Dreißig
Murray
Sarah wischte den Küchenboden. Es war keine Kritik an Murrays gestrigen Putzbemühungen, sondern ein Zeichen, dass Sarah zunehmend ängstlicher wurde. Der Wechsel war so schnell gewesen, als würde die Sonne plötzlich hinter einer Wolke verschwinden. Murray hatte sich bemüht, an dem Gefühl von Zufriedenheit festzuhalten, dass er auf der Rückfahrt von Johnson’s Cars empfunden hatte, während sie über das missglückte Geschäft des Rotschopfes lachten. Doch es gelang ihm ebenso wenig, wie man sich mitten im Winter an dreißig Grad Hitze im Sommer erinnern konnte.
Murray war nicht einmal sicher, was der Auslöser gewesen war. Manchmal gab es keinen.
»Setz dich, und trink einen Tee.«
»Ich will erst die Fenster putzen.«
»Es ist Heiligabend.«
»Na und?«
Murray blätterte in der Radio Times, ob es irgendetwas im Fernsehen gab, das sie beide ablenkte. Ist das Leben nicht schön? war vermutlich nicht ideal. »Gleich kommt Der Schneemann.«
»Ist ja ein Ding.« Sie tunkte den Wischmopp in den Eimer.
»Ich wette, sogar Aled Jones kann das nicht mehr sehen.« Murray wäre eingestiegen, doch zwischen Sarahs Augenbrauen grub sich ein tiefes »V«, als sie unter der Spüle nach Glasreiniger und einem Lappen suchte, deshalb sagte er nichts zu dem Scherz. Murray war gut darin, die Zeichen zu lesen, sich an den Steilvorlagen anderer zu orientieren und deren Reaktionen zu spiegeln. Bei Kriminellen hatte er das jahrelang getan, lange bevor nonverbale Kommunikation an den Polizeischulen gelehrt wurde. Und zu Hause machte er es seit Jahren.
Bloß war es anstrengend, und nicht zum ersten Mal wünschte Murray sich, Sarah und er hätten Kinder, deren Anwesenheit Sarahs Verfassung erträglicher gemacht hätte. Murray hatte welche gewollt – sehr –, doch Sarah war zu ängstlich gewesen.
»Was ist, wenn sie nach mir kommen?«
Er hatte es absichtlich missverstanden. »Dann werden sie die glücklichsten Kinder aller Zeiten.«
»Und wenn sie meinen Kopf erben? Meinen verkorksten, fiesen Mistkopf?« Sie hatte zu weinen begonnen, und Murray hatte sie in die Arme genommen, damit sie seine Tränen nicht sah.
»Oder meine Nase?«, hatte er sanft erwidert. Da hatte sie glucksend in seinen Pullover gelacht und war zurückgewichen.
»Was ist, wenn ich ihnen wehtue?«
»Würdest du nicht. Du verletzt dich immer nur selbst.«
Aber Murrays Beteuerungen stießen auf taube Ohren. Sarah bekam schreckliche Angst, schwanger zu werden – weigerte sich, mit Murray intim zu sein. Sie stürzte in eine paranoide Episode, während der sie wochenlang unsinnige Schwangerschaftstests machte, für den absurden Fall, dass Eastbourne zum nächsten Schauplatz einer unbefleckten Empfängnis auserkoren worden wäre. Schließlich hatte ihr Hausarzt zugestimmt, aus psychischen Gründen eine Sterilisation für Sarah zu beantragen.
Was bedeutete, dass es nur Murray und Sarah gab. Sie hätten Weihnachten bei Sarahs Bruder und seiner Familie feiern können, doch nach Sarahs letzter Einlieferung hatten sie keine Pläne geschmiedet. Murray bedauerte, dass er den Baum noch nicht vom Dachboden geholt hatte oder in weiser Voraussicht einen fertig geschmückten besorgt. Das hätte ihnen wenigstens etwas zu tun gegeben.
Etwas anderes als putzen.
Sarah kniete auf der Spülablage, um sich dem Küchenfenster zu widmen, und Murray suchte nach einem zweiten Lappen – er konnte sich ebenso gut nützlich machen –, als er Singen von draußen hörte.
»We three Kings of Orient are / One in an taxi, one in a car / One on scooter, blowing his hooter …« Der Gesang brach ab und wurde zu grölendem Gelächter.
»Was ist denn …«
Sarah war neugierig genug, um den Glasreiniger abzustellen und mit Murray an die Tür zu kommen.
»Fröhliche Weihnachten!« Nishas Partner Gill streckte Murray eine Weinflasche entgegen.
»Und willkommen zu Hause!« Nisha überreichte Sarah eine Geschenktüte mitsamt großer Schleife und Anhänger. »Du kriegst nichts«, sagte sie zu Murray, »weil du ein elender alter Kauz bist.« Sie grinste. »Werden wir nicht reingebeten? Echte Weihnachtssinger bekommen Mince Pies und Glühwein.«
»Ich denke, Mince Pies können wir anbieten«, sagte Murray und machte die Tür weit auf. Sarah hielt die Geschenktüte mit beiden Händen, die Augen weit aufgerissen.
»Ich wollte gerade …« Sie blickte zur Küche, als plante sie ihre Flucht.
Murray spürte, wie seine Zuversicht schwand. Er hielt Sarahs Blick und fragte sich, wie er ihr verständlich machen sollte, dass er dies hier brauchte. Freunde, die am Heiligabend zu Besuch kamen. Mince Pies. Weihnachtslieder. Normalität.
Sarah zögerte, ehe sie verhalten lächelte. »Ich wollte gerade alles für Weihnachten bereitmachen. Kommt rein!«
Murray holte die Mince Pies, die er für den ersten Feiertag besorgt hatte, und Gläser für den Wein, den Nisha und Gill mitgebracht hatten. Er fand die CD mit den Weihnachtsliedern vom King’s College, und dann entdeckte Nisha noch eine mit den Top-Ten-Weihnachtshits. Sarah packte ihr Geschenk aus und umarmte jeden zum Dank für die spontane Party, und Murray dachte, dass Nisha und Gill nie erahnen könnten, was für ein perfektes Geschenk sie ihm gemacht hatten.
»Ein kleines Vögelchen hat mir gezwitschert, dass du heute Morgen in der Höhle des Löwen warst …«, sagte Nisha.
Das hatte ja nicht lange gedauert.
»Des Löwen?« Gill schenkte allen nach. Sarah hielt ihr Glas hin, und Murray versuchte, sich nicht ansehen zu lassen, was in ihm vorging. Ein wenig Alkohol machte Sarah munter. Glücklich. Etwas mehr hatte den gegenteiligen Effekt.
»Superintendent Leo Griffiths«, erklärte Nisha. »Er brüllt gerne.«
»War das kleine Vögelchen zufällig eine junge Frau mit blinkenden Ohrgehängen und Lametta im Haar?«
»Keine Ahnung, sie hat mir eine SMS geschickt. Ich nehme an, dein Plan, Eastbournes ungeklärten Morden im Alleingang auf den Grund zu gehen, wurde im Keim erstickt?«
Murray trank einen Schluck von seinem Wein. »Wenn überhaupt, bin ich noch entschlossener herauszufinden, was mit den Johnsons passierte, vor allem da die Dinge jetzt eskalieren.«
Nisha nickte. »Der Ziegelstein wird noch untersucht. Keine Fingerabdrücke, leider – die Oberfläche ist die Pest, und derjenige, der das Papier um den Stein gewickelt hat, war versiert genug, Handschuhe zu tragen. Aber ich kann dir verraten, dass die Nachricht am Stein auf anderem Papier gedruckt wurde als die in der Karte. Und auf einem anderen Drucker.«
Sarah stellte ihr Glas hin. »Die sind von unterschiedlichen Leuten?«
»Nicht unbedingt, aber möglich wäre es.«
»Das leuchtet ein.« Sarah sah Murray an. »Findest du nicht? Eine Person fordert Anna auf, in der Vergangenheit zu wühlen; die andere will sie davon abhalten.«
»Kann sein.« Wie Nisha wollte auch Murray sich nicht festlegen, obwohl er zu demselben Schluss gelangte. Sie hatten es nicht mit einer Person zu tun, sondern mit zweien. Die Karte zum Jahrestag kam von jemandem, der wusste, was tatsächlich mit Caroline Johnson geschehen war, und wollte, dass Anna Fragen stellte. Die Nachricht letzte Nacht war etwas anderes. Eine Anweisung. Eine Drohung.
Keine Polizei. Hör auf, bevor du verletzt wirst.
»Wer schickt eine Warnung, wenn er nicht der Mörder ist?«
Murray konnte Sarahs Logik nachvollziehen.
Derjenige, der den Stein durch das Fenster geworfen hatte, war für Toms und Carolines Tod verantwortlich, und es sah aus, als wäre er noch nicht fertig mit den Johnsons. Murray musste diesen Fall aufklären, bevor Anna – oder ihrem Baby – etwas zustieß.