Neunundvierzig

Murray

»Was willst du tun, wenn wir sie finden?« Sarah tippte auf das Navi von ihrem Handy, das sie die M40 hinauf- und an Oxford vorbeischickte. »An der Abfahrt drei runter.«

»Sie verhaften«, sagte Murray, ehe ihm wieder einfiel, dass er keine Befugnis mehr hatte. Er müsste Verstärkung anfordern.

»Obwohl du denkst, dass sie gezwungen wurde?«

»Das mag strafmildernd wirken, aber es ist und bleibt ein Vergehen. Sie hat immer noch einen Betrug begangen, von Irreführung der Polizei und der Justiz ganz zu schweigen.«

»Glaubst du, sie sind zusammen?«

»Keine Ahnung.«

Bevor sie losfuhren, hatte Murray im Wagon and Horses angerufen und nach Tom und Caroline Johnson gefragt. Die Personenbeschreibung hatte der Wirtin nichts gesagt, also blieb wohl nur, selbst hinzufahren. Hätte er es auch getan, wäre er noch Detective? Vielleicht hätte er es gewollt – ein Ausflug auf DCI-Spesen war immer ein Bonus –, aber es hätte effizientere Wege gegeben herauszufinden, ob die Johnsons in Coton in the Elms waren. Er hätte eine Anfrage an die Derbyshire Constabulary geschickt, die Officers dort gebeten, sich zu erkundigen; in deren System nachgesehen. All das war möglich, wenn man die Befugnisse hatte, und nichts davon leicht zu bekommen, war man ein DC im Ruhestand, dem bereits vom Superintendent auf die Finger geklopft wurde.

»Es ist schön, mal wegzukommen«, sagte Sarah. Sie blickte aus dem Fenster, als würde sie sanft geschwungene Hügel oder Meer sehen, keine Raststätte kurz vor Birmingham. Sie grinste Murray zu. »Wie Thelma und Louise, nur mit weniger Haar.«

Murray strich sich mit der Hand über den Kopf. »Willst du behaupten, dass ich eine Glatze bekomme?«

»Ganz und gar nicht. Deine Follikel sind lediglich etwas wuchsbeeinträchtigt. Du musst hier auf der linken Spur bleiben.«

»Vielleicht sollten wir das öfter machen.«

»Tote aufspüren, die eigentlich nicht tot sind?«

Murray schmunzelte. »Ausflüge machen.« Sarah hatte Angst vorm Fliegen, und in den vierzig Jahren ihres Zusammenlebens waren sie nur einmal im Ausland gewesen, in Frankreich. Auf der Fähre hatte Sarah eine Panikattacke bekommen, als sie zwischen den Wagen eingekesselt waren, die alle darauf warteten, dass sie vom Schiff fahren durften. »Es gibt so viele schöne Flecken in diesem Land.«

»Das würde mir gefallen.«

Noch ein Grund, richtig in den Ruhestand zu gehen, dachte Murray. Wenn er ganz zu Hause war, könnten sie jederzeit wegfahren. Wann immer Sarah sich dem gewachsen fühlte. Eventuell könnten sie sich ein Wohnmobil kaufen, damit Sarah sich nicht wegen anderer Leute sorgen müsste. Nur sie beide auf einem hübschen Campingplatz irgendwo. Diesen Fall würde er noch abschließen – er hatte bisher noch keinen Fall aufgegeben und würde jetzt nicht damit anfangen –, und dann würde er seine Kündigung einreichen. Nun war er bereit zu gehen, und zum ersten Mal seit langem blickte er voller Hoffnung in die Zukunft.

Coton in the Elms war ein hübsches Dorf wenige Meilen südlich von Burton upon Trent. Dem Broschürenstapel in ihrem Zimmer nach zu urteilen – sie hatten ein hübsches Doppelzimmer im ersten Stock des Wagon and Horses –, gab es in der näheren Umgebung eine Menge anzusehen, nicht hingegen im Dorf selbst. Murray konnte sich nicht vorstellen, dass dies das reizvollste Reiseziel für zwei junge Frauen gewesen war, obwohl man vielleicht, wenn man im Zentrum von London lebte, den Kontrast von frischer Luft und ländlicher Gegend an sich schon als Urlaub empfand. Auf dem Foto hatten Caroline und Alicia vollkommen sorglos gewirkt.

In der kürzlich renovierten Bar dekorierte die Wirtin für die bevorstehende Silvesterparty.

»Ein Glück, dass Sie nur eine Nacht bleiben. Morgen sind wir total ausgebucht. Reichen Sie mir doch bitte mal einen Poster-Strip, ja, Schätzchen?«

Sarah tat ihr den Gefallen. »Gibt es hier im Dorf viel zu mieten?«

»Meinen Sie Ferien-Cottages?«

»Eigentlich etwas Festeres. Wohnungen zum Beispiel. Barzahlung, keiner stellt Fragen, solche Sachen.«

Die Wirtin sah Sarah über ihren Brillenrand hinweg an und verengte die Augen.

»Es ist nicht für uns«, sagte Murray grinsend. Er hatte schon mit einigen Detectives gearbeitet, deren Fragemethoden eine gewisse Finesse vermissen ließen, aber Sarah schlug sie alle.

»Ach so! Nein, nicht für uns. Wir suchen nur nach jemand.«

»Nach dem Paar, das Sie am Telefon erwähnten?«

Murray nickte. »Es wäre möglich, dass sie in der Gegend sind. Und falls ja, wollen sie nicht auffallen.«

Die Wirtin stieß ein schnaubendes Lachen aus, bei dem ihre Leiter erbebte. »In Coton? Hier weiß jeder alles über jeden. Falls Ihr Pärchen hier war, würde ich es wissen.« Sie nahm noch einen Poster-Strip von Sarah entgegen und klebte damit ein Bündel silberner Ballons an einen unechten Deckenbalken. »Reden Sie heute Abend mal mit Shifty. Vielleicht weiß der was.«

»Wer?«

»Simon Shiftworth. Shifty passt aber besser zu ihm. Sie werden sehen, warum. Wer hier keine Sozialwohnung bekommt, kriegt eine von Shifty. Er wird gegen neun hier sein – ist er immer.«

Sarah sah zu Murray. »Abgemacht.«

Sie aßen im anderen Pub des Dorfs zu Abend, dem Black Horse, um dort den Wirt zu fragen, ob er etwas über Neuzugezogene im Dorf wusste. Tat er nicht. Murray stellte erstaunt fest, dass ihn die ausbleibenden Fortschritte nicht sonderlich störten. Selbst wenn sich ihr Ausflug insgesamt als fruchtlos erweisen sollte, würde es ihn nicht scheren. Sarah sah so glücklich aus wie seit Monaten nicht mehr. Sie hatte ihr Steak mit Pommes frites und ein Stück Siruptorte komplett aufgegessen, zwei Gläser Wein getrunken, und sie beide hatten so viel gelacht wie seit ihrer ersten Zeit zusammen nicht mehr. Abwechslung wirkt Wunder, hieß es doch so schön, und Murray fühlte, wie er neue Kraft schöpfte – als hätte er eine Woche in einer Kurklinik hinter sich.

»Falls Shifty nicht da ist, können wir einfach zu Bett gehen«,

sagte Sarah auf dem Rückweg zum Wagon and Horses.

»Es ist noch früh. Ich bin nicht …« Murray bemerkte Sarahs Zwinkern. »Ah, netter Plan!« Prompt hoffte er, dass Shifty sich einen gemütlichen Abend zu Hause machte. Aber als sie an die Bar gingen, um sich einen Schlummertrunk mit nach oben zu nehmen, nickte die Wirtin zum Nebenraum.

»Da drinnen. Sie können ihn nicht übersehen.« Murray und Sarah wechselten einen Blick.

»Wir müssen ihn sprechen.«

»Aber …« Es war sehr lange her, seit Murray früh ins Bett gegangen war.

Angesichts seiner enttäuschten Miene unterdrückte Sarah ein Lachen. »Jetzt sind wir den weiten Weg gekommen.«

Waren sie. Und mit ein wenig Glück dauerte die Unterhaltung mit Shifty nicht lange. Noch war reichlich Zeit.

Die Wirtin hatte recht gehabt; man konnte Shifty nicht übersehen.

Er war in den Sechzigern, hatte sein fettiges, vergilbtes Haar über seinen kahlen Kopf gekämmt und eine dicke Brille, die so verdreckt war, dass man sich wunderte, wie er dadurch überhaupt etwas sah. Ein Lippenherpes blühte in einem seiner Mundwinkel. Er trug eine ausgeblichene Jeans und eine Lederjacke, bei der die Falten in den Ellbogenbeugen aufgebrochen waren.

»Er sieht aus wie das Fahndungsfoto für einen Pädophilen«, flüsterte Sarah.

Murray warf ihr einen warnenden Blick zu, doch Shifty machte nicht den Eindruck, als hätte er es gehört. Er blickte auf, als sie sich ihm näherten.

»Caz sagt, Sie suchen jemanden.«

»Zwei Leute. Tom und Caroline Johnson.«

»Nie von denen gehört«, sagte Shifty zu schnell, als dass es glaubwürdig wirkte. Er musterte Murray von oben bis unten.

»Ihr seid doch nicht von der Polizei, oder?«

»Nein«, antwortete Murray mit blütenreinem Gewissen.

Shifty leerte sein Pint und stellte das Glas demonstrativ vor sich hin.

Murray kannte das Spiel. »Darf ich Ihnen einen Drink spendieren?«

»Ich dachte schon, ihr fragt nie. Ich nehme ein Pint Black Hole.«

Murray sah zur Wirtin. »Ein Pint Black …«

»Und einen Whiskey«, ergänzte Shifty.

»Sicher.«

»Und noch ein paar für später. Ich bin durstig.«

»Ich sage Ihnen was.« Murray öffnete seine Brieftasche.

»Wie wäre es, wenn ich Ihnen das hier gebe?« Er zog zwei Zwanzig-Pfund-Scheine heraus und legte sie auf die Bar. Dann holte er die Fotos von Tom und Caroline Johnson aus der Tasche, die die Polizei bekommen hatte, nachdem die beiden verschwunden waren. »Und Sie erzählen mir, ob Sie diesem Paar eine Wohnung vermietet haben.«

Shifty steckte das Geld ein. »Warum wollen Sie das wissen?«

Weil sie vorgeben, tot zu sein.

Wenn Shifty nur halb so viel Grips hatte, wie es schien, würde er ihnen gar nichts erzählen und bei der Daily Mail anrufen.

»Sie schulden uns Geld«, sagte Sarah.

Einfallsreich. Murray wollte applaudieren. Shifty nickte, offensichtlich gingen ihm die eigenen Erfahrungen mit säumigen Schuldnern durch den Kopf.

»Den Kerl habe ich noch nie gesehen.« Er tippte auf Tom Johnsons Foto. »Aber die Kleine.« Nun tippte er auf Caroline. »Die hat eine von meinen Einzimmerwohnungen in Swad gemietet. Das Haar ist anders, aber das ist sie ganz eindeutig. Nennt sich Angela Grange.«

Murray hätte ihn küssen können! Vorgetäuschte Selbstmorde. Das war ein Riesending. Er wollte Sarah durch die Luft wirbeln, Champagner bestellen, dem ganzen Pub erzählen, was sie entdeckt hatten.

»Großartig«, sagte er.

»Na ja, tat sie wenigstens …« So nahe dran.

»Dann ist sie abgehauen. Schuldet mir noch Miete.«

»Ziehen Sie die doch von der Kaution ab«, schlug Sarah naiv vor.

Murray versuchte, ernst zu bleiben, doch es gelang ihm nicht.

Shifty sah sie an, als hätte sie ihm geraten, sich die Haare zu waschen. »Welche Kaution? Die Leute mieten bei mir, weil es keine Kaution gibt. Keine Verträge. Keine Fragen.«

»Keine Teppiche«, ergänzte Caz hinter der Bar.

»Klappe halten«, sagte Shifty nicht unfreundlich.

»Könnten wir uns die Wohnung mal ansehen?« Wer nicht wagt, dachte Murray. Ein richtiger Vermieter würde ihm sagen, wohin er sich scheren könnte. Shifty jedoch …

»Meinetwegen. Kommen Sie morgen Vormittag.« Er blickte zu dem vollen Pint und dem Whiskey vor sich. »Lieber nach dem Mittagessen.«

Die Adresse, die Shifty ihnen aufgeschrieben hatte, war in Swadlincote, fünf Meilen von Coton in the Elms entfernt und nicht annähernd so charmant. Eine Reihe von Wohlfahrtsläden und mit Brettern vernagelten Geschäften schmückten die Hauptstraße, und eine bunte Schar Jugendlicher vor dem ebenfalls geschlossenen Supermarkt legte nahe, dass Arbeitsplätze hier rar waren.

Murray und Sarah fanden Potters Road und parkten vor dem Wohnblock, den Shifty ihnen beschrieben hatte. Es war ein Rotklinkerbau, bei dem mehrere Fenster mit Metallgittern versehen waren, die wiederum Graffiti zierten. Auf die Haustür war ein großer gelber Penis gesprüht.

»Hübsch hier«, sagte Sarah. »Wir sollten herziehen.«

»Und die reizende Aussicht«, pflichtete Murray ihr bei. Ein Hügel alter Matratzen lag im ungepflegten Vorgarten. Mittendrin war ein verkohlter Fleck, wo jemand versucht hatte, die Dinger in Brand zu stecken.

Sarah nickte zu einem Wagen, der heranfuhr – der einzige in der verlassenen Straße. »Meinst du, das ist er?«

An Shiftys Wagen war nichts Unauffälliges: ein weißer Lexus, tiefergelegt und mit übergroßen Reifen. Blaue LEDs leuchteten hinter dem silbernen Kühlergrill, und ein riesiger Spoiler beschwerte das Heck.

»Nobel.«

Murray stieg aus. »Vielleicht wartest du lieber im Wagen.«

»Nie im Leben.« Sarah sprang aus dem Auto und wartete, dass Shifty hinter seinen getönten Lexus-Scheiben vorkam. Der Mann war ein wandelndes Klischee. Murray überraschte, dass er kein Goldkettchen zwischen den Hemdknöpfen blitzen sah.

Für ein »Guten Morgen« war keine Zeit. Shifty nickte kurz und schritt auf den penisverzierten Eingang zu.

Die Einzimmerwohnung, in der Angela Grange alias Caroline Johnson die letzten zwölf Monate verbracht hatte, war deprimierend. Sie war sauber – vermutlich sauberer als bei Carolines Einzug, unterstellte Murray, nachdem er das dreckige Treppenhaus gesehen hatte –, doch die Wandfarbe blätterte ab, und wegen der geschlossenen Fenster glänzte Kondenswasser an den Wänden. Murray nickte zu den zusätzlichen Riegeln an der Tür.

»Ist das hier Standard?«

»Die hat sie angebracht. Der war mächtig bange.«

»Hat sie das gesagt?«

»Musste sie nicht. Die war schreckhaft wie nur was. Und mich geht das nichts an.« Shifty wanderte durchs Zimmer, suchte nach Schäden. Er zog eine Schublade auf und hob einen schwarzen BH heraus, mit dem er sich anzüglich grinsend zu Murray umwandte. »Neunzig C, falls Sie das interessiert.«

Tat Murray nicht. Doch wenn Shifty herumschnüffeln wollte, konnte er es auch.

Der war mächtig bange

Tom. Er musste es sein. Und wenn Caroline aus dem Ort geflohen war, bedeutete das, dass er sie in dieser Wohnung aufgespürt hatte? Murray fand er schwer, mit allem Schritt zu halten. Diese Ermittlung hatte sich von einem Doppel-Selbstmord zu einem möglichen Mord zu einem vorgetäuschten Selbstmord gewandelt und nun zu … was?

War Caroline noch auf der Flucht, oder hatte Tom sie eingeholt?

Hatte Murray es jetzt mit einer Entführung zu tun?

Es wäre das perfekte Verbrechen. Denn wer würde nach einer Toten suchen?

In der Wohnung befand sich nicht viel. Einige Kleidung, eine Dosensuppe im Küchenschrank, Milch im Kühlschrank, die Murray nicht einmal zu öffnen wagte. Der Mülleimer stank nach vergammeltem Essen, trotzdem hob Murray den Deckel hoch. Er nahm sogar einen Holzlöffel von der Spülablage und stocherte in dem Müll. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. War es möglich, dass Caroline ihren eigenen Tod nicht aus finanziellen Gründen vorgetäuscht hatte, sondern aus Angst? Tom hatte sie erpresst, verlangte immer mehr Geld, bis Caroline glaubte, ihr einziger Ausweg sei, zu verschwinden. Schließlich hatte es bei ihrem Mann funktioniert.

Murray bemerkte einen Stapel Papiere unter einem Haufen alter Teebeutel. Etwas an dem Aussehen – dem Logo – kam ihm vertraut vor, und als er die Blätter herauszog, erkannte er, um was es sich handelte. Die Frage war nur, warum hatte Caroline sie?

Als er das Dokument durchlas, begannen die Puzzleteile, sich zu einem Bild zusammenzufügen. Selbstmorde konnten aus Geldgründen vorgetäuscht werden. Auch wegen Sex. Aber dass Leute verschwanden, geschah bisweilen aus einem anderen Grund, und wie es aussah, hatte Murray den soeben entdeckt.