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New York aus der Luft, fand Lara, sah aus wie der Londoner Stadtteil Croydon im Großformat. Als sie eine Schleife über Newark drehten, verstärkte der Ikea-Komplex am Stadtrand die Illusion noch. Erst am Boden, als sie in ihrem riesigen gemieteten Chevrolet die von Dunst verhangene New-Jersey-Schnellstraße entlangfuhren, offenbarte sich ihnen das klassischere Panorama der Stadt in Gestalt der Skyline von Manhattan. Der Anblick war so imposant, dass die gesamte Familie Wayland – der kleine Jack natürlich ausgenommen – spontan eine kurze Mundtrompeten-Version von Rhapsody in Blue anstimmte, eine Auswirkung ihrer Woody-Allen-Recherchen im Vorfeld der Reise.

Noch bevor sie das Asphaltgewirr der nordwärts führenden Straßen hinter sich gelassen hatten, musste Lara Marcus bitten, anzuhalten, weil ihr übel war. Außerdem hatte sie ziemlich starke Blutungen. Nachdem sie ihren Eiscreme-Snack erbrochen hatte, der ihnen kurz vor der Landung von Virgin Atlantic serviert worden war, saß sie in der Kabine der Tankstellentoilette und presste die Stirn gegen die stählerne Kühle des Papierspenders.

Zum tausendsten Mal fragte sie sich, was um alles in der Welt sie sich nur dabei gedacht hatte. Marcus hatte gemeint, sie sollten es als eine Art Fehlgeburt betrachten, und jede Faser ihres Körpers wollte glauben, dass es tatsächlich so gewesen war.

Sie richtete den Blick nach unten, sah zu, wie ihr das, was hätte sein können, tröpfchenweise zwischen den Beinen herausrann, und betete um Vergebung – oder wenigstens darum, dass die Schmerzen aufhörten, die seit fünf Wochen still und leise in ihrem Innern wüteten. Wieder einmal machte sie sich heftige Vorwürfe, weil sie nicht auf ihre eigene Stimme gehört hatte. Weil sie so ein Feigling gewesen war und getan hatte, was Marcus wollte.

Irgendwann stand sie auf, wischte sich sauber und drückte die Spülung. Draußen spritzte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht. Nachdem sie in den Spiegel geschaut und sich vergewissert hatte, dass sie immer noch ein Lächeln zustande brachte, machte sie sich auf den Weg zurück zu ihrer Familie. Der bevorstehende Sommer würde ein großes Abenteuer werden, und wenn er die heilsame Wirkung haben sollte, die sie sich von ihm erhoffte, musste sie sich wirklich langsam einen Ruck geben.

Sie überquerte den vor Hitze flimmernden Asphalt des Tankstellenparkplatzes und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen, froh, dass Marcus während ihrer Abwesenheit Motor und Klimaanlage hatte laufen lassen.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich.

Sie wandte sich zu ihm und schenkte ihm das Lächeln, das sie im Spiegel geübt hatte.

Er legte den Gang ein, und sie machten sich auf die Fahrt nach Norden, hinaus aus der Stadt. Die USA waren für sie komplettes Neuland. Als sie kurz vor der Grenze zum Staat New York an eine Mautstelle kamen, musste Marcus erst nachfragen, welche Münze denn nun das geforderte Zehncentstück sei.

»Das ist ’n Scherz, oder?«, fragte die Wärterin gedehnt, eine schwitzende, giftig aussehende Frau, die wie durch eine chemische Reaktion mit ihrem Maut-Häuschen verschmolzen zu sein schien.

Die Straße erstreckte sich endlos vor ihnen, doch der lange, lange Tag neigte sich bereits dem Ende zu, und die vierzehnstündige Reise machte sich bei den Mitgliedern der Familie allmählich bemerkbar.

Lara drehte sich nach hinten und betrachtete ihre drei lebenden Kinder. Jack war natürlich sofort eingeschlafen, kaum dass er in seinem Kindersitz gesessen hatte. Er hatte seinen schweißfeuchten kleinen Kupferschopf an seinen ständigen Begleiter, den Teddybär Cyril, geschmiegt, und seine große Schwester Bella kuschelte sich schützend an ihn, als wäre sie seine Mutter.

In ihrer Tochter konnte Lara sich selbst erkennen, wie sie früher einmal gewesen war. Bella war vor kurzem sechzehn geworden, doch mit ihrem glatten dunklen Bob, jetzt strähnig von der Reise, hatte sie immer noch dasselbe puppenhafte Aussehen wie als Kind. Mit ihrer Zartheit stand sie in krassem Gegensatz zu ihrem Zwillingsbruder Olly, der groß, schlaksig und dunkeläugig war und schon etwas Wildes, Männliches an sich hatte. Er hing, gegen die Fensterscheibe gelehnt, schlaff in seinem Sitz. Vielleicht schlief auch er, unbeeindruckt von den dröhnenden Dubstep-Beats, die aus den Kopfhörern seines iPods drangen und die Lara sogar über die beachtliche Entfernung zwischen Vorder- und Rücksitzen hinweg hören konnte.

Eingerahmt von seinen zwei dunkelhaarigen Geschwistern, sah Jack aus wie ein kleiner rothaariger Engel, der ihnen zugeflogen war. Wäre er nicht das exakte Ebenbild seines Vaters gewesen, hätte man niemals vermutet, dass er aus demselben Genpool stammte wie Bella und Olly. Zwischen den Geschwistern lag ein Abstand von elf Jahren. Erst kürzlich hatte Marcus gescherzt, Jack sei der Fehler, den sie nicht ausgemerzt hätten: ihr glücklicher Betriebsunfall.

Lara drehte sich wieder nach vorn zur Straße und versuchte, Freude am Komfort des Wagens zu finden. Zwischen seinem makellos gepflegten Innenraum und ihrem zerbeulten, verdreckten Volvo daheim in England lagen ganze Welten. So fühlt es sich vielleicht an, wenn man Amerikaner ist, dachte sie. Oder zumindest arriviert. Der Wagen war riesig, ein Oberklassemodell – am Avis-Schalter in Newark hatte man sie mit einem kostenlosen Update überrascht. Das ursprünglich gebuchte Fahrzeug hatte bereits an der Obergrenze dessen gelegen, was Marcus auszugeben bereit gewesen war, und sie mussten weiß Gott auf jeden Penny achten. Trotzdem wäre es für alle fünf inklusive Koffern, Handgepäck, Jacks altem Buggy – den Lara für extreme Hitze oder lange Fußmärsche mitgenommen hatte – und Ollys Gitarre ziemlich eng geworden. Sie selbst hatte bei der Online-Reservierung für ein größeres Modell plädiert, doch Marcus war unnachgiebig geblieben, obwohl sie beide wussten, dass er, wenn man alles zwischen ihnen aufrechnete, einiges gutzumachen hatte. Nun war sie froh, dass eine unsichtbare Hand interveniert und ihr ihren Wunsch in Form dieses Schlachtschiffs erfüllt hatte.

Allerdings würde sie nicht den Fehler machen, sich daran zu gewöhnen. Marcus war nämlich fest entschlossen, den Mietwagen – ganz egal, welchen – nach einer Woche im nächstgelegenen Mietwagenbüro zurückzugeben. Das Gratis-Update änderte an seiner Haltung nicht das Geringste.

»Bestimmt wird sich früher oder später was ergeben. Irgendwie kommen wir schon an einen billigen fahrbaren Untersatz«, sagte er und legte seinen ganzen Schauspieler-Charme in sein Augenzwinkern.

Doch bis dahin würde Lara dieses perlgraue Ungetüm genießen: eine Illusion von Luxus, bezahlt mit Plastik.

Sie streckte die Beine im geräumigen Fußraum aus und bemühte sich, wach zu bleiben. Marcus fuhr vom Palisades Parkway ab und weiter in Richtung Norden, an einer Reihe gigantischer Werbetafeln vorbei, die auf Englisch und in einer Sprache, von der Lara annahm, dass es sich um Hebräisch handeln musste, das »Rundum-Ferienerlebnis in den Catskills« anpriesen. Dann waren sie plötzlich von dunklem Wald umgeben.

Nach einer weiteren Stunde wies Lara, die im Schein der Handschuhfachbeleuchtung James’ Wegbeschreibung studierte, Marcus an, den Highway zu verlassen. Sie fuhren weiter, immer höher in die Berge, immer tiefer in die Nacht hinein. Nur selten kamen sie an schwach beleuchteten Siedlungen vorbei. Dann passierten sie stille, von Schindelholzhäusern gesäumte Straßen und überquerten menschenleere Kreuzungen mit geheimnisvollen orangefarbenen Blinklichtern, die, so kamen Lara und Marcus nach kurzer Unterredung überein, so viel wie »Achtung« bedeuten mussten.

Inzwischen waren alle drei Kinder eingeschlafen. Ollys leises Schnarchen und der bernsteinfarbene Schein vom Armaturenbrett weckten in Lara den Wunsch, sich zusammenzurollen und es ihnen gleichzutun. In ihren Ohren knackte es, so hoch waren sie inzwischen in den Bergen.

Marcus gähnte.

»Kannst du noch fahren?«, fragte Lara über die Kluft zwischen den zwei Vordersitzen hinweg.

»Ich werd’s schon irgendwie hinkriegen«, antwortete er. »Such mir mal einen schönen amerikanischen Radiosender, vielleicht hält der mich wach.«

Lara beugte sich nach vorn, drückte diverse Knöpfe am großen Bedienfeld der Musikanlage und blieb schließlich bei einem evangelikalen christlichen Sender hängen. Belustigt hörten sie eine Zeitlang einem Prediger zu, der mit überschnappender Stimme seine Ansichten zur Nächstenliebe kundtat und darlegte, wie sich der Fluch der Sodomie ausmerzen ließe. Lara amüsierte sich prächtig, bis die Predigt sich dem Thema Abtreibung zuwandte, woraufhin sie zu einem Sender namens W-ZEETEE 101 wechselte. Der spielte hintereinander mehrere Country-Klassiker, unterbrochen von erfreulich wenig Country-Geschwätz. Marcus sang laut und falsch mit, und Lara überließ sich endlich dem Schlaf.

Ein seltsames Gefühl des Stillstands weckte sie aus Träumen von einer atemlosen Jagd durch Raum und Zeit. Sie schlug die Augen auf und stellte fest, dass sie sich zwischen hohen Bäumen befanden. Ihre mondbeschienenen Silhouetten wiegten sich im Himmel über ihnen. Marcus’ Kopf war in beunruhigender Weise nach hinten abgeknickt, und er saß vollkommen regungslos in seinem Sitz. Eine Schrecksekunde lang spürte Lara das Adrenalin in ihren Wangen prickeln, doch dann stieß Marcus einen Seufzer aus, gefolgt von einem Schnarchen, das sich durchs Lederpolster direkt bis in ihre Nebenhöhlen bohrte. Er hatte bloß angehalten, um sich auszuruhen. Sie versuchte, ihren aufkeimenden Ärger zu ersticken, indem sie sich ins Bewusstsein rief, dass er immerhin nicht am Steuer eingeschlafen war und sie alle totgefahren hatte.

Sie drehte sich nach hinten um und warf einen Blick auf die Kinder. Sie sah jedes Einzelne der Reihe nach an, um sich zu vergewissern, dass sie alle noch atmeten. Schließlich befanden sie sich in einem Land, wo Serienmörder am Straßenrand lauerten, wo es Freddie Kruger gab und schauerliche Großstadtlegenden. Als sie sich davon überzeugt hatte, dass die drei quicklebendig waren, lehnte sie sich nach links und rüttelte Marcus, etwas unsanfter als nötig, wach.

»Wie weit ist es noch?«, wollte sie von ihm wissen.

Er rieb sich die Augen und warf instinktiv einen Blick in den Rückspiegel, um sich die roten Locken zu ordnen. »Tut mir leid, ich konnte die Augen nicht mehr offen halten …«, sagte er.

»Wie weit noch?«, wiederholte sie.

»So ungefähr fünfzig Meilen? Ich weiß nicht genau, ich –«

»Okay, dann fahre ich eben«, sagte Lara. Sie stieg aus, um zur Fahrerseite zu gehen, und warf dabei ihre Tür ein wenig zu laut hinter sich ins Schloss. Bella richtete sich blinzelnd auf, fragte, ob sie bald da wären, drehte sich dann aber gleich wieder zur Seite und machte die Augen wieder zu. Lara lenkte den Wagen zurück auf die dunkle, von Bäumen gesäumte Straße. Sie stellte fest, dass Marcus, der auf den Beifahrersitz hinübergewechselt hatte, sofort wieder eingeschlafen war.

Sie brauchte ein paar Minuten, um sich daran zu gewöhnen, dass alles seitenverkehrt war, aber dann machte ihr das Autofahren Spaß. Auf dem Fahrersitz des Chevy, der so hoch war wie der eines Lastwagens, überkam sie ein fast vergessenes Gefühl von Stärke und Freiheit.

Sie schaltete den Tempomat ein und fuhr die nördlichen Hänge der Catskill Mountains hinunter in Richtung Trout Island. Sechs Wochen würden sie hier verbringen. Sechs Wochen weit weg von allem. Klarheit und Entschlusskraft gehörten nicht zu Laras hervorstechendsten Charaktereigenschaften, doch als sie nun am Steuer dieses Wagens saß, wusste sie eins ganz genau: Nichts war unmöglich, und sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihre Gefühle und ihre Familie wieder auf den richtigen Kurs zu bringen.

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