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Als es vorbei war, lag sie unter ihm auf dem Bett und zwang sich, wach zu bleiben, damit sie ihre Chance nicht verpasste. Irgendwann, als seine Atemzüge langsamer und tiefer wurden und die Andeutung eines Schnarchens hinzukam, schlängelte sie sich – vorsichtig, damit er ja nicht aufwachte – unter seinem Körper hervor. Sie betrachtete ihn, wie er dalag. Jetzt, da sein grausamer Wille schlief, war er ein Bild der Seligkeit. Vielleicht lag es daran, dass sie kurzsichtig war, aber auch diesmal erkannte sie wieder eine Art Schönheit in ihm – der Schwung seiner Augenbrauen, die Kontur seiner Lippen. Aber es war die Schönheit einer prachtvollen exotischen Blume, die nach Tod stank.

Sie schlüpfte aus dem Schlafzimmer und schlich, eine Duftspur aus Sex und Neroli hinter sich herziehend, nackt durch den Flur. Sie öffnete die erste Tür, zu der sie kam, und entdeckte ein weiteres Schlafzimmer. Sie hatte vor, irgendwo ein Fliegengitter zu öffnen und aus dem ersten Stock ins Freie zu springen.

In der Hoffnung, etwas zum Anziehen zu finden, öffnete sie den Kleiderschrank. Das Erste, was sie darin sah, waren die Kostüme, die Stephen anlegte, wenn er unerkannt ausgehen wollte – Sam Miller und der Zirkusvater: Jeansjacken und Day-Glo-T-Shirts. Dahinter erspähte sie etwas, dessen Anblick sie erschrocken innehalten ließ: eine braune UPS-Uniform. Neben der Uniform hing eine khakifarbene Kombination, wie sie vielleicht der Wachmann auf einem Supermarktparkplatz tragen würde. Sie runzelte die Stirn und versuchte zu begreifen, wie um alles in der Welt …

Doch dann erstarrte sie, fassungslos angesichts dessen, was als Nächstes im Schrank zum Vorschein kam. Auf dem allerletzten Bügel hingen ein schmutziger beigefarbener Damenmantel mit einem braun-türkis gewürfelten Seidenschal und eine Plastiktüte. Voller Entsetzen griff Lara in die Tüte. Sie zog eine mausbraune Perücke, eine Schildpattsonnenbrille mit ovalen Gläsern sowie eine hellbraune Schirmmütze heraus. Sie inspizierte die Perücke. An mehreren Stellen waren die Haare von einer Substanz verklebt, die wie Blut aussah.

Auf diesem Bügel hing Elizabeth Sanders – oder das, was noch von ihr übrig war.

Hatte Stephen das gemeint, als er behauptet hatte, sie bräuchten sich um Sanders keine Sorgen mehr zu machen? Lara drehte sich der Magen um. Wozu war dieser Mann, den sie zu kennen geglaubt hatte, fähig?

Doch zum Grübeln war keine Zeit. Sie musste handeln. Sie warf sich den schmutzigen Mantel über, huschte zum Fenster und entriegelte es. Es ließ sich problemlos öffnen. Das Fliegengitter stellte ein größeres Hindernis dar. Es schien am Fensterrahmen festgenagelt zu sein. Auf Knien durchwühlte Lara den Kleiderschrank und fand schließlich einen hölzernen Baseballschläger, den sie mit beiden Händen packte und gegen das Fliegengitter drückte, so dass sich der Draht nach außen wölbte. Sie merkte, dass mehr Kraft nötig war, und in ihrer Verzweiflung schlug sie mit dem Schläger auf die Ecken des Gitters ein, um es vom Fensterrahmen zu lösen. Nach dem dritten Schlag fiel das Fliegengitter heraus und landete rasselnd draußen auf der Erde. Lara war schon halb zum Fenster hinausgeklettert, als hinter ihr die Tür aufflog und Stephen hereinkam. Er war nackt und zielte mit seinem Gewehr auf sie.

Sie hatte es vermasselt.

»Was machst du da, Lara?« Er packte sie und zerrte sie ins Zimmer zurück, dann schleuderte er sie vor dem Kleiderschrank zu Boden, so dass sie mit dem Gesicht auf der blutverschmierten Perücke landete.

»Was hast du mit ihr gemacht?«, schrie sie und krallte ihre Finger in die synthetischen Haare. Jeder Gedanke an Verstellung war verflogen. »Was hast du mit Elizabeth Sanders gemacht?«

»Nichts, was sie nicht verdient hätte«, gab er zurück und hob das Gewehr, so dass der Lauf genau auf Laras Kopf zielte. »Und jetzt zieh diesen widerlichen Mantel aus.«

»Aber was ist das hier alles?« Die Perücke weiterhin in der Hand haltend, griff Lara nach der Sonnenbrille, deren Gläser, wie sie erst jetzt feststellte, gesprungen waren. »Ist das auch nur eins von deinen Kostümen? Hast du dich bloß als sie verkleidet?«

»Zieh den Mantel aus!«

Lara schüttelte den Kopf. Sie hatte angefangen zu weinen.

»DU MACHST«, brüllte er, »WAS ICH DIR SAGE!« Er griff nach dem Mantel und riss ihn ihr vom Leib.

»Schon besser«, sagte er, schlagartig beruhigt. Er wich einen Schritt von ihr zurück, holte tief Luft, schwang sich das Gewehr über die Schulter und lehnte sich dann gegen den Türstock. »Denk doch mal eine Minute nach, Lara.« Er sprach langsam und ruhig, wie zu einem Kind. »Wie hätte ich denn Elizabeth Sanders sein sollen? Ich saß am Steuer, als wir aus dem Zirkus zurückgekommen sind und sie uns beinahe von der Straße gedrängt hätte, schon vergessen? Sie HÄTTE UNS UM EIN HAAR GETÖTET.« Er schloss die Augen, und als er einatmete, blähten sich seine Nasenflügel. Er rang um Fassung. Dann lächelte er wieder und sah sie an. »An zwei Orten gleichzeitig zu sein, das bringe nicht mal ich fertig.«

»Ich bin so durcheinander.« Lara legte die Hände vors Gesicht und versuchte, jeden Gedanken an ihn zu verdrängen.

»Falls du es unbedingt wissen willst, Lara: Die ursprüngliche Elizabeth Sanders hat es wirklich gegeben. Allerdings gibt es sie jetzt nicht mehr, deshalb war ich gezwungen, eine neue anzuheuern. Es musste jemand sein, der knallhart war und dringend Geld brauchte. Betty hat mir Trudi Staines auf dem Silbertablett serviert, und sie wusste es nicht einmal. Trudi war perfekt – zumindest bis vor kurzem –, und ich mag Perfektion. Schauspielerfahrung, geübt im Umgang mit Make-up, da sie ja immer ihr grotesk entstelltes Gesicht überschminken musste.« Genau wie Olly zeichnete Stephen Trudi Staines’ von Mund bis zum Ohr reichende Narbe mit dem Finger nach.

»Aber das hier«, er bückte sich, um den beigefarbenen Mantel aufzuheben – er hatte ihn auf den Boden geworfen, nachdem er ihn Lara vom Leib gerissen hatte, »ist noch das echte Sanders-Outfit, das ich damals in Los Angeles dem Original abgenommen und der Ersatzdarstellerin zur Verfügung gestellt habe. Jetzt muss ich es schon wieder in die Reinigung geben, was ein ziemliches Ärgernis ist.« Er hielt den Mantel in die Höhe und zeigte Lara die Schlammflecken auf der Außenseite. Sie sahen aus, als wäre der Mantel über feuchte Erde geschleift worden. Dann drehte er ihn um und wies auf einen dunkleren rotbraunen Fleck im Innenfutter. »Aber dann musste ja Betty kommen, diese blöde Schlampe, und mir in die Parade fahren.«

»Was meinst du damit?« Laras Gedanken überschlugen sich.

»Musste diese abgetakelte Transe sich überall einmischen? Der SINN DER SACHE war doch, dass du in so einem Zustand zu mir gelaufen kommst.« Er rang die Hände und stieß ein ersticktes Wimmern aus. »Dass die widrigen Umstände uns wieder zusammenführen. Aber Betty hat ihre fette Nase in Dinge reingesteckt, die sie nichts angehen. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, hat Trudi dann auch noch ihr wahres Gesicht gezeigt. Sie hat angefangen rumzuzicken, wollte mehr Geld haben, hat mit diesem gedroht, dann mit jenem, dann mit noch irgendetwas anderem. Was hätte ich tun sollen?«

Lara brach schluchzend auf dem Boden zusammen.

»Bitte lass mich gehen«, sagte sie. »Bitte.«

»Das ist doch albern, Lara. Es könnte alles perfekt sein. Du musst nur deine Einstellung ändern.«

Lara sprang auf und versuchte, an ihm vorbei zur Tür zu stürzen. Er war völlig überrumpelt, und sie hatte es schon halb die Treppe hinuntergeschafft, ehe er sich auf sie warf. Zusammen rollten sie die Stufen hinab und landeten auf dem Küchenfußboden. Lara prallte mit dem Kopf gegen einen Treppenpfosten und verlor das Bewusstsein.

Vielleicht waren nur wenige Sekunden vergangen, vielleicht auch Stunden, sie wusste es nicht. Doch als Lara mit einem pochenden Schmerz an der Schläfe wieder zu sich kam, sah sie Stephen bewusstlos neben sich am Boden liegen. Er hatte eine Platzwunde an der Wange und sah aus wie ein gefallener Actionheld. Sie fragte sich kurz, ob er noch lebte, aber sie wollte ihre Gelegenheit zur Flucht nicht ein zweites Mal verschenken. Sie probierte alle Türen aus – sie waren abgesperrt, wie sie befürchtet hatte. Also rannte sie zurück nach oben in das Zimmer, wo sie das Fliegengitter herausgeschlagen hatte. Ohne zu zögern, kroch sie durchs Fenster, packte mit beiden Händen das Fensterbrett und ließ sich, nackt, wie sie war, draußen zu Boden fallen. Bei der Landung knickte sie um und stieß rückwärts gegen eine Mülltonne aus Blech, die unter großem Geschepper umkippte. Ihre Fingerspitzen, die sie sich am Fensterrahmen aufgerissen hatte, taten weh und bluteten, und ihr pochte der Schädel, aber sie nahm nichts davon wirklich wahr. Sie hatte es aus dem Haus geschafft. Sie war frei.

Hektisch schaute sie sich um. Was jetzt? Dann floh sie, in der unbewussten Instinkthandlung eines schutzsuchenden Tieres, in Richtung Wald, quer durch den Garten, wo Schlangen im Holzstoß lagen und in der Nachmittagshitze dösten.

»LARA

Ohne stehen zu bleiben, sah sie sich um. Stephen kam aus der Hintertür gewankt, das Gesicht blutüberströmt. Er hatte ihre Flucht bemerkt. Sie rannte und rannte, auf den Schutz der Bäume zu. Disteln stachen in ihre Fußsohlen, Dornengestrüpp riss ihr die Haut auf. Der Atem rasselte in ihrer zugeschnürten Kehle, aber sie wusste, dass es nur die Angst war, nicht die Erschöpfung. Sie konnte es schaffen. Sie war Läuferin, und er konnte kaum aufrecht stehen.

Sie rannte den Pfad entlang, den Hügel hinauf, immer tiefer in den Wald. Wäre sie einem anderen Menschen begegnet, hätte dieser sie für eine fliehende Waldnymphe gehalten. Doch der Satyr, der sich an ihre Fersen geheftet hatte, war nicht zu Fuß. Hätte Lara außer ihrem eigenen Atem und ihrem klopfenden Herzen noch etwas anderes hören können, wäre es der Motor des zerbeulten roten Wrangler gewesen, den Stephen nun anließ. Ihre Füße flogen über den Boden, und selbst der steile Hang hielt sie nicht auf. Sie dachte nicht eine Sekunde lang darüber nach, dass sie nackt war, sondern hetzte durch Hartriegel und Erlen, stolperte über Vogelknöterich und aus der Erde ragende dunkle Wurzeln. Dreimal fiel sie, dreimal rappelte sie sich wieder auf und lief weiter, ohne sich auch nur den Schmutz vom schweißnassen Körper zu wischen.

Sie rannte um ihr Leben.

Und dann hörte sie das Röhren hinter sich. Sie blickte zurück und sah das rote Ungeheuer hinter ihr den Hang hinaufrasen und immer näher kommen. Der Wrangler hielt in einem Winkel auf sie zu, der ihr so unmöglich steil vorkam, dass es aussah, als würde er den Hang hinaufspringen. Lara beschleunigte ihr Tempo. Im Vorbeirennen sah sie das dichte Unterholz zu beiden Seiten des Pfads. Sie musste es tun. Wenn sie ihm entkommen wollte, blieb ihr keine andere Wahl.

Sie nutzte den Schwung der Drehung aus und sprang vom Weg ins Dunkel der Bäume, wo das dichte Blätterdach das grelle Sonnenlicht fast vollständig verdeckte. Ihre Augen brauchten eine Weile, um sich an die veränderten Sichtbedingungen zu gewöhnen, aber ihre Beine rannten unermüdlich weiter, setzten über Büsche hinweg und ließen Hautfetzen an Dornen zurück, die zufällig im Weg waren.

Und dann traf ihr Schienbein auf die halb eingesunkene Mauer, das Geheimnis des Waldes, die Überreste früherer Bewohner. Ihr Fuß, der sich in einem Erdloch verfangen hatte, blieb stecken, als sie vornüberfiel, und sie hörte das übelkeitserregende Knacken ihres Schienbeinknochens, als sie auf der anderen Seite der Mauer in eine Vertiefung stürzte und mit dem Gesicht in einem Haufen frisch aufgeworfenem Waldboden landete. Ihr Mund war voller Erde, ein Zahn angeschlagen, ihre Lippe zerbissen. Die Welt schien urplötzlich stillzustehen, und sie spürte, wie ihr ein Prickeln den Hinterkopf hinaufkroch. Entsetzen überrollte sie wie eine Welle, als ihr bewusst wurde, dass sich direkt neben ihrem Gesicht eine Hand befand. Eine Frauenhand mit Schmutz unter den zerbissenen Fingernägeln, die vor ihr aus der Erde ragte.

»Ach, Lara. Was machst du denn nur?«

Stephen hatte sie eingeholt. Schwer atmend und auf schwankenden Beinen stand er über ihr. Und trotzdem hatte er noch die Kraft, sie zu packen, sich über die Schulter zu werfen und auf den Rücksitz des Wagens zu legen. Der Schmerz in ihrem Bein, als es achtlos hochgehoben und ins Fahrzeug geschoben wurde, sorgte dafür, dass sie von dem, was danach folgte, nichts mehr mitbekam.

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