Dreiundzwanzig
Murray
Anna Johnson sah müde aus. Sie hatte dunkle Augenringe, und obwohl sie höflich lächelte, als sie die Tür öffnete, zeigte sie keine Spur von jener Entschlossenheit, die Murray gestern bei ihr gesehen hatte. Sie führte ihn in die Küche, wo Mark Hemmings den Frühstückstisch abräumte.
Murray fand diese Paardynamik interessant. Trotz Annas offensichtlicher Stärke schien sie Mark übernehmen zu lassen, sowie die beiden zusammen waren. Murray fragte sich, ob das freiwillig oder mit Absicht geschah. War es Mark, der in dieser Beziehung das Sagen hatte? War es wirklich eine Lüge, dass er Caroline Johnson nicht gekannt hatte?
»Verzeihung, störe ich?«
»Ganz und gar nicht. Wir sind heute nur ein bisschen spät dran, nach gestern Abend.«
»Gestern Abend?« Es standen mehrere Weingläser kopfüber zum Abtropfen neben dem Spülbecken. Murray lächelte, um die Spannung zu lockern, die er nicht ganz verstand. »Ah, war es ein lustiger Abend?« Er sah erst Anna, dann Mark an, und sein Lächeln erstarb. Anna starrte ihn wütend mit halb offenem Mund an.
»Ein lustiger Abend? Was zum …«
Mark kam herbei und legte einen Arm um Anna. »Ist ja gut.« Dann wandte er sich an Murray: »Jemand hat einen Ziegelstein durch das Fenster unserer Tochter geworfen, zusammen mit einer Nachricht. Das hätte sie umbringen können!«
Murray zückte seinen Notizblock. »Um welche Zeit war das?«
»Gegen Mitternacht«, antwortete Anna. »Wir waren …« Mark unterbrach: »Müssen wir das alles noch mal durchkauen? Wir waren bis zwei Uhr morgens auf, um Aussagen zu machen.«
In diesem Moment bemerkte Murray die Papiere auf dem Küchentisch. Eine Karte mit Kontaktdaten der Notrufzentrale; die Opferhilfe-Broschüre, bei der die Telefonnummer mit Kugelschreiber eingekreist war. Er steckte seinen Notizblock wieder ein.
»Nein, selbstverständlich nicht. Ich kläre das mit den Einsatzbeamten und vergewissere mich, ob sie alle Informationen haben, die sie brauchen.«
Mark verengte die Augen. »Sie haben gefragt, ob wir eine Fallnummer haben.«
Ein vertrautes Gefühl regte sich tief in Murrays Bauch.
»Von der anderen Sache – der Karte zum Jahrestag.«
Als Murray noch in der Probezeit gewesen war, hatte er sich einen üblen Patzer geleistet, der sich prompt rächte. Der Sergeant – ein sehr scharfer Polizist aus Glasgow – hatte Murray in sein Büro zitiert und gefragt, warum in dem »glasklaren Fall, Junge!« nichts unternommen worden war. Und er hatte Murray umgehend zur Verkehrspolizei geschickt. Folglich hatte Murray im Regen gestanden, wo ihm Wasser vom Helm tropfte, und ihm war kotzübel gewesen. Drei Wochen, und schon war er abgemahnt worden. War es das? Würde ihn dieser Vorgesetzte als miesen Anwärter abschreiben?
War es nicht, und der Vorgesetzte gab ihm eine zweite Chance. Was wiederum daran gelegen haben könnte, dass Murray sich von jenem Moment an schwor, jedes Opfer mit dem Feingefühl zu behandeln, das es verdiente, und sich strikt an die Regeln zu halten.
Bei diesem Fall hatte er es nicht getan.
»Kein Grund zur Sorge«, sagte er so munter wie möglich.
»Ich regle das auf dem Revier.«
»Warum haben wir keine Fallnummer?«, fragte Anna. Sie nahm das Baby aus seiner Wippe und kam zu Murray zurück.
»Sie ermitteln doch ernsthaft, oder nicht?«
Murray legte metaphorisch die Hand aufs Herz und nickte. »Ich versichere Ihnen, das tue ich.« Sogar ernsthafter als für den Fall, dass ich die Sache direkt dem CID übergeben hätte, ergänzte er im Geiste. Trotzdem blieb diese dumpfe Nervosität wie ein Knoten in seinem Bauch, und er fragte sich, ob sich nicht in diesem Moment jemand auf der Wache darüber wunderte, warum Murray Mackenzie, ein pensionierter Polizist, der nun am Empfang der Lower-Meads-Wache arbeitete, in einem möglichen Doppelmord ermittelte.
»Ich wollte eigentlich etwas überprüfen«, sagte Murray. Er holte die Visitenkarte aus seiner Innentasche, die Sarah in Caroline Johnsons Terminkalender gefunden hatte, behielt sie jedoch zunächst verdeckt in der Hand. »Mr Hemmings, Sie sind Annas Eltern nie begegnet?«
»Stimmt, das sagte ich Ihnen gestern schon. Anna kam überhaupt erst zu mir, weil die beiden gestorben waren.«
»Richtig. Also, als Sie Anna kennenlernten, haben Sie erstmals …«, Murray suchte nach dem richtigen Wort, wobei er Anna mitfühlend zulächelte, »… erstmals von ihrer Situation erfahren?«
»Ja.« In Marks Antwort schwang ein Anflug von Ungeduld mit.
»Ist dies hier von Ihnen, Mr Hemmings?«
»Ja. Ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen folgen …«
Murray reichte ihm die Karte, wobei er sie umdrehte. Neugierig trat Anna näher und sah die Schrift auf der Rückseite. Sie rang nach Luft, gefolgt von einem verwirrten Ausdruck.
»Das ist Mums Handschrift.«
»Ich habe die Karte im Terminkalender Ihrer Mutter gefunden«, sagte Murray sanft.
Marks Mund arbeitete, doch es kam kein Ton heraus. Dann riss er Murray die Karte aus der Hand. »Und … was? Ich weiß nicht, warum sie meine Karte hatte.«
»Anscheinend hatte sie einen Termin bei Ihnen, Mr Hemmings.«
»Einen Termin? Mark, was soll das heißen? War meine Mutter … eine Patientin von dir?« Anna machte einen Schritt rückwärts, distanzierte sich unbewusst von der Visitenkarte und dem Vater ihres Kindes.
»Nein! Mein Gott, Anna! Ich sage doch, ich habe keine Ahnung, warum meine Karte bei ihren Sachen war.«
»Gut. Nun, ich wollte nur sichergehen.« Murray hielt Mark auffordernd die Hand hin. Der jüngere Mann zögerte, bevor er die Karte so offensichtlich nachlässig in Murrays Richtung warf, dass der sie fangen musste, ehe sie zu Boden segelte. Murray lächelte höflich. »Dann lasse ich Sie mal allein.«
Man entzünde die Lunte und trete zurück, dachte Murray, als er das Haus verließ. Mark Hemmings hatte einiges zu erklären.