Fünf
Murray
Murray Mackenzie schwenkte einen Teebeutel in einem Styroporbecher.
»Milch?« Er öffnete den Kühlschrank und schnupperte hintereinander an drei Milchtüten, bis er eine fand, die er guten Gewissens einer Zivilistin in Not anbieten konnte. Und Anna Johnson war zweifelsfrei in Not. Sie weinte nicht, doch Murray war sich unangenehm sicher, dass sie das jederzeit könnte. Mit Tränen konnte er gar nicht gut umgehen. Er wusste nie, ob er sie ignorieren sollte oder etwas sagen – oder ob es heutzutage politisch inkorrekt war, ein frisch gebügeltes Taschentuch anzubieten.
Murray hörte ein leises Murmeln, das die Ankündigung eines Schluchzens gewesen sein könnte. Politische Korrektheit hin oder her, falls Mrs Johnson kein Taschentuch hatte, würde er ihr zu Hilfe kommen. Er selbst benutzte keine Stofftaschentücher, hatte aber für solche Gelegenheiten stets eines bei sich, genau wie sein Vater früher. Murray klopfte an seine Tasche, doch als er sich umdrehte – mit dem etwas zu vollen Styroporbecher in einer Hand –, wurde ihm klar, dass das leise Quieken von dem Baby gekommen war, nicht von Mrs Johnson.
Seine Erleichterung war indes nur von kurzer Dauer, denn Anna Johnson hob das Baby schwungvoll aus dem Wagen und legte es sich quer über den Schoß, ehe sie ihr Top hochzog und zu stillen begann. Murray spürte, wie er rot wurde, was ihn umso mehr erröten ließ. Nicht dass er etwas dagegen hatte, dass Frauen ihren Säuglingen die Brust gaben; er wusste bloß nie, wohin er schauen sollte, wenn sie es taten. Einmal hatte er einer Mutter in dem Café über Marks & Spencer verständnisvoll zugelächelt – zumindest hielt er es für verständnisvoll, worauf die Frau ihn empört anfunkelte und sich bedeckte, als wäre er irgendein Perverser.
Nun fixierte er einen Punkt irgendwo oberhalb von Mrs Johnsons linker Augenbraue, während er ihr so formvollendet den Tee hinstellte, als reichte er ihn in edlem Porzellan. »Ich konnte leider keine Kekse finden.«
»Tee ist wunderbar, danke.«
Je älter Murray wurde, desto schlechter wurde er darin, das Alter anderer Leute einzuschätzen. Mittlerweile kam ihm jeder unter vierzig jung vor, doch Anna Johnson war eindeutig noch keine dreißig.
Sie war eine attraktive junge Frau mit leicht gewelltem, mittelblondem Haar, das auf ihren Schultern wippte, wenn sie den Kopf bewegte. Allerdings war sie blass und ihr anzusehen, was es bedeutete, eine junge Mutter zu sein. Dieselben Auswirkungen hatte Murray bei seiner Schwester beobachtet, als seine Neffen klein waren.
Sie saßen in dem kleinen Bereich hinter dem Empfangstresen der Polizeiwache Lower Meads, wo man für Murray und dessen Kollegen eine Kitchenette eingebaut hatte, damit sie hier ihre Mittagspause machen und gleichzeitig im Auge behalten konnten, wer durch die Tür kam. Eigentlich sollten keine Zivilisten auf dieser Seite des Tresens sein, aber auf der Wache war es ruhig; ganze Stunden waren vergangen, ohne dass jemand einen entlaufenen Hund gemeldet oder ein Kautionsformular unterschrieben hatte. Murray hatte zu Hause schon genug Zeit allein mit seinen Gedanken; bei der Arbeit brauchte er nicht auch noch Stille im Überfluss.
Es kam selten vor, dass sich so weit von der Zentrale jemand blicken ließ, dessen Rang höher als der eines Sergeants war, weshalb Murray alle Vorsicht in den Wind geschlagen und Mrs Johnson in den nichtöffentlichen Bereich gebeten hatte. Man musste kein Detective sein, um zu begreifen, dass ein knapper Meter Tresen mit Resopalplatte wenig geeignet war, einer Zeugin ein Gefühl von Entspanntheit zu vermitteln. Nicht dass Mrs Johnson aussah, als würde sie sich jemals entspannt fühlen, wenn man den Grund für ihren Besuch bedachte.
»Ich glaube, dass meine Mutter ermordet wurde«, hatte sie bei ihrer Ankunft verkündet. Beinahe trotzig hatte sie Murray angesehen, als rechnete sie damit, dass er ihr widersprach. Dabei war Murrays Adrenalinspiegel sofort erwartungsvoll angestiegen. Ein Mord. Welcher DI hatte heute Dienst? Oh nein … Detective Inspector Robinson. Es würde kein Spaß, den Jungschnösel mit dem Flaum auf der Oberlippe und circa fünf Minuten Berufserfahrung herbeizurufen. Dann jedoch hatte Anna Johnson erklärt, dass ihre Mutter seit einem Jahr tot war und der Coroner bereits Suizid als Todesursache festgestellt hatte. In dem Moment hatte Murray die Tür seitlich vom Tresen geöffnet und Mrs Johnson hereingebeten. Er vermutete, dass sie eine Weile bräuchten. Ein Hund folgte ihr brav und schien nicht im Mindesten verunsichert von der Umgebung.
Nun griff Anna Johnson umständlich hinter sich und nahm einen kleinen Stapel Papier aus dem Kinderwagen. Bei der Verrenkung rutschte ihr T-Shirt nach oben und enthüllte einige Zentimeter weichen Bauch. Murray hüstelte recht deutlich und starrte gebannt auf den Fußboden, während er sich fragte, wie lange es dauerte, ein Kind zu stillen.
»Heute ist der Todestag meiner Mutter.« Sie sprach laut und mit einer Strenge, die vermutlich dem Versuch geschuldet war, nicht die Fassung zu verlieren. Es ließ ihre Stimme befremdlich kühl klingen und passte nicht zu ihrem ängstlichen Blick. »Dies hier kam mit der Post.« Sie warf Murray das Papierbündel zu.
»Ich hole mir ein paar Handschuhe.«
»Fingerabdrücke! Daran hatte ich nicht gedacht … Habe ich jetzt alle Beweise zerstört?«
»Sehen wir uns erst mal an, was wir hier haben, Mrs Johnson.«
»Genau genommen ist es Miss, aber Anna reicht vollkommen.«
»Anna. Lassen Sie uns sehen, was wir hier haben.« Murray kehrte an seinen Platz zurück und zog sich die Latexhandschuhe mit solcher Routiniertheit über, dass es guttat. Dann legte er eine große Beweismitteltüte zwischen ihnen auf den Tisch und breitete die Papierstücke aus. Es handelte sich um eine Karte, die grob in vier Stücke gerissen worden war.
»So kam sie nicht an. Mein Onkel …« Anna zögerte. »Ich glaube, er war wütend.«
»Der Bruder Ihrer Mutter?«
»Meines Vaters. Billy Johnson. Johnson’s Cars an der Ecke Main Street?«
»Das Autohaus gehört Ihrem Onkel?« Murray hatte seinen Volvo dort gekauft. Er versuchte, sich an den Mann zu erinnern, der ihm den Wagen verkauft hatte, und ihm fiel ein elegant gekleideter Mann ein, der sich das Haar sorgsam über eine kahle Stelle oben gekämmt hatte.
»Es gehörte meinem Großvater. Mein Vater und mein Onkel Billy haben bei ihm ihre Ausbildung gemacht, danach aber in London gearbeitet. Dort haben sich meine Eltern kennengelernt. Als mein Großvater krank wurde, kamen mein Vater und Billy zurück, um ihm zu helfen. Er ging in den Ruhestand, und sie übernahmen das Geschäft.«
»Und jetzt gehört es Ihrem Onkel?«
»Ja. Na ja, und mir, schätze ich. Auch wenn das nicht unbedingt ein Segen ist.«
Murray wartete.
»Das Geschäft läuft momentan nicht so gut.« Sie zuckte mit den Schultern, achtete aber darauf, das Baby in ihren Armen nicht aufzuschrecken. Murray nahm sich vor, später genauer zu überprüfen, wer was von Annas Eltern geerbt hatte. Zunächst wollte er sich die Karte ansehen.
Er trennte die Umschlagteile von der Karte und fügte Letztere zusammen. Dann betrachtete er den festlichen Aufdruck, der in einem grausamen Widerspruch zur anonymen Botschaft im Innern stand.
Selbstmord? Von wegen.
»Haben Sie eine Ahnung, wer Ihnen das geschickt haben könnte?«
Anna schüttelte den Kopf.
»Wie bekannt ist Ihre Adresse?«
»Ich wohne schon mein ganzes Leben im selben Haus. Eastbourne ist eine Kleinstadt, und ich bin nicht schwer zu finden.« Gekonnt verlegte sie das Baby von einer Seite auf die andere. Murray studierte abermals die Karte, bis er glaubte, dass es sicher sei, wieder aufzublicken. »Nachdem mein Vater starb, bekamen wir eine Menge Post. Viele Beileidskarten, viele Briefe von Leuten, die sich an die Autos erinnerten, die er ihnen im Laufe der Jahre verkauft hatte.« Annas Züge verhärteten sich.
»Einige waren nicht nett.«
»Inwiefern?«
»Jemand schrieb, mein Vater würde in der Hölle schmoren, weil er sich das Leben genommen hatte. Ein anderer schrieb,
›Ein Glück, dass er weg ist.‹ Alles anonym natürlich.«
»Das muss unglaublich erschütternd für Sie und Ihre Mutter gewesen sein.«
Annas nochmaliges Achselzucken war nicht überzeugend.
»Irre. Leute, die sauer waren wegen der Wagen, die sie gekauft hatten.« Sie bemerkte Murrays Blick. »Mein Vater hat nie Schrott verkauft. Manchmal erwischt man eben ein Montagsauto, sonst nichts. Aber die Leute wollen immer jemandem die Schuld geben.«
»Haben Sie diese Briefe aufbewahrt? Wir könnten sie mit dieser Karte vergleichen, überprüfen, ob jemand noch einen Groll hegt.«
»Die haben wir sofort weggeschmissen. Meine Mutter starb sechs Monate später, und …« Sie sah Murray an, und ihr Gedankengang brach ab, weil ihr etwas Drängenderes einzufallen schien. »Ich bin hergekommen, weil ich wissen möchte, ob Sie noch einmal im Tod meiner Eltern ermitteln können.«
»Gibt es sonst noch einen Grund, weshalb Sie vermuten, dass Ihre Eltern ermordet wurden?«
»Was wollen Sie denn noch?« Sie zeigte zu der zerfetzten Karte zwischen ihnen.
Beweise, dachte Murray. Er trank einen Schluck von seinem Tee, um Zeit zu schinden. Wenn er dies hier jetzt an DI Robinson übergab, würde der Fall noch heute abgewiesen. Das CID steckte bis zum Hals in Ermittlungen; da bräuchte es mehr als eine anonyme Nachricht, damit sie sich einen Fall neu vornahmen, der längst abgeschlossen war.
»Bitte, Mr Mackenzie, ich muss es genau wissen.« Die Selbstbeherrschung, die Anna Johnson bisher an den Tag gelegt hatte, begann zu bröckeln. »Ich habe nie so recht an den Selbstmord meiner Eltern geglaubt. Sie waren so lebensfroh. So ehrgeizig. Sie hatten große Pläne für das Geschäft.« Das Baby hatte zu Ende getrunken. Anna legte es auf ihr Knie, eine gespreizte Hand unterhalb des Kinns, und rieb ihm kreisend den Rücken.
»Hatte Ihre Mutter auch dort gearbeitet?«
»Sie machte die Buchhaltung und den Empfang.«
»Ein echtes Familienunternehmen.« Murray fand es erfreulich, dass es von denen immer noch welche gab.
Anna nickte. »Als meine Mutter mit mir schwanger war, zogen sie und mein Vater nach Eastbourne, um näher bei meinen Großeltern zu sein. Meinem Großvater ging es nicht so gut, und es dauerte nicht lange, bis mein Vater und Billy alles übernahmen. Und meine Mutter.« Das Baby war nun müde und verdrehte die Augen wie die Betrunkenen am Wochenende in den Ausnüchterungszellen. »Und wenn sie nicht arbeitete, trieb sie Spenden für ihre Tierschutzorganisation ein oder engagierte sich anderweitig.«
»Wofür zum Beispiel?«
Anna lachte kurz. Ihre Augen glänzten. »Alles Mögliche. Amnesty International, Frauenrechte. Sogar für den Erhalt von Buslinien, obwohl ich nicht glaube, dass sie jemals mit einem Bus gefahren ist. Aber wenn sie sich hinter irgendwas klemmte, erreichte sie auch etwas.«
»Hört sich nach einer wunderbaren Frau an«, sagte Murray leise.
»Es gab mal eine Geschichte in den Nachrichten. Das ist Jahre her. Ich war mit meinen Eltern zu Hause, und der Fernseher lief im Hintergrund. Irgendein Jugendlicher hatte sich mit einem Moped von der Klippe in Beachy Head gestürzt. Das Moped hatten sie geborgen, aber nicht die Leiche, und sie zeigten seine Mum im Fernsehen, die weinte, weil sie ihn nicht richtig beerdigen konnte.« Das Baby streckte sich sichtlich unbehaglich, und Anna verlagerte es, klopfte ihm sanft auf den Rücken. »Wir redeten darüber. Ich erinnere mich, dass Mum die Hände vor den Mund hielt, als sie es hörte, und dass Dad wütend auf den Jungen war, weil er seinen Eltern das zumutete.« Sie verstummte und unterbrach das rhythmische Klopfen, um Murray ernst anzusehen. »Sie erkannten, was dieser Junge seiner Mutter antat, und sie hätten mir nie, niemals dasselbe angetan.«
Tränen wallten in Annas Augenwinkeln auf und rannen an ihrer schmalen Nase entlang zu ihrem Kinn. Murray hielt ihr sein Taschentuch hin, und sie nahm es dankbar an. Dann presste sie es sich aufs Gesicht, als könne nur rohe Gewalt die Tränen zurückhalten.
Murray saß ganz still da. Es gab eine Menge, was er über die Auswirkungen von Selbstmordversuchen sagen könnte, doch er vermutete, dass es Anna nicht half. Und er fragte sich, ob sie in den letzten Monaten die richtige Unterstützung bekommen hatte. »Die Officers, die den Tod Ihrer Eltern bearbeiteten, hätten Ihnen eine Broschüre geben sollen. Es gibt Organisationen, die Hinterbliebenen von Suizidopfern helfen. Gruppen, in die man gehen kann, auch direkte Ansprechpartner.«
Manche Menschen empfanden es als großen Halt, wenn sie ihre Erfahrungen mit anderen teilten. Sie blühten in Gruppensitzungen auf, gingen gestärkt aus ihnen hervor, besser gerüstet, mit ihren Gefühlen fertigzuwerden. Geteiltes Leid …
Doch Suizid-Selbsthilfegruppen halfen nicht jedem. Murray hatten sie nicht geholfen.
»Ich war bei einem Trauerbegleiter.«
»Hat es was gebracht?«
»Ich habe ein Kind von ihm.« Anna Johnson gab einen Laut von sich, der halb Schluchzen, halb Lachen war. Und Murray ertappte sich dabei, wie er mit ihr lachte.
»Tja, das klingt nicht ganz so hilfreich.«
Die Tränen wurden weniger. Annas Lächeln war matt, aber ungebrochen. »Bitte, Mr Mackenzie, meine Eltern haben keinen Selbstmord begangen. Sie wurden ermordet.« Sie zeigte auf die zerrissene Karte. »Und die beweist es.«
Tat sie nicht. Die Karte bewies gar nichts.
Doch sie warf eine Frage auf. Und Murray war noch nie der Typ gewesen, offene Fragen zu ignorieren. Vielleicht konnte er sich die Sache mal ansehen. Sich die Originalakten ziehen, die Berichte des Coroners lesen. Und wenn – falls – es irgendwas zu ermitteln gab, könnte er alles weiterleiten. Schließlich besaß er die erforderlichen Fähigkeiten. Dreißig Jahre in dem Job, den Großteil beim CID. Wissen gab man nicht zusammen mit dem Dienstausweis ab.
Er sah Anna Johnson an. Müde und aufgewühlt, aber auch entschlossen. Wenn Murray ihr nicht half, wer würde es dann tun? Sie war nicht der Typ, der aufgab.
»Ich fordere die Akten gleich heute Nachmittag an.«
Murray verfügte über das Wissen und die Erfahrung, und er hatte Zeit. Jede Menge Zeit.