Neunzehn

Der Schaukelstuhl war ein Hochzeitsgeschenk von meinen Eltern. Er hatte eine hohe Rückenlehne und weich gerundete Armlehnen, die genau die richtige Höhe hatten für nächtliches Stillen. Er kam damals mit einer roten Schleife nebst zwei weichen Kissen und einer Karte an, auf der stand: »Für das Kinderzimmer.«

Ich verbrachte Stunden in diesem Stuhl. Du warst nie aufgestanden – Männer taten es in jener Zeit sowieso nicht –, und ich hatte Angst, Licht zu machen, falls es Anna weckte. Also schaukelte ich im Dunkeln und betete, die Kleine würde einschlafen.

Als Anna nicht mehr gestillt wurde, brachte ich den Schaukelstuhl nach unten, wo er mal in der Küche, mal im Wohnzimmer stand. Jetzt war er zurück im Kinderzimmer, als Annas Stillstuhl.

Im Kinderzimmer unseres Enkelkinds.

Das Zimmer ist groß. Eher verschwenderisch für ein Baby, zumal es derzeit bei den Eltern schläft, wie ich aus dem Stubenwagen neben Annas Bett schließe. Über der weißen Wiege baumeln rosa und weiße Wimpel, auf denen der Name »Ella« in Blassgrün steht.

Neben der Wiege ist eine Kommode, und an der Wand gegenüber steht ein passender Kleiderschrank samt Wickeltisch mit karierten Körbchen voller Windeln und Puder.

Ich will nur kurz hineinsehen – es ist unwahrscheinlich, dass der Schlüssel im Kinderzimmer versteckt ist –, doch meine Füße finden wie von selbst den Weg über den hellgrauen Teppich zum Schaukelstuhl. Meinem Schaukelstuhl.

Vor und zurück. Vor und zurück. Das Licht gedimmt. Der Blick über die Dächer ist derselbe wie vor sechsundzwanzig Jahren. Mit Anna in meinen Armen.

Damals nannten sie es den Babyblues. Es fühlte sich nach mehr an. Ich war überfordert. Verängstigt. Ich wollte Alicia anrufen – die einzige Freundin, die es vielleicht verstanden hätte –, konnte mich aber nicht dazu entschließen, den Telefonhörer aufzunehmen. Ich hatte doch alles, was sie nicht hatte: einen Mann, ein großes Haus, Geld. Woher nahm ich das Recht zu flennen?

Ich bin zu lange hiergeblieben, muss weiter, hier raus. Unten sehe ich in die Küche und richte automatisch das Geschirrtuch am Aga. Auf dem Tisch liegt ein Stapel Zeitschriften, und diverse Briefe stapeln sich in der leeren Obstschale auf der Kochinsel. Ich finde den Schlüssel nicht, nach dem ich suche.

Da ist ein Pfotenscharren aus dem Wirtschaftsraum. Rita.

Mir stockt der Atem, und obwohl ich kein Geräusch mache, höre ich sie winseln. Sie spürt, dass ich hier bin.

Ich stocke, die Finger auf den Türknauf gelehnt. Sicher ist von einem Hund gesehen zu werden nicht dasselbe, wie von einem Menschen entdeckt zu werden, oder? Rita winselt wieder. Sie weiß, dass ich hier bin – wegzugehen wäre grausam.

Eine kurze Begrüßung, dann verschwinde ich. Was kann das schon schaden? Sie kann ja keinem erzählen, dass sie einen Geist gesehen hat.

Die Tür ist kaum einen Spalt geöffnet, als ein geballtes Fellknäuel hindurchgeprescht kommt, so schnell, dass Rita sich zweimal auf dem Fliesenboden überschlägt, bevor sie wieder steht.

Rita!

Sie macht einen Satz rückwärts, stellt die Nackenhaare auf, während sie mit dem Schwanz wedelt, als wüsste sie nicht, was sie empfinden soll. Sie kläfft einmal. Zweimal. Springt vor und wieder zurück. Ich erinnere mich, dass sie bei unseren abendlichen Spaziergängen Schatten unter Hecken anbellte, und jetzt frage ich mich, was sie gesehen haben mag, das ich als nichts abtat.

Ich sinke auf die Knie und halte ihr meine Hand hin. Sie erkennt meinen Geruch, aber meine Erscheinung verwirrt sie.

»Brave Rita.«

Das Schluchzen in meiner Stimme erwischt mich eiskalt. Ritas Ohren. Sie wedelt so schnell, dass die Konturen ihres Schwanzes verschwimmen. Dann kommt noch ein Winseln.

»Ja, ich bin es, Rita. So ist es brav. Komm her.«

Sie braucht keine weitere Aufforderung. Jetzt ist sie überzeugt, dass ihre Halterin tatsächlich in der Küche ist, stürzt sich auf mich, leckt mir begeistert das Gesicht ab und lehnt sich so fest an mich, dass ich eine Hand nach hinten strecken muss, um mich zu halten.

So sitze ich mit ihr da, vergesse meine Suche, als ich mein Gesicht in ihrem Fell vergrabe. Ich merke, dass mir die Tränen kommen, und schlucke angestrengt, um sie zu unterdrücken. Ich will nicht weinen. Wir bekamen Rita mit acht Monaten aus einem Tierheim auf Zypern. Sie war freundlich und sanftmütig, hatte aber solche ausgeprägte Trennungsangst, dass schon ein Zimmer zu verlassen zu einer echten Aufgabe wurde. Als wir zum ersten Mal ausgingen, hörten wir sie noch bis zum Ende der Straße heulen. Ich musste umkehren und dich allein ziehen lassen.

Nach und nach begriff Rita, dass sie für immer bei uns wäre. Dass, wenn wir weggingen, bedeutete, dass wir mit lauter Leckerli zurückkamen, um sie zu belohnen, weil sie so brav gewesen war. Immer noch begrüßte sie uns bei der Rückkehr mit einer Begeisterung, die an Erleichterung grenzte, aber das Heulen ließ nach, und sie wurde zu einer ruhigen, zufriedenen Hündin.

Ich bekomme ein schlechtes Gewissen, weil ich mir vorstelle, wie es ihr an dem Tag ergangen sein musste, als ich nicht zurückkam. Hatte sie an der Haustür gewartet? War sie in der Diele auf und ab gelaufen, hatte nach mir gewinselt? Hatte Anna sie gestreichelt? Ihr versichert, dass ich bald wieder zurück sei? Und sich dabei selbst gefragt, was passiert ist? Sich genauso gesorgt wie Rita? Mehr?

Plötzlich setzt Rita sich auf, reckt die Nase in die Luft und stellt die Ohren auf. Ich erstarre. Sie hat etwas gehört. Und eine Sekunde später höre ich es auch. Das Knirschen von Kies. Stimmen.

Ein Schlüssel im Schloss.