Zehn

Anna

Ich bemerke, wie Laura auf ihre Uhr sieht. Sie hat sich durch einen Stapel Papiere gearbeitet und die Hälfte auf einen Haufen für den Shredder sortiert. Das macht mich unruhig. Alles, was mit dem Geschäft zu tun hat, müsste im Autohaus sein, doch was ist, wenn sie versehentlich etwas Wichtiges vernichtet? Ich gehöre zur Geschäftsleitung – wenn auch eher passiv. Aber ich darf keine Papiere wegwerfen, ohne sie mir vorher angesehen zu haben.

Laura scheint meinen Blick zu fühlen, denn sie schaut auf.

»Alles in Ordnung?«

»Du solltest Schluss machen. Mark kommt bald nach Hause.«

»Ich habe ihm versprochen, dass ich bleibe, bis er hier ist.« Sie legt noch einen Schwung Papiere auf den Shredder-Stapel.

»Sag einfach, ich wär schuld. Ich kann nicht mehr.« Ich richte mich auf und halte Laura eine Hand hin, um ihr aufzuhelfen.

»Wir sind hier noch nicht fertig.«

»Aber wir haben eine Menge geschafft. Wir sind fast durch.« Das ist eine maßlose Übertreibung. Lauras Stapel mit »Aufbewahren« und »Wegwerfen« sind teils ineinandergerutscht, und ich bin nicht mehr sicher, ob ich ein riesiges Knäuel Gummibänder aus rein sentimentalen Gründen behalten will, weil sie praktisch sind oder weil sie von einem Haufen auf den anderen gekullert sind.

»Es ist ein Chaos!«

»Das lässt sich leicht lösen.« Ich nehme Ella hoch, scheuche Laura aus dem Zimmer und schließe die Tür hinter uns. »Tadah!«

»Anna! Ich dachte, wir wären uns einig, dass man so nichts löst.«

Du warst es, denke ich und komme mir sofort gemein vor. Es war meine Idee gewesen, die Papiere meiner Eltern durchzusehen. Ich war es, die Laura um Hilfe gebeten hatte. »Ich höre jetzt aber nicht deswegen auf, weil es deprimierend ist, sondern weil ich keine Lust mehr habe. Das ist etwas ganz anderes.«

Laura sieht mich skeptisch an, mein Tonfall überzeugt sie nicht. »Was willst du wegen der Karte machen?«

»Du hast wahrscheinlich recht. Das war irgendein kranker Witzbold, der noch ein Hühnchen mit uns zu rupfen hat.«

»Genau.« Sie ist immer noch nicht sicher, ob sie mich allein lassen soll.

»Mir geht es gut, versprochen. Ich rufe dich morgen an.« Ich hole ihren Mantel und warte geduldig, während sie nach ihren Schlüsseln sucht.

»Wenn du wirklich meinst …«

»Ja, meine ich.« Wir umarmen uns, und ich bleibe an der Tür stehen, als sie zu ihrem Wagen geht. Sicherheitshalber halte ich Rita an ihrem Halsband fest, damit sie keinen Phantom-Eichhörnchen nachjagt.

Lauras Wagen röchelt und verstummt. Sie verzieht das Gesicht. Dann versucht sie es wieder, lässt den Motor laut aufheulen, bevor er wieder ausgeht, und setzt rückwärts aus der Einfahrt. Sie winkt aus dem offenen Seitenfenster.

Als ich ihren Wagen nicht mehr hören kann, kehre ich ins Arbeitszimmer zurück. Ich betrachte die Papierstapel, die Geburtstagskarten, die Stifte, die Büroklammern und die Haftnotizen. Hier finden sich keine Antworten; nur Erinnerungen.

Erinnerungen, die ich behalten möchte.

Ich hebe den Deckel von einem Karton mit Fotos und krame darin. Oben sind sechs oder sieben Fotos von Mum und Alicia, Lauras Mum. Auf einem sind sie in einem sonnigen Pub-Garten, auf einem anderen in einem Café beim Cream Tea. Eine dritte Aufnahme ist schief geraten, als hätte die Kamera irgendwo gelehnt und wäre zur Seite gerutscht. Mum und Alicia bäuchlings auf einem Bett, Laura zwischen ihnen. Sie ist vielleicht zwei Jahre alt, folglich waren Mum und Alicia erst achtzehn. Selbst noch Kinder.

Es sind Dutzende weitere Fotos in dem Karton, aber alle – soweit ich es sehen kann – von meinem Vater, dem Autohaus und mir als Baby.

Ich habe haufenweise Fotos von meinem Vater, doch kaum welche von meiner Mutter. Sie war immer hinter der Kamera, nie davor – wie so viele Frauen mit Familie. So erpicht, das Leben der Kinder zu dokumentieren, bevor sie zu groß sind, dass ihnen gar nicht der Gedanke kommt, ihr eigenes festzuhalten. Oder dass ihre Kinder später mal Fotos aus einer Zeit sehen möchten, an die sie sich nicht erinnern, weil sie zu klein waren.

In der kurzen Zeit zwischen dem Verschwinden meiner Mutter und der Feststellung, dass sie Selbstmord begangen hatte, gab ich der Polizei das einzig gute Foto, das ich von ihr hatte. Es stand in einem silbernen Rahmen auf dem Kaminsims im Wohnzimmer. Sie verteilten es umgehend an alle Dienststellen, und als die Nachricht von ihrem Tod bekannt wurde, benutzte die Presse dasselbe Foto für ihre Artikel. Die Polizei händigte mir das gerahmte Bild wieder aus, doch jedes Mal, wenn ich es ansah, erscheinen vor meinem inneren Auge die Schlagzeilen. Schließlich musste ich es wegpacken.

Mit Ausnahme ihres Hochzeitsfotos stehen keine Bilder von meiner Mutter im Haus. Und selbst auf dem ist sie kaum zu erkennen, weil sie einen dieser großen Schlapphüte trägt, die damals supermodern waren. Ich lege also eins von ihr und Alicia zur Seite und nehme mir vor, zwei Abzüge rahmen zu lassen.

Dann schlage ich den Kalender von 2016 auf. Es ist ein dickes A4-Buch mit zwei Seiten für jeden Tag: Termine auf der linken Seite, Platz für Notizen auf der rechten. Der Kalender ist nichts Besonderes – ein Firmengeschenk von einem Autohersteller –, doch ich fahre mit den Fingern über das goldgeprägte Logo und fühle das Gewicht der Seiten, als sie in meinen Händen auffallen. Der Kalender ist gefüllt mit der Handschrift meiner Mutter, und die Worte sind fast nicht zu entziffern, bis ich fest blinzle und sie aufhören zu verschwimmen. Jeder Tag ist voll. Treffen mit Lieferanten, Besuche von Technikern, um den Kopierer, die Kaffeemaschine oder den Wasserkühler zu reparieren. Auf der rechten Seite die To-do-Liste des jeweiligen Tages, auf der jeder erledigte Eintrag säuberlich durchgestrichen wurde. Müde macht uns die Arbeit, die wir liegenlassen, nicht die, die wir tun, heißt es nicht so? Meine Mutter hätte gar nicht besser in ihr Leben passen können, und ich habe nie gehört, dass sie sich über zu viel Arbeit beschwerte. Als ihre eigene Mutter – eine mürrische Frau, die ihre Zuneigung rationierte wie Zucker in Kriegszeiten – ins Hospiz kam, fuhr meine Mutter täglich von Eastbourne nach Essex und blieb bei ihr, bis meine Großmutter schlief. Erst hinterher erfuhren mein Vater und ich von dem Knoten, den meine Mutter in ihrer eigenen Brust gefunden hatte, und von ihrer Angst, während sie auf die Entwarnung wartete.

»Ihr solltet euch keine Sorgen machen« war alles, was sie sagte.

Die Mischung aus Arbeit und Privatem in dem Kalender überraschte mich. Adele-Tickets für A.s Geburtstag? steht eingeklemmt zwischen einer Erinnerung, Katie Clemens wegen einer Probefahrt zurückzurufen, und der Telefonnummer des hiesigen Radiosenders. Ich drücke die Handballen auf meine Augen. Hätte ich die Sachen doch nur früher durchgesehen! Ich wünschte, ich hätte an meinem Geburtstag gewusst, was sie als Geschenk für mich geplant hatte.

Unweigerlich blättere ich zum 21. Dezember, dem Tag, an dem sie starb. Dort sind zwei Termine vermerkt und eine Liste von Aufgaben, die nie erledigt wurden. Hinten in dem Kalender stecken eine Handvoll Visitenkarten, Faltblätter und gekritzelte Notizen. Der Kalender ist ein Querschnitt ihres Lebens, so erhellend wie eine Autobiografie und so persönlich wie ein Tagebuch. Ich schiebe die Fotos hinein und drücke das Buch für einen Moment an meine Brust, ehe ich anfange, alles an seinen Platz zurückzuräumen.

Dann stelle ich den Stifteköcher und den Briefbeschwerer wieder hin, den ich in der Grundschule getöpfert und angemalt hatte. Früher war er auf dem Küchenbüffet, wo er all die vielen Benachrichtigungen aus der Schule unten hielt.

Versonnen fahre ich mit einem Finger über den geklebten Riss, wo er entzweigebrochen war, und plötzlich erinnere ich mich an den Knall, mit dem er an die Wand flog.

Es gab Entschuldigungen.

Tränen. Von mir. Von meiner Mutter.

»So gut wie neu«, sagte mein Vater, als der Kleber getrocknet war. Doch das stimmte natürlich nicht, und ebenso wenig galt das für die Wand, an der er die Delle ausgebessert und mit einer Farbe übermalt hatte, die nicht ganz zu der alten passte. Tagelang hatte ich nicht mit ihm gesprochen.

Ich ziehe die unterste Schreibtischschublade wieder heraus und hole die Wodkaflasche hervor. Sie ist leer. Das sind die meisten. Sie sind überall: hinten im Kleiderschrank, im Toilettenspülkasten, in ein Handtuch gewickelt ganz unten im Wäscheschrank. Ich finde sie, schütte den Inhalt weg und stecke die leeren Flaschen ganz unten in die Recyclingtonne.

Falls es schon Flaschen gegeben hatte, bevor ich an die Uni ging, waren sie besser versteckt gewesen. Oder ich sah sie schlicht nicht. Nach dem Studium kehrte ich in ein Leben zurück, das sich während meiner Abwesenheit verändert hatte. Tranken meine Eltern mehr, oder hatte mir eine Welt jenseits des engen Radius meiner Kindheit die Augen geöffnet? Nachdem ich die erste Flasche gefunden hatte, schienen Hunderte da zu sein – wie wenn man ein Wort neu lernt und es auf einmal überall sieht.

Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Jemand geht über dein Grab, sagte meine Mutter früher immer. Draußen ist es dunkel, doch ich nehme eine flüchtige Bewegung im Garten wahr. Mein Herz pocht, aber als ich richtig hinsehe, starrt mir nur mein eigenes blasses Gesicht entgegen, verzerrt von dem alten Glas.

Ein Geräusch draußen lässt mich zusammenzucken. Reiß dich zusammen, Anna.

Es liegt an diesem Zimmer. Hier wimmelt es von Erinnerungen, und es sind nicht nur gute. Das macht mich schreckhaft. Ich bilde mir Sachen ein. Eine Geistergestalt am Fenster, Schritte draußen.

Aber halt: Ich höre Schritte …

Langsam und vorsichtig, als wollte derjenige nicht gehört werden. Ein leises Knirschen von Kies.

Es ist jemand vor dem Haus.

Oben brennt kein Licht, und hier unten ist nur die Schreibtischlampe an, so dass das Haus von draußen fast dunkel wirkt.

Könnte es ein Einbrecher sein? In dieser Straße sind lauter teure Häuser, vollgestopft mit Antiquitäten und Gemälden, die gleichermaßen als Geldanlage wie zum Angeben dienen. Als das Geschäft Fahrt aufnahm, gaben meine Eltern ihr Geld für schöne Dinge aus, von denen viele leicht durch die Fenster unten zu sehen sind. Vielleicht war vorhin jemand hier, als Ella und ich bei der Polizei waren, und hat beschlossen, im Schutz der Dunkelheit wiederzukommen. Vielleicht – vor Angst habe ich einen festen Kloß im Hals – haben sie das Haus schon seit einer Weile im Visier. Den ganzen Tag war ich das Gefühl nicht losgeworden, beobachtet zu werden, und jetzt frage ich mich, ob mein Instinkt recht behält.

Als Kind konnte ich den Code für die Alarmanlage noch vor unserer Telefonnummer auswendig, aber seit Marks Einzug benutzen wir sie nicht mehr. Er war es nicht gewohnt, in einem Haus mit Alarmanlage zu leben, und löste jedes Mal den Alarm aus, wenn er heimkam, um dann fluchend nach dem Schaltbrett zu suchen.

»Rita reicht doch sicher als Abschreckung, meinst du nicht?«, hat er gefragt, nachdem er dem Sicherheitsdienst ein weiteres Mal erklärt hatte, dass es wieder falscher Alarm gewesen war. Ich habe es mir irgendwann abgewöhnt, sie scharf zu stellen, und jetzt, da ich den ganzen Tag mit Ella zu Hause bin, kommt sie gar nicht mehr zum Einsatz.

Ich überlege, sie jetzt einzuschalten, nur weiß ich, dass ich sie im Dunkeln nicht aktivieren könnte, und der Gedanke, dort an der Haustür zu stehen, während jemand einzubrechen versucht, macht mir eine Gänsehaut.

Ich sollte Ella nach oben bringen. Dort könnte ich die Kommode in ihrem Zimmer vor die Tür schieben. Hier unten dürfen sie stehlen, was sie wollen. Das spielt keine Rolle. Im Geiste versuche ich, das Wohnzimmer mit objektivem Blick einzuschätzen, und frage mich, worauf sie aus sein könnten.

Der Fernseher, vermute ich, und die offensichtlichen Dinge wie die silberne Bowlenschale, die meiner Urgroßmutter gehörte und in der jetzt Usambaraveilchen stehen. Auf dem Kaminsims sind zwei Porzellanvögel, die ich meinen Eltern zu ihrem Hochzeitstag geschenkt habe. Sie sind nicht wertvoll, sehen jedoch aus, als könnten sie es sein. Soll ich die mit nach oben nehmen? Und falls ja, was sonst noch? In diesem Haus gibt es so viele Andenken; so vieles, um das ich trauern würde. Unmöglich kann ich das alles nach oben schleppen.

Es ist schwer auszumachen, woher genau die Schritte kommen. Das leise Knirschen auf dem Kies wird lauter, als sei derjenige zunächst auf eine Seite des Hauses gegangen und ginge jetzt zur anderen. Ich greife nach meinem Handy, das neben dem Babyfon liegt. Soll ich die Polizei anrufen? Einen Nachbarn?

Ich scrolle durch die Nummern, bis ich die von Robert Drake gefunden habe. Zunächst zögere ich, möchte ihn nicht anrufen, obwohl mir klar ist, dass es sinnvoll wäre. Er ist Chirurg, wird also in Krisensituationen gut sein, und wenn er zu Hause ist, kann er kurz hinübersehen oder einfach seine Außenbeleuchtung einschalten und so jeden verschrecken, der da draußen sein mag …

Sein Telefon ist ausgeschaltet.

Das Kiesknirschen wird lauter, konkurriert mit dem Pulsrauschen in meinen Ohren. Ich höre ein Schleifen. Eine Leiter?

Seitlich vom Haus, zwischen der Kieseinfahrt und dem Garten hinten, ist ein schmaler Streifen mit einem Schuppen und einem Kaminholz-Unterstand. Ich höre einen dumpfen Knall, der von der Schuppentür kommen könnte. Mein Herz beginnt zu rasen. Ich denke an die anonyme Karte, an meine Eile, sie zur Polizei zu bringen. War das falsch? War die Karte als Warnung gedacht – dass das, was meiner Mutter passiert war, auch mir geschehen könnte?

Vielleicht ist da draußen kein Einbrecher.

Vielleicht will derjenige, der meine Mutter tot sehen wollte, auch mich töten.