereitungen getroffen? Murray durchsuchte die Seiten nach verschlüsselten Einträgen, fand jedoch nur Termine, Listen von zu erledigenden Dingen und gekritzelte Erinnerungen wie Milch kaufen oder Anwalt anrufen.
»Hundert Pfund sind eine ziemlich hohe Abhebung an einem Geldautomaten, meinst du nicht?«
Murray blickte auf. Sarah fuhr mit einem neonpinken Marker über einen Auszug. Dann wanderte sie mit dem Stift ein paar Zentimeter tiefer und markierte sorgfältig eine zweite Zeile.
»Für manche Menschen nicht.«
»Aber jede Woche?«
Interessant. »Haushaltsgeld?« Es war ein bisschen altmodisch, aber einige Leute wirtschafteten bis heute so, nahm Murray an.
»Ihre Ausgaben sind sonst viel willkürlicher. Sieh mal, sie bezahlt dauernd mit Karte – bei Sainsbury’s, beim Co-op, an der Tankstelle. Und bei ihren anderen Abhebungen ist kein Muster zu erkennen. Mal zwanzig Pfund, mal dreißig. Aber zusätzlich, alle sieben Tage im August, hat sie hundert Pfund abgehoben.«
Murrays Puls beschleunigte sich. Es könnte nichts sein.
Doch es könnte auch etwas bedeuten.
»Wie sieht es den Monat danach aus?«
Sarah suchte die September-Auszüge heraus. Auch da fanden sich zwischen sonstigen Abhebungen und Kartenzahlungen wöchentliche Bargeldauszahlungen am Automaten, nun über jeweils hundertfünfzig Pfund.
»Und im Oktober?«
»Wieder hundertfünfzig … Nein, warte – in der zweiten Monatshälfte sind es mehr. Zweihundert.« Sarah blätterte durch die Papiere vor sich. »Und jetzt dreihundert. Von Mitte November bis zu dem Tag, bevor sie verschwand.« Sie zog die Spitze des Markers über die letzten Zeilen und gab Murray den Stapel Auszüge. »Sie hat jemanden bezahlt.«
»Oder jemanden bestochen.«
»Anna?«
Murray schüttelte den Kopf. Er dachte an die Notrufe, die von Oak View aus gemacht wurden; an die Berichtnotizen, in denen Caroline Johnson als »emotional« beschrieben wurde, gefolgt von dem Vermerk über einen lautstarken Ehestreit, den der direkte Nachbarn gemeldet hatte, Robert Drake.
Die Ehe der Johnsons war recht bewegt gewesen. Womöglich sogar gewalttätig.
Seit Murray klar geworden war, dass die Johnsons ihren Tod vorgetäuscht hatten, hielt er Caroline für die Hauptverdächtige. Aber war sie vielleicht auch ein Opfer?
»Ich denke, Caroline wurde erpresst.«
»Von Tom? Weil sie seine Lebensversicherung kassiert hatte?«
Murray antwortete nicht. Er versuchte nach wie vor, die verschiedenen Möglichkeiten durchzuspielen. Wenn Tom seine Frau erpresst hatte und sie bezahlte, musste sie Angst haben.
Genug Angst, dass sie ihren eigenen Tod vortäuschte, um zu entkommen?
Murray nahm ihren Terminkalender wieder auf. Er hatte ihn schon mehrmals durchgesehen, aber da hatte er nach Hinweisen gesucht, warum Caroline am Beachy Head gewesen war, nicht, wohin sie von dort aus vielleicht gegangen war. Er ging die Faltblätter, Visitenkarten und Zettel hinten in dem Buch durch, hoffte auf eine Quittung, einen Zugfahrplan, eine notierte Adresse. Da war nichts.
»Wohin würdest du gehen, wenn du verschwinden wolltest?«
Sarah überlegte. »An irgendeinen Ort, den ich kenne, an dem mich aber niemand kennt. Wo ich mich mal sicher gefühlt habe. Vielleicht ein Ort, an dem ich vor sehr langer Zeit schon mal war.«
Murrays Handy vibrierte.
»Hi, Sean. Was kann ich für dich tun?«
»Es ist wohl eher so, dass ich etwas für dich tun kann. Ich habe die Ergebnisse von der IMEI-Inverssuche nach deinem Apparat.«
»Und die verrät uns was genau?«
Sean lachte. »Als du mir den Fall gebracht hast, habe ich nachgefragt, bei welchen Netzwerkbetreibern diese SIM-Karte benutzt wurde, nicht wahr?«
»Stimmt. Und du hast sie zurückverfolgt zu Fones4All in Brighton.«
»Okay, also dasselbe funktioniert auch umgekehrt, dauert nur ein bisschen länger. Ich habe bei den Netzwerkbetreibern angefragt, ob das Gerät irgendwann nach dem Zeugenanruf von Beachy Head in ihrem System aufgetaucht ist.« Er machte eine Pause. »Und das ist es.«
Murray merkte auf.
»Was ist?«, fragte Sarah stumm, aber er konnte nicht antworten, weil er Sean zuhörte.
»Der Täter hat eine neue SIM-Karte eingelegt, und die taucht im Frühjahr bei Vodaphone auf.«
»Ich nehme nicht an …«
»Dass ich weiß, welche Anrufe gemacht wurden? Also wirklich, Murray, du solltest mich besser kennen. Hast du was zu schreiben? Ein paar Handynummern und ein Festnetzanschluss, die dir sagen könnten, wer der Mann ist …«
Oder die Frau, dachte Murray. Er schrieb die Nummern mit und versuchte, sich nicht von Sarah ablenken zu lassen, die wild mit den Armen fuchtelte und wissen wollte, was ihn so aufgeregt machte. »Danke, Sean, du hast was gut bei mir.«
»Und ob ich das habe!«
Sie beendeten das Telefonat, und Murray berichtete Sarah grinsend, was ihm der IT-Ermittler erzählt hatte. Er drehte sein Notizbuch um, damit Sarah die Nummern sehen konnte, und malte einen Stern neben die des Festnetzanschlusses.
»Möchtest du?«
Dann war es an Murray zu warten, solange Sarah mit einer unverständlichen Stimme am anderen Ende sprach. Als sie fertig war, hob er die Hände.
»Und?«
»Our Lady’s Preparatory«, sagte sie im näselnden Oberschichtston.
»Eine Privatschule?« Was hatte ein Nobelinternat mit Tom und Caroline Johnson zu tun? Murray fragte sich, ob sie in eine Sackgasse liefen. Der falsche Zeugennotruf, vermeintlich von Diane Brent-Taylor, war im letzten Mai gewesen, zehn Monate bevor das Handy mit einer anderen SIM-Karte erneut benutzt wurde. In der Zwischenzeit könnte es durch unzählige Hände gewandert sein. »Wo ist die Schule?«
»In Derbyshire.«
Murray dachte einen Moment nach. Er drehte den Terminkalender in seiner Hand hin und her und erinnerte sich an das Foto, das aus dem Buch gefallen war, als Anna Johnson es ihm gab: eine jugendliche Caroline im Urlaub mit einer alten Schulfreundin.
Meine Mutter sagte, sie hätten eine wunderbare Zeit gehabt.
Sie hatten in einem Pub-Garten gesessen, und auf dem Schild über ihnen war ein Pferdefuhrwerk zu sehen gewesen.
So weit weg vom Meer, wie man nur sein kann.
Murray öffnete den Browser auf seinem Handy und googelte »Pferdewagen Pubs UK«. Mist, das waren zig Seiten! Er versuchte es anders und gab ein »am weitesten vom Meer entfernter Ort in UK«.
Coton in the Elms, Derbyshire.
Davon hatte Murray nie gehört. Aber eine letzte Google-Suche – »Pferdewagen Derbyshire« – lieferte ihm, was er wollte. Der Pub war zwar seit dem Foto aufgemotzt worden und hatte ein neues Schild mitsamt bepflanztem Hängekorb bekommen, war aber ohne Zweifel derselbe, in dem Caroline und ihre Freundin vor vielen Jahren gewesen waren.
Luxury B&B … bestes Frühstück im Peak District … freies WLAN …
Murray sah Sarah an. »Lust auf einen Ausflug?«