Fünfunddreißig

Anna

Den ganzen Abend habe ich Ella nicht im Arm gehabt. Sie wird herumgereicht wie ein Paket, genießt anscheinend die Aufmerksamkeit und hat nichts dagegen, von einem netten Fremden zum nächsten zu wandern. Roberts Weihnachtsparty ist der letzte Ort, an dem ich sein will, aber zumindest habe ich hier eine Pause von Mark und seiner Mutter, deren Mitgefühl für mich ungefähr gegen Mittag versiegt war. Ich bemühte mich wirklich – habe Ellas Strumpf ausgepackt, den ich erst Stunden zuvor befüllt hatte, während ich einen Bellini mit mehr Pfirsich als Prosecco zum Frühstück trank –, doch jede Unterhaltung war eine Kraftanstrengung. Jedes Wort fühlte sich wie eine Lüge an.

»Sie könnte sich ein wenig bemühen. Es ist schließlich Ellas erstes Weihnachten.«

Es musste so gegen drei Uhr gewesen sein. Mark und Joan wuschen nach dem Mittagessen ab. Ich blieb auf der Treppe stehen und grub meine nur in Socken gehüllten Zehen in den Teppich. Es war kein Lauschen, nur … Zuhören.

»Sie trauert, Mum.«

»Ich habe getrauert, als dein Vater starb, aber nicht aufgegeben, oder? Ich habe die Fassung gewahrt, meine Schürze umgebunden und mich weiter um euch alle gekümmert.«

Mark sagte etwas, das ich nicht verstand, und ich ging weiter nach unten in die Diele, wo ich absichtlich auf das knarzende Dielenbrett trat, das ich sonst meide. Die Stimmen in der Küche verstummten sofort, und als ich in der Küche ankam, wuschen sie schweigend ab.

»Da ist sie ja! Hier ist die junge Mutter!« Joan strahlte sehr gekünstelt. »Hast du dich ein bisschen ausruhen können, Liebes?«

Ich hatte nicht geschlafen. Wie könnte ich? Aber ich nutzte die Chance, mich zurückzuziehen, um Marks bohrender Sorge und Joans wachsendem Unmut zu entkommen, weil ich nicht die Partymaus war. Ich hatte auf meinem Bett gelegen und an die Decke gestarrt, während sich meine Gedanken wild im Kreis drehten.

Tun sie noch. Wo ist Mum jetzt? Hat sie Weihnachten im Hope verbracht? Ist sie in Sicherheit? Warum interessiert mich das überhaupt? Der Gedanke, dass Ella in ihrem Kinderzimmer hätte sein können, als der Ziegelstein durchs Fenster flog, versetzt mich in schreckliche Angst. Meine Mutter hat uns das angeschleppt. Genauso gut hätte sie selbst den Stein durch die Scheibe schmeißen können.

Wie soll ich ihr das vergeben?

Und warum, nachdem ich weiß, was mein Vater getan hat, will ein Teil von mir ihn immer noch wiedersehen?

Die letzten vierundzwanzig Stunden habe ich den Film meiner Kindheit neu durchgespielt, mit allen Filtern, die ich nun habe, und dem Wissen, dass mein Vater nicht der Mann war, für den ich ihn gehalten habe. Mein Leben ist in seinen Grundfesten erschüttert worden, weil alles auf Lügen aufgebaut war.

Seinen eigenen Tod täuscht man nicht kurz mal vor. Meine Mutter muss verzweifelt gewesen sein.

Sie braucht mich.

Und ich kann ihr nicht vergeben. Ich brauche sie.

So geht es die ganze Zeit im Kreis.

In Roberts Wohnzimmer drängen sich unsere Nachbarn. Es gibt auch einige Kinder, obwohl die meisten Anwohner älter als wir sind, erwachsene Kinder haben, die bei ihren Familien sind. Ich kenne jeden hier, außer dem Paar am Kamin, bei dem es sich um die neuen Bewohner des Sycamore handeln muss – dort habe ich letzte Woche den Umzugswagen gesehen.

Mark ist in eine lebhafte Diskussion über alternative Therapien mit Ann und Andrew Booth von zwei Türen weiter vertieft, und Joan hat einen gemütlichen Platz auf dem Sofa gefunden, von dem sie sich nicht wegbewegt. Ich schlendere langsam von Zimmer zu Zimmer. In der Küche, der Diele und dem Wohnzimmer stehen überall kleine Gruppen zusammen, und ich wechsle von einer zur anderen, einen Teller mit Essen in der einen, einen Drink in der anderen Hand, als sei ich unterwegs zu meinem Platz. Keiner hält mich auf. Ich will nicht in einer Ecke stehen und Leuten das Gefühl geben, sie müssten zu mir kommen und fragen, wie es mir geht. Ich will nicht reden.

Jeder heute Abend hat mir sein Beileid ausgedrückt, genau wie damals bei der Trauerfeier für meine Eltern. Mir wird unangenehm heiß bei dem Gedanken, wie viele Tränen vergossen wurden, wie viele Beinahe-Fremde sich die Zeit nahmen, eine Karte zu schreiben, einen Auflauf zu machen, Blumen zu schicken.

Was würden sie sagen, wenn sie Bescheid wüssten?

Bei all den wohlmeinenden, aufrichtigen Plattitüden wird mir schlecht vor Schuldgefühlen. Deshalb ziehe ich von Zimmer zu Zimmer, meide jeden Blickkontakt, bleibe nicht stehen. Ich gehe an Robert vorbei, der mit den älteren Schwestern aus dem Eckhaus Hof hält. Sie wohnen eigentlich nicht mehr in unserer Straße, aber sie machen sensationelle Würstchen im Schlafrock, die dafür sorgen, dass die zwei zu allen gemeinschaftlichen Veranstaltungen geladen werden.

»… ein sehr unaufdringlicher Entwurf. Ich würde euch gerne die Pläne zeigen.« Er sichert sich einen nach dem anderen die Zustimmung für seinen Anbau. Mark hat er bisher nicht für sich gewonnen, aber ich wette, das wird er noch.

»Ich würde euch natürlich für die Unannehmlichkeiten entschädigen«, hatte Robert gesagt, als er zu uns kam, um uns die Pläne zu zeigen. Zu denen gehörte, dass er zeitweise die Grenze zu unserem Grundstück übertrat und die alte Klärgrube samt Abwassersystem ausheben ließ. »Ich sorge dafür, dass sämtliche Pflanzen ersetzt werden und ein neuer Rasen angelegt wird, sobald es fertig ist.«

»Ich mache mir nur Gedanken, ob es nicht zu dunkel wird«, entgegnete Mark wieder.

Er hätte sich gut mit meiner Mutter verstanden, sich ihrem Feldzug gegen den Anbau anschließen können, ihre Argumente rund um Umwelt- und Bauschutz angehört. Für einen Moment sehe ich die beiden am Küchentisch sitzen und ihre Strategie planen, und ich muss schlucken, um nicht zu weinen. Mark würde meine Mutter mögen – das weiß ich. Und sie ihn, wie sie jeden mögen würde, der so für mich sorgt wie er.

Plötzlich kommt mir Murray Mackenzie mit Marks Visitenkarte in den Sinn, auf der Rückseite eine Notiz von meiner Mutter. Ich verdränge das Bild.

Sie sind sich nie begegnet. Mark sagt das jedenfalls, und er hat keinen Grund zu lügen. Ich vertraue ihm.

Ich vertraue ihm, kann ihm aber nichts von meiner Mutter erzählen. In dem Moment, in dem ich es tue, wird er verlangen, dass ich die Polizei informiere. Für Mark gibt es keine Grauzonen, nur Schwarz oder Weiß. Früher mochte ich das an ihm. Mag es noch, nur ist es jetzt … kompliziert. Ich schlendere zurück in die Küche. Ein Nachbar, der einige Häuser weiter wohnt, sieht zu mir, und ohne nachzudenken, lächle ich ihn an.

Ich sehe gleich wieder weg, doch es ist zu spät. Er kommt bereits auf mich zu, dicht gefolgt von seiner Frau.

»Eben habe ich zu Margaret gesagt, dass wir unbedingt noch mit Ihnen reden müssen, ehe wir gehen, nicht wahr, Margaret?«

»Hi, Don, hallo, Margaret.«

Er tritt einen Schritt zurück und mustert mich von oben bis unten wie ein entfernter Onkel. Ich frage mich, ob er gleich sagt, wie groß ich geworden bin, doch stattdessen seufzt er.

»Sie sind ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Stimmt doch, oder, Margaret?«

»Oh ja. Wie ein Ei dem anderen gleicht.«

Ich ringe mir ein Lächeln ab. Nein, ich will nicht wie meine Mutter sein.

»Wie geht es Ihnen?«

»Gut, danke.«

Don sieht regelrecht enttäuscht aus. »Es muss hart für Sie sein.«

»Weihnachten«, ergänzt Margaret für den Fall, dass ich vergessen habe, welcher Tag heute ist.

Obwohl ich die letzten neunzehn Monate getrauert habe, bin ich plötzlich gelähmt vor Unsicherheit. Soll ich weinen? Was erwarten sie von mir?

»Mir geht es gut«, wiederhole ich.

»Es fühlt sich immer noch unwirklich an«, sagt Don. »Ich meine, alle beide – was für eine Tragödie.«

»Eine furchtbare Tragödie«, stimmt Margaret ein. Sie reden im Grunde nur miteinander – meine Anwesenheit ist nicht von Belang –, und ich habe das ungute Gefühl, dass sie mich als Katalysator für ihre Unterhaltung ausgesucht haben. Für das schaurige Vergnügen, das man dem Pech anderer abgewinnt. Ich blicke mich in der Küche um, wer gerade Ella hält, damit ich vorgeben kann, sie stillen zu müssen.

»Ich dachte gestern, ich hätte sie im Park gesehen.« Ich erstarre.

»Seltsam, was die Fantasie einem für Streiche spielt.« Margaret stößt ein kurzes Lachen aus. Dann schaut sie sich um – eine Märchentante in voller Fahrt –, und ihr Lachen verebbt schlagartig, sobald ihr Blick wieder auf mich fällt. Hastig setzt sie eine beinahe mitfühlende Miene auf. »Ich meine, als ich genauer hinsah, war sie Caroline überhaupt nicht mehr ähnlich. Älter, schwarzes Haar – vollkommen anders. Und dazu noch in Sachen, in denen sie sich nicht mal tot sehen lassen würde …« Zu spät erkennt sie ihren Fauxpas.

»Würden Sie mich bitte entschuldigen?«, sage ich. »Das Baby …« Ich beende den Satz nicht einmal, pflücke Ella aus den Armen einer anderen Nachbarin und gehe Mark suchen. Ich finde ihn im Arbeitszimmer, wo er zusammen mit Robert die Anbaupläne studiert.

»Ich bringe Ella nach Hause. Sie ist müde. Der ganze Trubel!« Ich lächle Robert zu. »Danke für die nette Party.«

»Ich komme mit euch. Mum wird auch ins Bett wollen. Wir sind hier sowieso fertig, oder?«

Die Männer schütteln sich die Hand, und ich frage mich, was sie besprochen haben, während ich mich auf die Suche nach Joan mache. Wie immer dauert es ewig, bis wir wegkommen, denn wir müssen uns von allen verabschieden und ihnen frohe Weihnachten wünschen. Dabei sehen wir die meisten dieser Leute ohnehin täglich auf der Straße oder im Park.

»Bis Sonntag!«, ruft jemand, als wir endlich gehen. Ich warte, bis wir außer Hörweite sind. »Sonntag?«

»Ich habe die Nachbarn zu Silvester eingeladen.«

»Zu einer Party?«

Er sieht mein Gesicht. »Nein, keine Party! Nur ein paar Drinks, um das neue Jahr einzuläuten.«

»Also doch eine Party.«

»Vielleicht eine kleine Party. Ach, jetzt komm schon! Für Silvester würden wir nie einen Babysitter finden, und so können wir zu Hause bleiben und trotzdem Spaß haben. Eine Win-win-Situation. Schreib Laura, ob sie schon etwas vorhat. Und Bill natürlich auch.«

Bis dahin sind es noch Tage, sage ich mir. Und ich habe Wichtigeres, um das ich mich sorgen muss.

»Ich habe Robert gesagt, dass wir seinen Bauantrag unterstützen«, sagt Mark, als Ella in ihrem Stubenwagen liegt und wir uns zum Schlafengehen bereitmachen.

»Was hat dich umgestimmt?«

Er grinst mit dem Mund voller Zahnpasta. »Dreißig Riesen.«

»Dreißig Riesen? Es wird doch keine Dreißigtausend kosten, um den Rasen zu ersetzen und ein paar Blumen wieder einzupflanzen.«

Mark spuckt aus und spült das Waschbecken. »Wenn es ihm das wert ist, werde ich mich nicht sträuben.« Er wischt sich den Mund ab, wobei er einen weißen Schmierstreifen auf dem Handtuch hinterlässt. »Jetzt muss ich mir keine Gedanken mehr machen, dass die Wohnung einige Zeit leer steht.«

»Das hättest du so oder so nicht, wie ich dir schon oft genug gesagt habe.«

Er gibt mir einen minzigen Kuss und geht zu Bett.

Ich starre in den Spiegel. Meine Haut ist noch faltenfrei, doch die Konturen, über die sie sich spannt, sind fraglos die meiner Mutter.

Margaret glaubt, sie hätte meine Mutter gestern im Park gesehen. Sie weiß es nicht, aber wahrscheinlich hat sie das. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie jemand wirklich erkennt. Bis jemand die Polizei ruft.

Ich könnte dem allen jetzt ein Ende setzen, indem ich die Wahrheit sage.

Also warum tue ich es nicht? Seit über vierundzwanzig Stunden weiß ich, dass meine Eltern leben; dass mein Vater seinen Tod vortäuschte, um den Schulden zu entkommen, und dass meine Mutter ihren vortäuschte, um meinem Vater zu entfliehen. Sie hat mich betrogen. Mich belogen. Warum rufe ich nicht die Polizei?

Mein Spiegelbild blickt mir entgegen, und die Antwort ist an meinen Augen abzulesen.

Weil sie meine Mutter und in Gefahr ist.