Dreiundvierzig

Murray

Murray wachte vom Radio auf. Er öffnete die Augen, drehte sich auf den Rücken und blinzelte an die Zimmerdecke, bis sich der Nebel geklärt hatte und er richtig wach war. Sarah war gestern Abend auf dem Sofa eingeschlafen, und obwohl Murray gewusst hatte, dass sie nicht ins Schlafzimmer kommen würde, war er enttäuscht, weil ihre Betthälfte unberührt aussah.

Das Radio war laut. Jemand wusch seinen Wagen oder arbeitete im Garten, ohne daran zu denken, dass vielleicht nicht jeder in der Straße Chris Evans hören wollte. Murray schwang die Beine aus dem Bett.

Auch das Gästezimmer war leer und die Bettdecke noch unten auf dem Sofa. Sarah hatte heute einen Termin in Highfield. Murray würde versuchen, allein mit Mr Chaudhury zu sprechen. Ihm erzählen, wie es Sarah die letzten Tage gegangen war.

Er war schon halb die Treppe runter, als ihm klar wurde, dass der Radiolärm aus dem Haus kam. Im Wohnzimmer waren die Vorhänge zugezogen, und die Bettdecke lag ordentlich zusammengelegt auf dem Sofa. Aus der Küche lachte Chris Evans über seinen eigenen Witz.

»Spiel Musik, Idiot.«

Murray schöpfte Zuversicht. Wenn Sarah die Radiomoderatoren beschimpfte, hörte sie ihnen zu. Und Zuhören hieß, dass sie aus ihrer eigenen Welt in die der anderen getreten war. Was sie weder gestern noch vorgestern getan hatte.

»Bei Radio Four gibt es keine Idioten.« Er ging zu ihr in die Küche. Sie trug noch die Sachen von gestern, und ein leichter Schweißgeruch umgab sie. Ihr graues Haar war fettig, ihre Haut immer noch stumpf und blass. Aber sie war wach. Sie war auf den Beinen, und sie machte Rührei.

»Was ist mit Nick Robinson?«

»Ich mag Nick Robinson.«

»Aber er ist ein Idiot.«

»Er ist ein Tory. Das ist nicht dasselbe.« Murray stellte sich neben den Herd und drehte Sarah zu sich. »Na ja, nicht immer. Wie lässt sich der heutige Tag an?«

Sie zögerte, als wolle sie sich nicht festlegen, dann nickte sie langsam. »Es fühlt sich an, als könnte er okay werden.« Zögerlich lächelte sie, und er beugte sich vor, um sie zu küssen.

»Wie wäre es, wenn ich hier übernehme und du unter die Dusche springst?«

»Stinke ich?«

»Da ist so ein gewisses Aroma.« Murray grinste, als Sarah den Mund aufmachte, um zu widersprechen. Dann verdrehte sie die Augen und ging ins Bad.

Murray beendete einen Anruf, als Sarah zurückkam. Er steckte sein Handy in die Tasche und holte die beiden Teller aus dem Ofen, wo er sie warm gehalten hatte.

»Ich nehme an, dir ist nicht nach einem Einkaufsbummel?«

Sarah verzog das Gesicht, spannte die Lippen an, obwohl sie versuchte, entgegenkommend zu sein. »Es ist bestimmt sehr voll.«

Normalerweise vermied Murray das Einkaufen zwischen Weihnachten und Neujahr, und der Fernsehwerbung nach zu urteilen, waren die Schlussverkäufe schon in vollem Gange.

»Ja.«

»Macht es dir etwas aus, wenn ich hierbleibe?« Sie sah Murrays Gesicht und reckte ihr Kinn. »Ich brauche keinen Babysitter, falls du das denkst. Ich murkse mich nicht ab.«

Murray bemühte sich, nicht auf diese lässige Anspielung auf die vielen Male zu reagieren, die sie versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. »Das dachte ich auch nicht.« Eigentlich hatte er es doch gedacht. Natürlich hatte er das. »Ich kümmere mich ein anderes Mal drum.«

»Was brauchst du denn?«

»Sean von der Computereinheit hat eben angerufen. Das Handy, von dem der Anruf wegen Tom Johnsons Selbstmord kam, wurde bei Fones4All in Brighton gekauft.«

»Denkst du, die haben noch einen Beleg, wer es gekauft hat?«

»Das hoffe ich.«

»Dann fahr!« Sarah schwenkte ihre befüllte Gabel durch die Luft. »Überleg mal: Du könntest alles aufgeklärt haben, bevor die vom CID auch nur ahnen, was los ist.«

Murray lachte, obwohl ihm derselbe Gedanke gekommen war. Nicht, dass er jemanden verhaften könnte, natürlich nicht, aber er könnte alles zusammenhaben, und dann … Dann was? Sich einen weiteren Fall vornehmen, der zu den Akten gelegt worden war? Sich in die Ermittlungen von jemand anderem einmischen?

Als Murrays dreißig Jahre um waren, war er nicht bereit für den Ruhestand gewesen. Er war nicht bereit gewesen, seine Polizeifamilie zu verlassen, auf die Befriedigung zu verzichten, die sich mit jedem Fall einstellte, der etwas bewegte. Aber er konnte auch nicht ewig bleiben. Irgendwann musste er sich zurückziehen, und wollte er allen Ernstes warten, bis er alt oder gebrechlich war? Bis er zu mitgenommen war, um die letzten paar Jahre seines Lebens zu genießen?

Murray sah Sarah an, und in diesem Moment wusste er genau, was er tun würde, sobald der Johnson-Fall geklärt war. Er würde in den Ruhestand gehen, und diesmal richtig.

Sarah hatte gute und schlechte Tage, und Murray wollte keine weiteren der guten verpassen.

»Bist du sicher, dass es okay ist?«

»Ist es.«

»Ich rufe dich jede halbe Stunde an.«

»Fahr.« Murray fuhr.

In dem Handy-Laden bewarb ein riesiges Banner an der Decke den neuesten Bluetooth-Lautsprecher, und die Kunden brüteten mit perplexen Gesichtern über Ständen, während sie versuchten, die Unterschiede zwischen den Modellen auszumachen. Murray ging geradewegs durch zu dem Stand mit dem neuesten – und teuersten – iPhone, weil er wusste, dass er auf die Weise am ehesten einen Verkäufer auf sich aufmerksam machte. Und tatsächlich erschien Sekunden später ein Bursche neben ihm, der kaum alt genug aussah, um schon aus der Schule zu sein. Sein blassblauer Anzug war ihm an den Schultern zu weit, und die Hose bauschte sich über den Turnschuhen. Auf seinem goldenen Namensschild stand »Dylan«.

»Nicht schlecht, was?« Er nickte zu dem iPhone. »Fünfeinhalb-Zoll-Bildschirm, kabelloses Aufladen, OLED-Display, absolut wasserfest.«

Für einen Moment war Murray von dem einzigen Merkmal abgelenkt, das für jemanden entscheidend war, der sein Handy – sehr viel billiger, aber dennoch wichtig – zweimal versehentlich ins Klo hatte fallen lassen. Er zwang sich, bei der Sache zu bleiben, und zeigte Dylan seinen Dienstausweis.

»Könnte ich bitte den Geschäftsführer sprechen?«

»Das bin ich.«

Murray machte aus seinem überraschten »Oh« geschwind ein »Ah, prima! Mir geht es um ein Handy, das irgendwann vor dem 18. Mai 2016 hier gekauft wurde.« Er blickte zu den beiden Kameras auf, die recht auffällig auf die Kundenschlange gerichtet waren. Zwei weitere Kameras hatten den Ladeneingang im Visier. »Wie lange bewahren Sie die Aufzeichnungen der Sicherheitskameras auf?«

»Drei Monate. Vor Ihnen waren schon vor ein paar Wochen Leute hier, die einen Haufen gestohlener Handys dabeihatten. Wir konnten zwar nachweisen, dass sie hier geklaut wurden, aber sie wurden vor sechs Monaten gestohlen, also war da nichts in den Aufzeichnungen.«

»Ein Jammer. Können Sie Zahlungen in den Kassenbüchern nachprüfen, um da zu sehen, wie der Verdächtige bezahlt hat?«

Dylan gab sich keinerlei Mühe, seine mangelnde Begeisterung zu verbergen. »Wir haben hier viel zu tun.« Er sah zu den Kassen. »Es sind Weihnachtsferien«, ergänzte er, als könnte es Murray entgangen sein.

Murray lehnte sich vor und gab seine beste Darstellung eines Fernseh-Polizisten. »Es steht im Zusammenhang mit einer Mordermittlung. Finden Sie diesen Verkauf für mich, Dylan, und wir könnten den Fall knacken.«

Dylan bekam große Augen, richtete den bereits engen Krawattenknoten und blickte sich um, falls der Killer direkt hinter ihnen stand. »Kommen Sie lieber mit ins Büro.«

Dylans »Büro« war eine winzige Kammer, in die jemand einen Ikea-Schreibtisch und einen kaputten Drehstuhl gequetscht hatte, dessen Rückenlehne wie besoffen zur Seite hing. Mehrere Urkunden für »Angestellter des Monats« waren an eine Pinnwand über dem Computer geheftet.

Großzügig bot Dylan Murray den Stuhl an, während er sich auf den halb so hohen Kasten daneben hockte und nach oben griff, um sein Passwort in ein schmutziges Keyboard zu tippen. Höflich sah Murray zur Seite. An der Wand hing ein Foto von sechs Männern und zwei Frauen, alle elegant gekleidet und in die Kamera strahlend. Dylan war der Zweite von links, in demselben blassblauen Anzug, den er heute trug. Auf dem Papp-Passepartout stand »Fones4All Manager Course 2017«.

»Wie ist die IMEI?«

Murray las die fünfzehnstellige Seriennummer vor, die Sean ihm gegeben hatte. Obwohl der Verdächtige eine nicht zurückverfolgbare SIM-Karte gekauft hatte, war sie mit einem Fones4All-Handy gekauft worden, das eine eigene IMEI hatte und Murray – hoffentlich – zu dem Käufer führte.

»Bar.« Mit dem einen Wort brachte Dylan alles zu einem kreischenden Stillstand. Er sah ängstlich zu Murray. »Heißt das, wir schnappen das Schwein nicht?«

Murray gestattete sich ein Grinsen ob des Jugendjargons, der direkt aus amerikanischen Krimiserien zu stammen schien, und zuckte mit den Schultern. »So nicht, fürchte ich.«

Dylan sah aus, als hätte er einen Tiefschlag erlitten. Er seufzte, sah Murray an und öffnete den Mund leicht, als sei ihm etwas eingefallen. »Es sei denn …« Er drehte sich zurück zum Bildschirm und tippte blitzschnell auf die Tastatur ein, bevor er nach der Maus griff und den Bildschirm hinunterscrollte. Murray beobachtete alles und dachte an Sean, denn er fragte sich, ob das IT-Team noch irgendwas tun konnte, um den Verkauf nachzuverfolgen. Ohne die Identität der Anruferin hatte er sehr wenig.

»Ja!« Dylan stieß erstaunlich selbstsicher eine Faust in die Luft und schwenkte seine offene Hand dann zu Murray. »Wir sind gut!«, half er Murray auf die Sprünge, und der klatschte den euphorisierten Fones4All-Manager ab.

»Treuekarte«, erklärte Dylan und strahlte Murray so breit an, dass seine Zahnfüllungen zu sehen waren. »Jeder Manager wird danach beurteilt, wie viele Treuekarten seine Filiale im Monat ausgibt, und der Gewinner kriegt ein Samsung Galaxy S8. Ich habe den Preis bisher dreimal abgeräumt. Weil ich es an denjenigen Verkäufer weitergebe, der die meisten Kundenkarten an den Mann gebracht hat.«

»Das ist nett von Ihnen.«

»Sind mistige Handys, Samsungs. Jedenfalls ist mein Team sehr wettbewerbsorientiert, nicht? Lassen keinen ohne Kundenkarte rausgehen. Und Ihr Typ«, er zeigte auf den Bildschirm,

»war keine Ausnahme.«

»Haben wir einen Namen?«

»Und eine Adresse.« Dylan präsentierte die Information mit dem Schwung eines Zauberers, der auf Applaus zählte.

»Wer ist es?« Murray beugte sich zum Bildschirm vor, aber Dylan war schneller.

»Anna Johnson.«

Er musste sich verhört haben. Anna Johnson?

Murray las die Daten selbst. Anna Johnson, Oak View, Cleveland Avenue, Eastbourne.

»Ist das jetzt unsere Täterin?«

Murray machte den Mund auf, wollte sagen, dass es nicht die Täterin war, dass es sich um die Tochter des Opfers handelte. Aber so hilfsbereit Dylan auch gewesen war, gehörte er immer noch zur Zivilbevölkerung und musste somit noch länger im Dunkeln bleiben.

»Könnten Sie mir das ausdrucken? Sie haben mir schon sehr geholfen.« Er nahm sich vor, an Dylans Chef zu schreiben, wenn dies alles vorbei war. Vielleicht schickte der ihm dann etwas anderes als ein Samsung Galaxy S8.

Der Ausdruck schien in seiner Tasche zu brennen, als Murray nun schneller durch das Einkaufszentrum und hinaus auf The Lanes ging.

Anna Johnson?

Anna Johnson hatte das Handy gekauft, mit dem der Zeugenanruf zum Suizid ihres Vaters gemacht wurde?

Murray wurde beständig verwirrter. Nichts an diesem Fall passte.

Hatte Tom Johnson sich das Telefon seiner Tochter aus einem bestimmten Grund geliehen? Seans Nachforschungen hatten bestätigt, dass der falsche Zeugenanruf von Diane Brent-Taylor der erste Anruf war, der mit diesem Handy gemacht wurde. War es glaubwürdig, dass Anna das Handy aus einem harmlosen Grund gekauft und Tom es am selben Tag genommen hatte, Stunden vor seinem Tod?

Gedankenverloren wanderte Murray zurück zu seinem Wagen, wobei er die Massen um sich herum kaum wahrnahm.

Falls Tom Johnson nicht zum Beachy Head fuhr, um Selbstmord zu begehen, warum war er dann dort? Um jemanden zu treffen? Jemanden, der insgeheim vorhatte, ihn zu ermorden?

Auf der Heimfahrt spielte Murray dieses Szenario im Kopf durch. Eine heimliche Affäre, ein eifersüchtiger Ehemann auf Rachefeldzug, ein Kampf, in dessen Folge Tom über den Klippenrand stürzte. Nahm der Mörder das Handy, das Tom sich von seiner Tochter geborgt hatte, um den falschen Anruf bei der Polizei zu tätigen? Die Geliebte? Warum war Diane Brent-Taylor als Alias gewählt worden?

Murray schüttelte verdrossen den Kopf. Der Täter hätte keine Ersatz-SIM-Karte dabeigehabt, es sei denn, der Mord war geplant. Und wäre er geplant gewesen, hätte der Mörder sich ein eigenes Wegwerfhandy besorgt, anstatt zufällig eines aus der Tasche des Opfers zu nehmen. Nichts hiervon ergab einen Sinn. Es war alles so … Murray suchte nach dem richtigen Wort.

Inszeniert. Das war es.

Es fühlte sich nicht real an.

Strich man den Zeugenanruf aus der Gleichung, was blieb dann? Eine vermisste Person. Eine Abschiedsnachricht von Toms Handy, die jeder geschrieben haben könnte. Wohl kaum ein Beweis für einen Mord.

Kaum ein Beweis für einen Suizid …

Und Carolines Tod: War der schlüssiger? Alles deutete auf Suizid hin, doch niemand hatte sie gesehen. Der Seelsorger – der arme Mann – hatte sie zurück zu ihrem Wagen begleitet. Wer konnte sagen, dass sie nicht dortgeblieben war? Jedenfalls nicht der Hundehalter, der später ihre Tasche und ihr Handy am Klippenrand gefunden hatte, direkt an der Stelle, an der die verzweifelte Caroline zuvor vom Seelsorger entdeckt worden war. Indizienbeweise, sicher, aber nicht stichhaltig. Und wie das Verschwinden ihres Mannes war auch ihres irgendwie zu inszeniert. Echte Todesfälle waren chaotisch. Da gab es lose Enden, die sich nicht verknüpfen ließen. Die Johnson-Selbstmorde waren viel zu sauber.

Bis Murray zu Hause in seine Einfahrt bog, war er sich sicher.

Es gab keinen Zeugen für Toms Tod. Es gab keinen Mord.

Es gab keine Suizide.

Tom und Caroline Johnson lebten noch. Und Anna Johnson wusste es.