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Dann habt ihr euch also schon ein bisschen umgesehen?«, fragte Marcus, während er sich einen Nachschlag Pasta nahm. Sie aßen früh zu Mittag, denn als sich alle in der Küche eingefunden hatten, um sich wie Tiere, die in Mülltonnen nach Essbarem stöbern, über die Reese’s Puffs herzumachen, hatte Lara sich veranlasst gesehen, eine anständige Mahlzeit auf den Tisch zu bringen.

»Hier ist so was von tote Hose«, verkündete Olly.

»Hier ist garantiert jede Menge los. Ihr müsst bloß herausfinden, wo«, widersprach Marcus kauend. Lara wünschte sich, er würde nicht immer so geräuschvoll essen, aber er hielt es mit dem Grundsatz, Tischmanieren seien nur etwas für die Bourgeoisie.

»Glaubst du?« Olly nahm seinen Teller in die Hand und leckte ihn ab. Noch etwas, worüber Lara sich längst nicht mehr aufregte.

»Und wenn ihr erst mal die Schauspieler und die anderen Leute vom Theater kennenlernt, na, dann wird es bestimmt lustig.«

»Heute Abend ist ja schon mal James’ und Bettys Party«, warf Lara ein.

»Was für eine Party?« Alle sahen sie an.

Sie schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Ich habe total vergessen, es euch zu sagen. Heute um halb acht. Nach der Vorstellung. Um alle kennenzulernen, hat James gesagt.«

»Müssen wir da hin?«, fragte Olly.

»Natürlich müssen wir da hin«, gab Marcus zurück. »Du hast dich doch beschwert, dass hier nichts los ist. Und jetzt willst du nicht auf eine Party gehen?«

»Komm runter.«

»Ich kann es nicht ausstehen, wenn du das sagst.« Marcus funkelte seinen schmollenden Sohn wütend an.

»Deswegen sagt er’s ja, Vater«, klärte Bella ihn auf.

»Wo findet die Party statt?«, wollte Marcus von Lara wissen.

»Irgendwo ganz weit draußen. Ich habe die Adresse. Jetzt, wo das Internet funktioniert, können wir ja bei Google Maps nachschauen«, schlug Lara vor.

»Wir sind online?«, fragte Marcus. »Gut gemacht, du kleine Computermaus, du.«

»James meinte noch, dass er irgendeine Überraschung für uns hätte«, fügte Lara hinzu.

»Oh, eine Überraschung von James. Ich kann’s kaum erwarten.« Olly fuchtelte mit den Händen in der Luft herum.

»Sieh dich vor, junger Mann«, warnte Marcus.

»Komm runter.«

Marcus’ Erwiderung ging in einem stetig anschwellenden Sirenengeheul unter. Es kam irgendwo ganz aus der Nähe und wurde immer lauter, bis Lara Jack die empfindlichen Ohren zuhalten musste, weil sie Angst hatte, sie könnten Schaden nehmen. Nach einer Weile ebbte der Lärm genauso langsam wieder ab, wie er angefangen hatte. Zurück blieb eine drückende Stille.

»Was war denn das?«, fragte Lara. Jack sah so verängstigt aus, wie sie sich fühlte.

»Gestern war das auch schon«, sagte Bella. »Als du in der Stadt warst.«

»Ist doch cool.« Olly zuckte mit den Schultern. »Irgendeine Übung für Terroranschläge. Hab was drüber gelesen.«

»Ach ja?« Lara hob eine Braue.

»In Wirklichkeit«, sagte Marcus, den Mund voller Pasta, da er während des Sirenengeheuls ungerührt weitergegessen hatte, »ist das ein Probealarm für die Feuerwehr. Den gibt es im Sommer jeden Tag um zwölf Uhr. James hat es mir erklärt, als die Sirene mal losging, während wir geskypt haben. Von daher«, schloss er und schob sich die letzte Gabel voll Nudeln in den Mund, »komm runter, Olly.«

»Also«, sagte Lara, als sie mit dem Essen fertig waren. »Ihr räumt ab, und ich brauche heute Nachmittag ein paar Stunden ohne Jack, damit ich das Haus auf Vordermann bringen kann.«

»Ich muss Text lernen«, erklärte Marcus schulterzuckend.

»Bella? Olly? Könnt ihr euch ein bisschen um euren Bruder kümmern?« Eigentlich hätte sie es gern gesehen, wenn Marcus zur Abwechslung einmal Verantwortungsbewusstsein gezeigt hätte. In zwei Tagen gingen die Proben los, dann wäre mit ihm überhaupt nicht mehr zu rechnen. Es passte ihr nicht, dass sie die Babysitter-Stunden, die die Zwillinge ihr versprochen hatten, schon so früh aufbrauchen musste.

Olly stöhnte.

»Na ja, vielleicht können wir mit ihm zum Spielplatz gehen«, murmelte Bella nach längerem Zögern.

»Es gibt hier einen Spielplatz? Das ist doch toll!«, sagte Lara zu Jack, der sofort die Ohren gespitzt hatte.

»So würde ich es nicht gerade nennen«, entgegnete Olly. »Schrott wäre die passendere Bezeichnung.«

»Wie auch immer, jedenfalls werdet ihr eurer Mutter unter die Arme greifen«, entschied Marcus und erhob sich. »Also. Abwasch. Ich spüle, ihr trocknet ab und räumt das Geschirr weg.«

»Und vergesst Jacks Sonnencreme nicht«, warf Lara ein. »Seine Haut ist anders als eure, ja?«

»Ich glaube, das wissen wir inzwischen, Übermutter«, antwortete Bella.

Lara warf ihrer Tochter einen Blick zu. Dann krampfte sich plötzlich ohne Vorwarnung ihr Unterleib zusammen. Sie schnappte nach Luft und suchte Halt an einer Stuhllehne.

»Alles in Ordnung?«, fragte Marcus.

»Ja.« Lara wollte nicht mit ihm darüber reden. Sie wollte nach vorne schauen, nicht zurück.

»Bist du sicher?«

»Es geht mir gut, wirklich.«

Während die anderen das Geschirr in die Küche trugen, ging Lara nach oben, um auszupacken. Vorher holte sie noch ihren Laptop, damit sie bei der Arbeit ein bisschen Musik hören konnte. Am unteren Treppenabsatz blieb sie stehen und fragte sich, woran es lag, dass sie, wann immer sie sich in diesem Teil des Hauses aufhielt, sofort die Flucht ergreifen wollte. Mitten auf dem hellbraunen Teppich im Flur prangte ein leuchtend purpurner Fleck. Gut möglich, dachte sie, dass der aus einem Agatha-Christie-Stück stammt. Sie ging auf die Knie und beschnüffelte ihn. Er roch leicht metallisch und ranzig, wie ein rostiger Topf mit altem Abwaschwasser, und fühlte sich rau an.

Aus der Hocke heraus ließ sie den Blick durch den Flur schweifen. Der Teppichboden reichte genau von einer Wand zur anderen, er konnte also nicht aus dem Theaterfundus stammen; wahrscheinlich lag er schon seit vielen, vielen Jahren hier. Sie würde James um die Erlaubnis bitten, ihn herauszureißen.

Oben im Schlafzimmer schaltete sie The Smiths’ The Queen is Dead auf iTunes ein und nutzte die Energie des Drumbreaks im ersten Song, um die Koffer aufs Bett zu wuchten.

Sie nahm Jacks Kleider aus dem Koffer, den sie mit ihm geteilt hatte, und legte sie in ordentlichen Stapeln auf die Holzregale der Kammer, die neben dem Schlafzimmer in den Dachvorsprung eingebaut war.

Sie liebte es auszupacken. Selbst wenn sie nur ein oder zwei Tage unterwegs waren, fand sie für alles einen Platz. Einem Außenstehenden mochte dies wie eine klassische Hausfraueneigenschaft erscheinen, aber das traf bei Lara nur zum Teil zu. Wenn alles sortiert und in Stapeln zurechtgelegt war, fühlte sie sich jeder Lage gewachsen. Diese Liebe zur Ordnung war es auch, die sie zu ihrem Beruf als Graphikdesignerin geführt hatte. Und sie war der Grund, weshalb sie Marcus und seine Schlampigkeit so schwer ertragen konnte. Wenn sie nicht wäre, hätten die Kinder niemals saubere Kleider, etwas zu essen im Bauch, Zahnarzttermine …

Sie unterbrach ihren Gedankengang und konzentrierte sich stattdessen darauf, die unterschiedlichen Tabletten und Salben aus dem Erste-Hilfe-Kasten zu nehmen und auf dem Regal aufzubauen.

Die äußeren Umstände hatten Lara schon in jungen Jahren zur Häuslichkeit gezwungen. Mit neunzehn war es ihr Traum gewesen, zur Schauspielschule zu gehen und Schauspielerin zu werden. Doch als sie während ihres Sabbatjahrs nach der Schule im Dirty Duck – der Stammkneipe des Ensembles der Royal Shakespeare Company in Stratford-upon-Avon – hinter der Theke gearbeitet hatte, war sie Marcus begegnet. Er war damals einunddreißig Jahre alt und ein echter Schauspieler und kam ihr unfassbar glamourös vor. Er bat sie um ein Treffen, und sechs Monate später waren sie verheiratet – in den Augen ihrer biederen Eltern eine Ungeheuerlichkeit. Für diese waren bereits ihre Schauspielambitionen ein herber Schlag gewesen, und nun kam auch noch ein älterer Mann daher und nahm ihre einzige Tochter zu seiner Kindbraut.

Wie immer schafften es Morrisseys Stimme und Johnny Marrs Gitarrenklimpern, sie aus dem Netz der Vergangenheit zurück ins Hier und Jetzt zu holen.

Während sie die Dose mit den Pflastern neben der antibakteriellen Lotion platzierte, versuchte sie, sich an die freudige Erregung zu erinnern, die sie empfunden hatte, wann immer Marcus die Bar betrat.

Ihr fiel es schwer, sich zu erinnern. Kurze Zeit nach der Hochzeit – eine Zeit, die Lara meistens zu verdrängen pflegte – zogen sie nach Brighton, und die Zwillinge wurden geboren. Marcus musste sich stets bereithalten, um auf den Anruf irgendeines Agenten hin sofort für fünf Wochen nach Pitlochry zu fahren oder dergleichen, daher war es für Lara undenkbar, arbeiten zu gehen, während die Zwillinge noch klein waren. Da sie keine anderen Qualifikationen vorzuweisen hatte als einen Schulabschluss in Kunst und Theater, hätte sie niemals genug verdient, um davon die Betreuungskosten für zwei Kinder bestreiten zu können. Zu diesem Zeitpunkt stand die Rollenverteilung also bereits fest: Er ging arbeiten, und sie saß zu Hause und wusste angesichts ihrer zwei nimmersatten Babys nicht, wo ihr der Kopf stand. Das war das Ende ihres Traums von der Schauspielerei. Sie ließ die Karriereleiter los, noch bevor sie einen Fuß auf die unterste Sprosse gesetzt hatte.

Und nun fragte sie sich, ob das nicht die Wurzel ihrer gegenwärtigen Missstimmung war. Unbefriedigter Ehrgeiz. Er war wie ein Wurm, der sich in einen Apfel frisst. Nur ein winziges Loch, und trotzdem ist die ganze Frucht verdorben. Wenn sie an die ersten drei Lebensjahre der Zwillinge zurückdachte, konnte sie sich nicht daran erinnern, näher mit Marcus zu tun gehabt zu haben. Obwohl er hin und wieder zu Hause gewesen war. Er musste hin und wieder zu Hause gewesen sein.

Vielleicht hatte sie bereits damals begonnen, sich innerlich abzukapseln. Nein, ihr war klar, dass es so nicht gewesen war. Den fraglichen Moment konnte sie nämlich exakt bestimmen, und er war schon viel früher gekommen. Sie verbot sich, weiter darüber nachzudenken.

Sie stellte Jacks bescheidene Spielzeugsammlung auf ein niedriges, leicht erreichbares Regal: Floppy Dog, Woody, die Power Rangers, ein paar Star-Wars-Sachen.

Am Ende war es ihre gute Kunstnote, die ihr die Chance bot, aus dem Haus zu kommen. Sobald die Zwillinge drei wurden, hatten sie Anspruch auf kostenlose Tagesbetreuung, und währenddessen belegte Lara halbtags einen Kurs in visueller Kommunikation am örtlichen College. Ursprünglich hatte sie sich vor allem deshalb eingeschrieben, weil sie sich endlich wieder als denkendes Wesen fühlen wollte, nachdem sie ihre frühen Zwanziger bis zum Hals in Babyzubehör verbracht hatte. Im zweiten Ausbildungsjahr jedoch begann sie, die Möglichkeiten zu entdecken, die der Kurs ihr eröffnete. Ihr gelang es sogar, für ihre Abschlussprojekte echte Kunden zu gewinnen. Sie bestand mit Auszeichnung, gewann einen Gutschein für einen Apple Macintosh inklusive Drucker und Scanner und richtete sich in einer Ecke des Wohnzimmers einen Arbeitsplatz ein.

Sie verdiente nicht viel, aber es tat gut, wenigstens einen kleinen Teil zum Familieneinkommen beizutragen. Und sie blieb flexibel, was in der Theorie ungemein praktisch war, nur dass manchmal Monate vergingen, ohne dass Marcus auch nur ein einziges Vorsprechen hatte. Lara kam dies zupass, da sie inzwischen zahlreiche Aufträge bekam, und sie freute sich über die kostenlose Kinderbetreuung. Marcus allerdings fand es furchtbar.

»Es war einfach noch nicht die richtige Rolle für dich dabei«, munterte sie ihn immer wieder auf. »Das kommt schon noch.« Aber es kam nicht, wenigstens nicht oft. Und wenn doch, dann spielte er gegen Mindestgage irgendeine kleine Rolle in einem unbedeutenden Provinztheater Hunderte von Meilen weit weg. Er bekam diese Engagements über Freunde, die ein gutes Wort für ihn einlegten. Nicht ein einziges Mal seit Bellas und Ollys Geburt kam es vor, dass er besetzt wurde, weil er einen Regisseur durch ein phänomenales Vorsprechen beeindruckt hatte.

Pflichtschuldig reiste Lara mit den Zwillingen quer durchs Land, damit dann die Garderobiere für einen Zehner auf die beiden aufpasste, während sie ihren Ehemann auf der Bühne sah. Sie erinnerte sich noch an den Moment in einem Theater irgendwo oben im Norden – während eines Agatha-Christie-Stücks, wie es der Zufall wollte –, als bei ihr der Groschen endlich fiel. Sie hatte nie in Frage gestellt, dass Marcus schauspielerische Begabung besaß. In den langen entbehrungsreichen Monaten zwischen Engagements weigerte er sich strikt, irgendetwas anderes zu arbeiten, um Geld zu verdienen. Zwar sagte er nie ausdrücklich, dass dies unter seiner Würde sei, er behauptete jedoch immer, dass es ihn vom Eigentlichen ablenke. Er müsse frei sein für die Schauspielerei, sagte er.

Aber als sie an jenem besagten Tag im dunklen Zuschauerraum saß und ihm beim Spielen zusah, wurde ihr klar, dass etwas ganz Entscheidendes fehlte. Sein Nacken und seine Schultern waren verkrampft; seine Stimme klang ein wenig gepresst. Was früher bei ihm so natürlich gewirkt hatte wie Atmen, kam ihr jetzt gekünstelt und bemüht vor. Er hatte die schlimmste aller Schauspielersünden begangen: Er war unglaubwürdig geworden.

Die glanzlose Inszenierung – eine gestelzte postmoderne Interpretation ohne die nötige Portion Ironie – tat ihr Übriges. Trotzdem ließ sich die Wahrheit nicht verleugnen: Marcus spielte hundsmiserabel.

Als sie nach dem Stück hinter die Bühne kam, konnte sie ihm das natürlich nicht sagen. Niemand wird es ihm je sagen, dachte sie, als sie ihn küsste und verkündete, er sei großartig gewesen. Die Engagements würden einfach nach und nach weniger werden, sobald diejenigen, von denen er beruflich abhing, zu derselben Erkenntnis gelangt waren wie sie. Damals, als die Kinder noch klein gewesen waren, hatte sie sich dafür verabscheut, dass ihr der Respekt für ihn abhandengekommen war. Sie hatte ihre Wahl getroffen und bemühte sich, dazu zu stehen. Die Gewissheit jedoch, dass er ein schlechter Schauspieler war, machte es ihr sehr schwer.

Sie seufzte bei der Erinnerung und betrachtete die zwei Koffer, die nebeneinander auf dem wackligen Bett lagen. Ihre eigenen Kleidungsstücke waren zu Zigarren aufgerollt, so wie es ihre in allen Haushaltsdingen bewanderte Mutter ihr gezeigt hatte, wenn sie zu einer ihrer Pauschalreisen nach Korfu oder Mallorca aufgebrochen waren. »Man bringt mehr unter«, hatte sie gesagt. »Und das bei minimaler Faltenbildung.« Diese Angewohnheit ihrer Mutter, sich wie eine wandelnde Reklamebotschaft auszudrücken, hatte Lara stets irritiert. Es war eine der vielen Eigenschaften, die sie nun auch an sich selbst entdeckte – kleine genetische Ticks oder Gewohnheiten, die Eltern, ob nun absichtlich oder unabsichtlich, an ihre Nachkommen weitergaben, um sie zu verkorksen.

Das wilde Durcheinander aus Chinos, schlabberigen Shorts und T-Shirts in Marcus’ Koffer bewies, dass er auf schicke Kleidung keinerlei Wert legte und seine Sachen nicht gerade pfleglich behandelte.

Es war diese chaotische Seite an Marcus, die ihr das Arbeiten zu Hause irgendwann unmöglich gemacht hatte. Er respektierte weder ihre Zeit noch ihren Raum, unterbrach sie bei der Arbeit, um sie zu fragen, wo das Toilettenpapier sei, und lud scharenweise arbeitslose Schauspielerkollegen ein, die dann den ganzen Tag herumsaßen, Tee tranken – nachmittags gingen sie irgendwann zu Wein über – und sich mit wohltemperierten Stimmen über diesen Regisseur oder jenen Agenten ausließen.

Lara saß währenddessen an ihrem Schreibtisch im Wohnzimmer und versuchte, sich auf ihre Quark-Express-Layouts zu konzentrieren. Es war ihre Aufgabe, Ordnung und Struktur in die nackten Texte zu bringen, die sie von ihren Kunden bekam, und der Lärm und die Verzweiflung um sie herum taten ihr regelrecht weh.

Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, sich ein Büro anzumieten, aber ein solcher Schritt kam ihr zu gewagt vor. Mit ihren vierundzwanzig Jahren war sie noch jung und unerfahren. Sie hatte keinen Sinn fürs Geschäftliche – ihre Honorare etwa waren immer viel zu niedrig –, außerdem war sie zu Hause viel zu stark eingespannt, als dass sie irgendwelche größeren Risiken hätte eingehen können.

Als sie dann von der freien Stelle bei der Stadtverwaltung hörte, zögerte sie nicht lange. Das Gehalt war nicht gerade fürstlich, aber es reichte, um die laufenden Kosten zu decken, und die Arbeitszeiten waren ideal: halb zehn bis drei, fünf Tage die Woche. So hatte Marcus das Haus für sich, und falls er beruflich mal für ein paar Tage wegmusste, versank trotzdem nicht gleich alles im Chaos. Sie bewarb sich um die Stelle und bekam sie auch, obwohl sie das Gefühl hatte, sie sich irgendwie erschummelt zu haben.

Und wohin hat mich das gebracht?, fragte sie sich, während sie nun Marcus’ Kleider in das Regal über die Sachen von Jack räumte. Nicht sehr weit.

Sie hängte sein einziges gutes Stück, ein Hemd von Paul Smith, das sie ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte, auf einen Bügel. Es war wunderschön: blau mit winzigen rosafarbenen Blümchen. Trotzdem konnte sie es nicht ansehen, ohne daran denken zu müssen, wie wütend er gewesen war, weil sie so viel Geld dafür ausgegeben hatte. Dabei hatte er mit seiner Schätzung noch deutlich zu niedrig gelegen.

Schon nach der ersten Woche war ihr aufgegangen, dass sie mit der Stelle bei der Verwaltung ihrem Ehrgeiz ein Grab geschaufelt hatte. Im Büro wimmelte es von Leuten, die sich einen sonnigen Lenz machten: Jedes Anzeichen von Enthusiasmus wurde von ihnen mit Argwohn zur Kenntnis genommen. Dazu kam, dass sie keinerlei Achtung für ihren Teamleiter übrighatte, einen wankelmütigen Mann Anfang vierzig, der nicht in der Lage war, auch nur eine einzige Entscheidung zu treffen.

Trotzdem behielt sie die Stelle, weil sie in ihr Leben passte. Und als Jack – ihr glücklicher Betriebsunfall, wie Marcus ihn nannte – zur Welt kam, erwiesen sich die Mutterschaftsregelungen der Verwaltung als äußerst generös. Mit sechs Monaten bekam Jack einen bezuschussten Platz in der verwaltungseigenen Kinderkrippe, und Lara ging wieder arbeiten. Alles lief so reibungslos, dass ihr ursprünglicher Plan, ihr sicheres, bereits um mehrere Stufen in der Gehaltstabelle gestiegenes Einkommen aufzugeben, um sich wieder selbständig zu machen, geradezu wahnwitzig erschien.

Aber irgendetwas musste sich ändern. Sie langweilte sich. So sehr, dass sie manchmal am liebsten geschrien hätte. Nach der Heirat mit Marcus hatte sie sich vorgestellt, sie würden das glanzvolle Leben von Bohemiens führen. Stattdessen war sie nun eine städtische Angestellte mit Rentenkonto und Wochenarbeitsplan.

Mittlerweile war sie älter und erfahrener. Sollte sie jetzt beschließen, sich selbständig zu machen, würde sie damit Erfolg haben, das wusste sie. In ein paar Jahren könnte sie ihr eigenes Büro haben – sie stellte es sich modern vor, mit Treppengeländern aus gespannten Stahlseilen und heller Eiche – und dazu noch zwei oder drei Angestellte, die an Projekten für jene geheimnisvollen Blue-Chip-Unternehmen arbeiteten, die so gute Honorare zahlten.

Der Pakt, den sie nach der Abtreibung mit sich selbst geschlossen hatte, sah Folgendes vor: Wenn sie schon keine weiteren Kinder haben würde, dann wenigstens eine Karriere. Sollte ihre Ehe nach all den Jahren noch eine Überlebenschance haben, musste sie dafür sorgen, dass sie selbst glücklich war.

Sie setzte sich auf das quietschende Bett und räumte als Letztes ihre eigenen Sachen aus dem Koffer. Was hatte sie sich beim Packen gedacht? Außer ihren Joggingsachen und den Kleidern, die sie auf der Reise getragen hatte, hatte sie lediglich eine olivgrüne Leinenhose, ein grünes ärmelloses Top, zwei T-Shirts, eine tintenblaue Tunika, ein Boden-Kleid aus schwarzem Jersey sowie ein rosafarbenes Blümchenkleid eingepackt. Sie hatte es vor Jahren in einer schlanken Phase gekauft und hoffte, dass sie immer noch hineinpasste. Die paar Sachen würden niemals reichen. Nicht einen ganzen Sommer lang.

Unsicher, was sie zu dem Barbecue anziehen sollte, beäugte sie das rosafarbene Kleid. Ohne sich Gelegenheit zu geben, einen Rückzieher zu machen, streifte sie ihre Sachen ab und zog es sich über den Kopf. Es war tief ausgeschnitten, mit einer leicht verstärkten und figurbetont geschnittenen Frontpartie, die man wie ein Korsett schnürte. Sie strich die Vorderseite glatt und betrachtete sich in dem angelaufenen mannshohen Spiegel, den jemand, zweifellos in der Überlegung, dass ohne ihn das Schlafzimmer eines Schauspielers nicht komplett wäre, an der Wand aufgestellt hatte.

Zufrieden nahm sie zur Kenntnis, dass das Kleid passte. Weil ihre Oberweite nach der letzten Schwangerschaft noch immer recht üppig war, hatte sie sogar ein echtes Dekolleté. Sie drehte sich, um sich im Profil zu betrachten, und zog den Bauch so weit ein, wie sie glaubte, es einen Abend lang aushalten zu können. Gar nicht mal so schlecht. Sie entschied, dass dieses Kleid, zusammen mit ihrer Jeansjacke und dem schwarzen Pashmina-Schal, ihr Outfit für den Abend sein würde.

Sie stand immer noch vor dem Spiegel, als sie die Treppenstufen unter Marcus’ schweren Schritten ächzen hörte.

»Also, die Großen sind mit dem Kleinen zum Spielplatz oder so ähnlich«, meldete er.

»Sehr gut.«

»Wäre es vielleicht möglich, die Koffer vom Bett zu räumen?«, fragte er. »Ich muss meinen Text lernen, und sonst ist nirgendwo Platz.«

Lara dachte an das riesige, leere Haus und daran, wie viele Ecken und Winkel es hatte, die zum Textlernen wie gemacht waren.

»Willst du damit nicht bis nach der Leseprobe warten?«, hakte sie nach. »Sonst sagst du doch immer, dass es so am sinnvollsten ist.«

»Außer, man hat die scheißverdammte Hauptrolle«, antwortete Marcus mit einem breiten Grinsen und schob die Koffer auf den Boden. Dann richtete er sich auf und sah Lara an. »Was trägst du denn da? Hast du das neu gekauft?«

»Es ist uralt. Was meinst du?« Sie hielt die Luft an und breitete die Arme aus.

Marcus musterte sie von oben bis unten.

»Ja«, sagte er in seiner leicht gepressten Bühnenstimme.

»Es gefällt dir nicht, oder?«

»Doch«, erwiderte er.

»Was stimmt nicht damit?« Sie wünschte, er wäre ein besserer Schauspieler.

»Du darfst aber nicht sauer auf mich sein.«

»Ich bin nicht sauer, wenn du mir die Wahrheit sagst«, gab sie zurück.

»Okay. Also, du, na ja, du quillst hier und da ein bisschen raus.«

»Ich quelle?«

»Hm, ja.«

Lara schwieg eine Sekunde lang und warf erneut einen Blick in den Spiegel, nur dass sie sich diesmal keine Zeit gab, vorher den Bauch einzuziehen.

Er hat recht, dachte sie. Und ihre Stimmung sank auf den Nullpunkt.

»Danke, dass du ehrlich zu mir warst.«

»Nein, hör mal. Es ist echt hübsch. Wirklich.«

Lara zog das rosafarbene Blümchenkleid aus und hängte es ans hinterste Ende der Kleiderstange, die an einer Wand der Kammer angebracht war. Dort würde es den ganzen Sommer über hängen bleiben. Nackt und mit dem schwarzen Jerseykleid in der Hand, von dem Johnnie Boden behauptete, dass es jeder Figur schmeichle, ging sie zurück ins Schlafzimmer. Marcus lag bereits auf dem Bett und war in sein Skript vertieft. Er sah nicht zu ihr auf.

Sie schlüpfte in das Jerseykleid.

»Was ist mit dem hier? Und dazu die Bernsteinkette?«

Seufzend hob Marcus den Blick. »Was? O ja, viel besser«, sagte er und wandte sich demonstrativ wieder seinem Skript zu.

»Na gut.« Lara zog das Kleid aus und hängte es zurück. »Also, ich gehe jetzt duschen, und dann fange ich mit dem Haus an.«

»Super«, sagte er.

»Wollen wir so gegen halb fünf los?«

»Wie du meinst, Schatz. Kann ich jetzt hier weitermachen?« Er deutete auf sein Skript.

»Sicher.« Sie nahm ihren Laptop, verließ das Schlafzimmer und zog die Tür fest hinter sich zu.

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