Vierundfünfzig
Anna
Ich drehe mich auf meinem Sitz um. Hinter uns ist ein nagelneuer Mitsubishi Shogun, gut hundert Meter entfernt, aber er holt auf. Die Scheiben sind getönt, so dass ich den Fahrer nicht sehen kann.
»Ist er das? Ist das Dad?«
So habe ich meine Mutter noch nie erlebt. Sie zittert vor Angst. »Du hättest aussteigen sollen. Ich hab alles versucht, damit du aussteigst.« Sie schaut wieder in den Spiegel und reißt das Lenkrad herum, um einem Stück Stoßstange auszuweichen, das mitten auf der Straße liegt. Mein Magen dreht sich um.
»Konzentrier dich aufs Fahren.«
»Bleib unten. Vielleicht hat er dich noch nicht gesehen. Er soll nicht wissen, dass du bei mir bist.«
Ich reagiere automatisch auf die Anweisungen meiner Mutter, wie ich es immer getan habe, löse meinen Gurt, ziehe meine Beine zu einer Seite und beuge mich über Ellas Autositz. Meine Mutter fährt eine scharfe Linkskurve, und ich stütze mich an der Wagentür ab, rutsche oben an Ellas Sitz entlang. Sie schreit erschrocken, und ich versuche, sie zu beruhigen, aber mein Herz fühlt sich an, als würde es gleich aussetzen, und mein »Schhh, Schhhh« klingt hysterischer als ihr Schreien.
»Er ist immer noch hinter uns!« Die Selbstbeherrschung meiner Mutter schwindet; ihr ist dieselbe blanke Panik anzumerken, die ich empfinde. »Und er kommt näher!«
Ellas Schreien wird lauter, steigert sich mit jeder Sekunde in Volumen und Stimmhöhe, als sie sich von der Hysterie ihrer Großmutter anstecken lässt. Ich habe eine Hand innen an der Tür, die andere hinten am Fahrersitz. Im Halbkreis meiner Arme ist Ella, schreit nur Zentimeter von meinem Ohr entfernt. Der Lärm dringt in mein linkes Trommelfell und hinterlässt ein Klingeln, das die Pause füllt, während sie Luft holt für den nächsten Schrei. Ich hole mein Handy aus der Tasche, wische übers Display, um es zu entriegeln. Mir bleibt keine andere Wahl, als die Polizei zu rufen.
»Fahr schneller!«
Noch ein Schlenker nach links, dicht gefolgt von einer Rechtskurve, bei der ich den Halt an Ellas Sitz verliere und in den Fußraum auf der anderen Seite falle. Mein Handy fliegt unter den Beifahrersitz, außer Reichweite. Meine Mutter tritt das Gaspedal durch, und ich krabble zurück, um erneut meine Arme um Ellas Sitz zu schlingen. Dann hebe ich den Kopf. Ich will meinen Vater nicht sehen, kann aber auch nicht widerstehen hinzuschauen.
Meine Mutter schreit mich an. »Bleib unten!«
Ella verstummt vor Schreck, atmet tief ein und schreit wieder los.
Im Rückspiegel sehe ich, dass meiner Mutter die Tränen übers Gesicht strömen, und wie ein Kind, das nur weint, wenn es die Maske seiner Mutter fallen sieht, breche ich zusammen. Das war es. Wir werden sterben. Ich frage mich, ob mein Vater den Wagen rammen oder uns von der Straße drängen wird. Ob er uns umbringen will oder am Leben lassen. Und ich mache mich auf den Aufprall gefasst.
»Anna!« Meine Mutter klingt panisch. »In meiner Tasche … Als ich wusste, dass er mich gefunden hat, hatte ich solche Angst, dass ich …«
Noch eine scharfe Kurve. Quietschende Bremsen.
»Ich hatte nie vor, sie zu benutzen. Es war nur eine Versicherung. Falls …« Sie stammelt. »Falls er mich aufspürt.«
Immer noch liege ich halb auf der Rückbank, die Füße gegen den Beifahrersitz und die Tür gestemmt. Ich öffne die Tasche zu meinen Füßen, wühle in der Kleidung, die ich sie erst vor rund einer Stunde habe einpacken sehen. Es fühlt sich sehr weit weg an.
Ich reiße meine Hand zurück. Meine Mutter hat eine Waffe.
Sie kurbelt an dem Lenkrad, als würde sie in einem Autoskooter sitzen. Mein Kopf knallt gegen die Wagentür. Ella schreit. Ich schlucke und schmecke Erbrochenes in meiner Kehle.
»Eine Waffe?« Die fasse ich nicht an.
»Ich habe sie von meinem Vermieter.« Vor Anstrengung, den Wagen auf der Straße zu halten, klingt es, als wäre zwischen jedem Wort ein Punkt. »Sie ist geladen. Nimm sie. Schütz dich. Schütz Ella.«
Wieder quietschen die Bremsen, als sie eine Kurve zu schnell nimmt. Der Wagen schert erst nach links, dann nach rechts aus, bevor sie ihn wieder unter Kontrolle hat. Ich schließe die Augen, höre die Kupplung, die Pedale, den Motor.
Scharf links. Mein Kopf rammt gegen die Tür, und der Bügel von Ellas Autositz presst gegen meine Brust.
Der Wagen kommt schlitternd zum Stehen. Und dann ist alles ruhig.
Ich höre meine Mutter angespannt atmen und hebe den Kopf, bis meine Lippen die meiner Tochter berühren. Ich schwöre ihr stumm, dass ich eher sterbe, als zuzulassen, dass ihr etwas passiert.
Und das meine ich todernst.
Würde ich die Waffe benutzen? Langsam greife ich danach, fühle das Gewicht des Knaufs in meiner Hand, hebe sie aber nicht an.
Schütze dich. Schütze Ella.
Würde ich meinen eigenen Vater töten, um meine Tochter zu retten? Um mich zu retten?
Ja.
Ich kneife die Augen zu, horche nach einer Autotür. Nach der Stimme meines Vaters.
Wir warten.
»Wir haben ihn abgehängt.«
Ich höre die Worte meiner Mutter, aber sie dringen nicht durch. Mein Körper ist immer noch vollkommen angespannt, meine Nerven liegen blank.
»Die letzte Biegung.« Sie ist außer Atem. »Wir sind abgebogen, bevor er um die Kurve war. Er hat es nicht gesehen.« Sie bricht in lautes Schluchzen aus. »Er hat uns nicht abbiegen sehen.«
Langsam setze ich mich auf und blicke mich um. Wir sind auf einem Feldweg, ungefähr eine halbe Meile von der heckengesäumten Ausfahrt zur Straße. Kein anderer Wagen in Sichtweite.
Ich löse Ellas Gurt und hebe sie in meine Arme, küsse sie auf den Kopf und halte sie so fest, dass sie zappelt, um sich zu befreien. Dann hebe ich mein T-Shirt, öffne den BH und lege sie an. Sie trinkt gierig, und wir beide entspannen uns. Mir wird bewusst, dass mein Körper dies genauso dringend gebraucht hat wie ihrer.
»Eine Waffe?« Es hört sich nicht real an. »Eine verdammte Waffe?« Ich nehme die Tasche auf und stelle sie auf den Vordersitz neben meine Mutter. Sie war keinen Meter von Ellas Kopf entfernt. Ich darf gar nicht daran denken, was hätte geschehen können, wäre sie losgegangen; hätte ich die Tasche falsch angehoben, wäre draufgetreten …
Meine Mutter sagt nichts. Ihre Hände sind noch am Lenkrad. Falls sie eine Art Zusammenbruch hat, muss ich sie auf den Beifahrersitz bekommen. Ich frage mich, ob wir den Plan aufgeben und zur Polizei fahren sollten. Was wir auch tun, wir müssen bald weiter; hier sind wir zu leichte Ziele, mitten im Nichts. Mein Vater wird bald merken, dass wir abgebogen sind, und umkehren.
»Ich habe es dir doch gesagt, zur Sicherheit. Ich weiß nicht mal, wie das verfluchte Ding funktioniert.«
Sanft ziehe ich Ella von meiner Brust und taste unter dem Sitz nach meinem Telefon. Es ist eine Nachricht von Mark eingegangen.
Keine Spur von dem Ex. Haben allen geschrieben, um die Party abzusagen. Polizei ist unterwegs. Sie brauchen Angelas Geburtsdatum und Adresse. Ruf mich an!
Ich weiche der Frage aus.
Schwarzer Shogun ist uns gefolgt, aber konnten ihn abhängen. Rufe dich an, wenn wir in der Wohnung sind. Ich liebe dich. Kuss!
Ein tiefer Atemzug drängt die Tränen zurück. »Fahren wir. Wir sollten auf den Nebenstraßen bleiben, bis wir an der Autobahn sind.« Ich schnalle Ella wieder in ihren Sitz und lege meinen Gurt an. Dann fahren wir – vorsichtiger, aber nicht weniger eilig – auf gewundenen Nebenstraßen, die nur einen Katzensprung von der A23 entfernt sind. Von den vielen Biegungen und dem häufigen Umdrehen nach anderen Wagen hinter uns wird mir schlecht, und es scheint ewig zu dauern.
Wir reden nicht. Ich versuche es zweimal, aber meine Mutter ist nicht in der Verfassung, Pläne zu machen. Ich muss nur dafür sorgen, dass sie uns heil zu Marks Wohnung bringt.
Sobald wir auf der Autobahn sind, fühle ich mich besser. Hier ist viel Verkehr. Unserer ist einer von tausenden Wagen auf dem Weg nach London. Die Chancen, dass mein Vater uns hier findet, sind verschwindend gering, und falls er es doch schafft, was will er angesichts so vieler Zeugen tun? So vieler Kameras? Mein Blick begegnet dem meiner Mutter, und ich lächle ihr matt zu. Sie bleibt ernst, und prompt nimmt meine Angst wieder zu. Ich schaue mich unwillkürlich nach dem Shogun um.
Wir wechseln auf die M25. Ich mustere die Wagen zu beiden Seiten von uns. In den meisten sind Familien auf dem Heimweg von Weihnachtsfeiern oder unterwegs zur Silvesterparty bei Freunden, die Sitze voller Geschenkpakete und Bettzeug. Ein Paar in einem verbeulten Astra singt vergnügt, und ich stelle mir die klassischen Weihnachtshits vor, die sie gerade hören.
Mein Telefon klingelt. Auf dem Display leuchtet eine unbekannte Nummer.
»Miss Johnson?«
Murray Mackenzie. Ich verfluche mich, dass ich rangegangen bin, und überlege, ob ich auflegen soll und es auf eine schlechte Verbindung schieben.
»Ich muss Ihnen etwas sagen. Etwas … Unerwartetes. Ist jemand bei Ihnen?«
Ich sehe zu meiner Mutter. »Ja. Ich bin im Auto. Meine … eine Freundin fährt. Es ist okay.« Im Rückspiegel sieht meine Mutter mich fragend an, und ich bedeute ihr kopfschüttelnd, dass kein Grund zur Sorge besteht. Sie biegt auf die Überholspur, will schneller fahren, weil wir so nahe am Ziel sind.
Murray Mackenzie scheint um die richtigen Worte zu ringen. Er fängt mehrere Sätze an, von denen keiner einen Sinn ergibt.
»Was ist denn passiert?«, frage ich schließlich. Meine Mutter beobachtet mich im Rückspiegel, sieht abwechselnd zu mir und auf die Straße, merklich besorgt um mich.
»Tut mir leid, dass ich es Ihnen am Telefon sagen muss«, antwortet Murray, »aber Sie sollten es so schnell wie möglich erfahren. Es sind gerade Officers bei Ihnen zu Hause, und ich muss Ihnen leider mitteilen, dass sie eine Leiche gefunden haben.«
Ich schlage eine Hand vor meinen Mund, um meinen Schrei zu unterdrücken. Mark.
Wir hätten nie wegfahren dürfen. Nie erlauben dürfen, dass er sich allein meinem Vater entgegenstellt.
Murray Mackenzie redet noch. Er spricht von Fingerabdrücken und Entstellung, von DNS, vorläufiger Identifizierung und …
Ich unterbreche ihn, weil ich nicht begreife, was ich zu hören glaube. »Verzeihung, was haben Sie gesagt?«
»Wir sind noch nicht sicher, aber erste Anzeichen deuten darauf hin, dass es sich bei dem Toten um Ihren Vater handelt. Es tut mir sehr leid.«
Meine Erleichterung, dass wir sicher sind, währt nur kurz, wird sofort von dem Wissen getrübt, dass Mark bei unserer Abfahrt allein im Haus war.
Ich warte hier und rufe die Polizei.
Was, wenn mein Vater aufgetaucht ist, bevor die Polizei ankam? Mark ist stark; er kann auf sich selbst aufpassen. Hat er meinen Vater angegriffen? Sich verteidigt?
»Wie ist er gestorben?«
Ich versuche zu überschlagen, wann der Shogun hinter uns verschwunden ist. Warum sollte mein Vater zurück zu Oak View fahren, wenn er wusste, dass wir nicht dort waren? Selbst wenn er direkt umgekehrt ist, wie hätte er so schnell dort hinkommen können? Im Rückspiegel sehe ich meine Mutter die Stirn runzeln. Da sie das Gespräch nur zur Hälfte hört, ist sie vermutlich noch verwirrter als ich.
»Wir werden die Autopsie abwarten müssen, um sicher zu sein, aber ich fürchte, es besteht kein Zweifel, dass er ermordet wurde. Es tut mir sehr leid.«
Mir wird heiß und übel. Hat Mark meinen Vater umgebracht?
Notwehr. Es muss Notwehr gewesen sein. Dafür kann er doch nicht ins Gefängnis kommen, oder?
Ein Gedanke, den ich nicht recht fassen kann, nagt an mir, ähnlich einem Kind, das an meiner Hand zieht und mir sagt, ich solle hinsehen … Ich frage mich, ob meine Mutter dem Gespräch folgt; ob sie, trotz allem, einen Anflug von Trauer um den Mann empfindet, den sie vermutlich mal geliebt hat. Doch ihre Augen im Rückspiegel sind kalt. Was auch immer früher zwischen meinen Eltern gewesen sein mag, ist längst gestorben.
Murray redet, ich denke, meine Mutter starrt mich im Rückspiegel an, und es ist etwas in ihrem Blick …
»… seit mindestens zwölf Monaten in der Klärgrube, wahrscheinlich länger«, sagt Murray.
In der Klärgrube.
Das hier hat nichts mit Mark zu tun.
Ich stelle mir die schmale, brunnenähnliche Grube im Garten von Oak View vor, den Lorbeerbaum in seinem schweren Topf. Mir fällt wieder ein, wie meine Mutter darauf bestand, dass wir den Topf von dem Grubendeckel nehmen; wie besessen sie von Robert Drakes Anbau war. Dem Anbau, für den die alte Grube entsorgt werden musste.
Sie wusste es. Sie wusste, dass er dort war.
Mein Brustkorb ist zu eng. Jeder Atemzug fällt flacher aus als der vorherige. Ich starre meine Mutter an, und obwohl das Handy an meinem Ohr ist, kann ich nicht hören, was Murray Mackenzie sagt. Ich kann nicht sprechen. Denn mir wird klar, dass es nur einen Grund gibt, aus dem sie von meinem Vater in der Klärgrube wissen kann.
Weil sie ihn dort hineingeworfen hat.