Sechs
Man darf nicht zurück. Das würde die Leute aus der Bahn werfen. Gäbe es ein Handbuch, wäre das die erste Regel – niemals zurückgehen –, dicht gefolgt von der zweiten Regel: Keiner darf dich sehen.
Man muss weitermachen.
Doch es ist schwierig, weiterzumachen, wenn man eine Unperson ist; wenn man das Leben hinter sich gelassen hat, das man kannte, und bisher kein neues angefangen hat. Wenn man im Niemandsland zwischen diesem Leben und dem nächsten festhängt. Wenn man tot ist.
Ich habe die Regeln befolgt.
Ich war in dieses Halbleben verschwunden, einsam und gelangweilt.
Mir fehlt mein altes Leben. Mir fehlt unser Haus: der Garten, die Küche, die Kaffeemaschine, die du aus einer Laune heraus gekauft hast. Und so nichtssagend es sich auch anhört, fehlen mir die Maniküren und die Strähnen alle sechs Wochen. Mir fehlen meine Sachen; mein wundervoller begehbarer Kleiderschrank voller gebügelter Kostüme und sorgfältig gefaltetem Kaschmir. Ich frage mich, was Anna mit alledem gemacht hat – ob sie die Sachen trägt.
Ich vermisse Anna.
Mir fehlt unsere Tochter.
Ihr letztes Schuljahr verbrachte ich in Furcht vor ihrem ersten Jahr am College. Ich hatte Angst vor der Leere, die ohne sie herrschen würde. Sie hat nie gewusst, welchen Einfluss sie auf uns hatte. Ich fürchtete mich davor, einsam zu sein. Allein zu sein.
Alle sagten immer, sie wäre mir wie aus dem Gesicht geschnitten; dann sahen wir uns bloß an und lachten, weil wir es nicht sehen konnten. Wir waren so verschieden. Ich liebte Partys, Anna hasst sie. Ich liebte Shoppen, meine Tochter ist sparsam, kommt lange mit ihren Sachen aus und flickt sie. Wir hatten das gleiche mittelbraune Haar – ich verstand nie, warum sie sich nicht blondieren wollte – und die gleiche Figur, wobei meine Neigung zum Molligen ausgeprägter war als ihre. Mit meiner neuen Leichtigkeit komme ich gut klar, denke ich, auch wenn ich zugebe, dass mir die Komplimente von Freunden fehlen.
Die Reise nach unten dauert länger, als ich mir vorgestellt hatte, doch meine Müdigkeit verpuffte in dem Augenblick, in dem ich einen Fuß auf vertrautes Terrain setzte. Wie ein Häftling auf Freigang sauge ich meine Umgebung in mich auf, staune, wie viel sich für mich verändert hat, aber doch so gleich geblieben ist. Dieselben Bäume, immer noch ohne Laub; eine Szenerie, so identisch mit der, die ich verließ, dass es mir vorkommt, als wäre ich bloß einen Moment fortgewesen. Dieselben belebten Straßen und übellaunigen Busfahrer. Ich sehe Ron Dyer, Annas alten Schuldirektor, und verstecke mich im Schatten. Es wäre nicht nötig gewesen, denn er starrt direkt durch mich hindurch. Die Leute sehen nur, was sie sehen wollen, nicht wahr?
Langsam schlendere ich durch ruhige Straßen, genieße die verbotene Freiheit, die ich mir herausnahm. Jede Handlung hat Konsequenzen, und ich habe die Regeln nicht unbedacht gebrochen. Sollte ich erwischt werden, riskiere ich, mein nächstes Leben zu verlieren und stattdessen im Fegefeuer zu landen. In meinem selbst gemachten Gefängnis. Aber der Kitzel, wieder zurück zu sein, lässt sich schwerlich ignorieren. Meine Sinne kribbeln nach so langer Abwesenheit, und als ich in die nächste Straße biege, fühle ich ein Rasen in meiner Brust.
Fast zu Hause. Zu Hause. Ich bremse mich. Erinnere mich daran, dass es jetzt Annas Zuhause ist. Ich vermute, dass sie einiges verändert hat. Sie mochte immer schon das Schlafzimmer hinten, wo das hübsche blaue Rankenmuster auf der Tapete ist, doch vermutlich ist es albern, sie mir jetzt dort vorzustellen. Sie wird unser Schlafzimmer übernommen haben.
Für einen Moment schwächeln meine Schutzmechanismen, und ich denke an den Tag, an dem wir hinfuhren, um uns Oak View anzusehen. Die Vorbesitzer, ein altes Ehepaar, hatten alle Stromleitungen erneuert und das Haus an die städtischen Gasund Abwasserleitungen anschließen lassen, womit der teure Öltank wegkonnte. Die schreckliche Klärgrube ist dagegen bis heute im Garten vergraben. Dein Vater hatte schon ein Angebot gemacht, so dass wir dem Haus nur noch Leben einhauchen mussten: die Originaltüren und -kamine freilegen und die längst zugepinselten Fenster wieder beweglich machen.
Ich werde langsamer. Jetzt, da ich hier bin, werde ich nervös. Ich konzentriere mich auf die beiden Dinge, die ich tun muss: Anna davon abhalten, zur Polizei zu gehen, und mich vergewissern, dass jedweder Beweis auf Suizid schließen lässt, nicht Mord.
Bloß wie?
Vor mir biegt ein Paar Arm in Arm in die Straße ein. Ich verstecke mich in einem Hauseingang, bis sie weg sind, und nutze die Zeit, um mich zu beruhigen. Ich muss Anna begreiflich machen, in welcher Gefahr sie schwebt, wenn sie anfängt, alles infrage zu stellen. Wie kann ich das und gleichzeitig unsichtbar bleiben? Ich stelle mir ein Comic-Heft-Gespenst vor, das mitten in der Nacht mit Ketten rasselt und herumheult. Lächerlich. Unmöglich. Aber wie sonst kann ich ihr eine Botschaft vermitteln?
Ich bin hier. Vor unserem – Annas – Haus. Ich ziehe mich auf die andere Straßenseite zurück, und als sich selbst das zu unbehaglich nah anfühlt, bewege ich mich zum eingezäunten Park in der Platzmitte und beobachte alles durch die Dornenzweige eines Stechpalmenstrauchs. Was, wenn sie nicht zu Hause ist? Ich konnte ja schlecht vorher anrufen, um sicherzugehen. Was ist, wenn ich das Risiko ganz umsonst auf mich genommen habe? Wenn es vergebens war, hier runterzukommen? Ich könnte alles verlieren. Schon wieder.
Ein Geräusch auf der Straße lässt mich weiter hinter den Strauch zurückweichen. Ich linse durch die Dämmerung auf die Straße. Eine Frau, die einen Kinderwagen schiebt. Sie telefoniert, geht langsam. Ist abgelenkt. Ich beobachte weiter das Haus, suche in allen Fenstern nach Anzeichen von Leben.
Die Kinderwagenräder surren rhythmisch auf dem nassen Pflaster. Ich erinnere mich daran, wie ich Anna auf dem Vorplatz von Johnson’s umhergeschoben hatte, zwischen den Autos hindurch, drum herum, damit sie einschlief. Wir waren ja selbst noch halbe Kinder, kamen kaum mit dem aus, was dein Dad als angemessene Bezahlung für uns erachtete. Der Kinderwagen war ein gebrauchtes Ungetüm und so stark gefedert, dass Anna jedes Mal wach wurde, wenn wir über einen Hubbel rollten. Nicht so schick und modern wie der Kinderwagen von dieser Frau.
Sie bleibt vor dem Haus stehen, und ich schnalze mit der Zunge, weil sie weitergehen soll, bevor ich irgendeine Bewegung hinter den offenen Vorhängen verpasse. Aber sie geht nicht vorbei. Und jetzt sehe ich, dass sie nicht allein ist. Sie hat einen Hund bei sich, der im Schatten neben ihr läuft. Mir fährt ein Stich durch die Brust.
Ist das …?
Die Kinderwagenräder knirschen über den Kies, als sie den Wagen durch das Tor und auf die Haustür zu schiebt. Das Buntglas in der Tür wirft ein sanft rotes Licht nach draußen, das von der Dielenlampe rührt.
Ja. Das ist sie.
Die Frau beendet den Anruf und steckt ihr Handy in eine Tasche. Sie nimmt einen Schlüssel hervor und schiebt gleichzeitig ihre Kapuze nach hinten, so dass ich mittelblondes Haar im Licht über der Tür sehe, die sanften Züge über einem Mund, der sonst immer so schnell lächelt, und da setzt ein Hämmern in meinem Kopf ein, weil sie es ist.
Es ist Anna! Und ein Baby.
Unsere Tochter hat ein Baby.
Sie dreht sich um, um den Kinderwagen die Stufen hinauf in die Diele zu ziehen, und für eine Sekunde sieht sie zum Park. Es fühlt sich an, als würde sie mich direkt ansehen. Tränen glänzen auf ihren Wangen. Sie fröstelt, zieht das Baby in die sichere Diele und schließt die Tür.
Anna hat ein Baby.
Ich habe ein Enkelkind.
Und obwohl ich weiß, dass es mir niemand hätte erzählen können – nichts beendet die Kommunikation so verlässlich wie ein Totenschein –, empfinde ich eine ungeheure Wut, weil der Übergang von Mutter zu Großmutter stattfand, ohne dass ich etwas wusste.
Anna hat ein Kind!
Das verändert alles. Es wird Anna verändern. Mutter zu sein wird sie grundsätzlich alles infrage stellen lassen; es wird sie dazu bringen, über ihr Leben und ihre Beziehungen ganz neu nachzudenken.
Über meinen Tod. Deinen.
Ein Baby zu haben, macht Anna verwundbar. Sie hat jetzt etwas, das sie mehr als alles andere auf der Welt liebt. Und jeder, der das weiß, kann es gnadenlos gegen sie einsetzen.
Such nicht nach Antworten, Anna. Dir wird nicht gefallen, was du findest.
Wenn sie zur Polizei geht, bringt sie sich und ihr Baby in Gefahr.
Sie wird etwas in Bewegung setzen, das sich nicht aufhalten lässt.