Siebenundsechzig

Murray

Hard as Nails.

Sarah hätte es früher herausbekommen. Ihr wäre der Name gleich aufgefallen, anders als Murray; sie hätte ihn laut vorgelesen, darüber geredet.

Was für ein furchtbarer Name für ein Nagelstudio.

Er stellte sich vor, wie sie auf den Notizbucheintrag zeigte: auf die Liste mit den Namen aller anwesenden Personen, als die Polizei Caroline die Nachricht vom Tode ihres Mannes überbrachte.

Laura Barnes. Empfangsdame bei Hard as Nails.

Ich hasse es, wenn Geschäfte versuchen, witzig zu sein … Murray konnte Sarahs Stimme so klar hören, als säße sie neben ihm im Wagen. Ebenso gut kann man so einen Laden No More Nails nennen, bloß weil es auffällt und ›Nägel‹ drin vorkommen, und das wäre erst recht ein lächerlicher Name … Murray lachte laut.

Er fing sich wieder. Wenn Selbstgespräche das erste Anzeichen von Wahnsinn waren, wo auf der Skala rangierten dann ganze imaginierte Unterhaltungen?

Auf jeden Fall hätte Sarah sich an den Namen erinnert. Und hätte sie mit Murray darüber geredet, hätte er ihn sich auch gemerkt. Und dann, als er Diane Brent-Taylors Haus verließ und sich fragte, wer ihren Namen benutzt hatte, wäre ihm der Flyer an ihrer Pinnwand sofort eingefallen, und er hätte umgehend die Verbindung zwischen Laura Barnes und ihrem früheren Arbeitsplatz hergestellt.

Murrays Erfahrung nach war die Erfindung eines Alias verblüffend schwierig. Früher lachte er immer über die Grünschnäbel aus den Sozialsiedlungen, die wie Kaninchen im Scheinwerferlicht dreinblickten, wenn sie versuchten, sich irgendetwas Glaubwürdiges auszudenken. Unweigerlich bemühten sie dann einen zweiten Vornamen, den Namen eines Mitschülers oder den ihrer Straße.

Laura war panisch gewesen. Sie hatte eventuell nicht damit gerechnet, einen Namen angeben zu müssen, hatte gedacht, dass sie schlicht den Notruf wählen könnte, einen Selbstmord melden, und das wäre alles.

»Wie ist Ihr Name?«

Murray konnte sich vorstellen, wie jemand in der Zentrale saß, das Headset auf und die Finger über der Tastatur. Auch Laura konnte er sich vorstellen: draußen auf den Klippen, wo der Wind ihre Stimme verzerrte. Ihr nichts einfallen wollte. Nicht Laura. Sie war nicht Laura. Sie war …

Eine Kundin. Willkürlich ausgewählt.

Diane Brent-Taylor.

Es war beinahe perfekt gewesen.

Als Murray in seine Straße einbog, war es halb zwölf. Gerade noch genug Zeit, um seine Hausschuhe anzuziehen, die Flasche Sekt zu öffnen und mit Sarah aufs Sofa zu sinken, wo sie sich Jools Holland und dessen Musiker-Gäste ansahen. Und um Mitternacht, wenn sie das neue Jahr begrüßten, würde er Sarah sagen, dass er nicht mehr zur Arbeit zurückkehrte; dass er diesmal richtig in den Ruhestand ging. Er erinnerte sich an einen alten Detective Inspector, der seine dreißig Jahre und dann noch mal zehn gearbeitet hatte. Er war mit dem Job verheiratet, hieß es von ihm, obwohl er eine Frau zu Hause hatte. Murray war bei seiner Abschiedsfeier gewesen – als er endlich eine veranstaltete – und hatte sich die Pläne des DIs angehört, die Welt zu bereisen, eine Fremdsprache zu lernen, mit Golfen anzufangen. Dann starb er. Einfach so. Eine Woche nachdem er seinen Ausweis abgegeben hatte.

Das Leben war zu kurz. Murray wollte seines auskosten, solange er noch jung genug war, es zu genießen. Vor vierzehn Tagen hatte er gedacht, dass ihm wirklich bald eine Seniorenkarte zustünde, aber heute, selbst zu dieser späten Stunde und nach diesem Tag, fühlte er sich so frisch wie an seinem ersten Tag bei der Polizei.

Jemand in der Nebenstraße zündete Silvesterraketen, und für einen Moment wurde der Himmel von blauen, violetten und pinken Funken erhellt. Murray schaute hin, als sich der Funkenschwarm ausdehnte und kurz darauf erlosch. Die Sackgasse teilte sich am Ende, und er wurde langsamer, bevor er nach links in seinen Abschnitt bog. Seine Nachbarn waren größtenteils schon älter, und Murray hielt es mithin für unwahrscheinlich, dass sie an Silvester auf der Straße tanzten, aber man konnte nie wissen.

Als er um die Kurve kam, war das Feuerwerk noch heller, der Himmel schimmerte bläulich und …

Nein. Kein Feuerwerk.

Murray fühlte einen Eisklumpen in seinem Bauch. Das war kein Feuerwerk.

Es war eine Leuchte, die sich stumm um sich selbst drehte und die Häuser, die Bäume und die Leute draußen vor ihren Häusern in weiches Blau tauchte.

»Nein, nein, nein …« Murray hörte jemanden sprechen; ihm war kaum bewusst, dass er es selbst war. Zu sehr war er auf die Szene vor sich konzentriert: den Krankenwagen, die Sanitäter, die offene Haustür.

Seine Haustür.