21
Nachdem sie Jack ins Bett gebracht hatte, schaute Lara noch bei den Zwillingen vorbei, die von Stephen jeweils mit einem eigenen Zimmer und der passenden Bettlektüre ausgestattet worden waren: für Olly war es ein Buch mit Gedichten von Byron, für Bella eine Monographie über Alice Neel. Dann ging sie nach unten auf die überdachte Veranda hinter dem Haus, wo Stephen im Schein einer Öllampe saß und in die Nacht hinausblickte. Um sie herum tobte unvermindert das Gewitter. Der Regen drückte das Gras nieder, sammelte sich in Löchern und verwandelte sie in Pfützen, die langsam zu Teichen wurden. Marcus, der den Portwein und dazu noch eine halbe Flasche Maker’s Mark ausgetrunken hatte, war auf dem Sofa eingeschlafen, und sein Schnarchen wetteiferte mit dem Donner darin, Lara den letzten Nerv zu rauben.
»Wer hätte gedacht, dass der alte Himmel noch so viel Wasser in sich hat«, sagte Lara, als sie sich in einem gewissen Abstand von Stephen auf der einzigen Sitzgelegenheit, einer gepolsterten Schaukel, niederließ.
Stephen lächelte und sah in den trüben Himmel. »Ich wünschte, es wäre ein wunderschöner Abend«, sagte er. »Bei klarem Wetter ist es paradiesisch hier. Wir hätten ein Lagerfeuer machen können. Und es ist die Jahreszeit für Sternschnuppen, obwohl man für den besten Blick vorne auf dem offenen Feld stehen müsste. Einmal habe ich eine quer über den Himmel schießen sehen. Ich schwöre dir, sie ist gelandet. Ich schwöre dir, ich habe einen Knall gehört und einen Blitz gesehen. Aber manchmal kann einem die Wahrnehmung auch Streiche spielen.« Er verstummte plötzlich und drehte sich zu ihr um. »Sag mir, dass du glücklich bist.«
»Was?«, fragte Lara.
»Sag mir, dass du mit ihm glücklich bist.«
»Natürlich bin ich das«, antwortete sie und rutschte auf ihrem Platz hin und her. »Natürlich bin ich glücklich.«
»Ich muss das hören.« Er versuchte, ihr in die Augen zu sehen. Lara jedoch hielt den Blick eisern auf die Regenschlieren geheftet, die im Schein der Öllampe aussahen wie zerschlitzte Seide, die sich im Wind bläht. »Ich muss das hören, denn wenn du nicht glücklich bist, was war unser Opfer dann wert?«
»Ich liebe meine Kinder.« Sie schlang sich die Arme um den Leib. Trotz der Kühle, die der Regen in der Luft versprüht hatte, war ihr wieder heiß. Sie wollte davonlaufen, in den sturmgepeitschten Wald.
»Und liebst du ihn auch?«
Sie umklammerte ihre Beine fester und schloss die Augen. Sie wollte das nicht hören. Trotz allem, was geschehen war, hatte sie sich nie gestattet, es laut auszusprechen.
»Was passiert ist, war nicht fair«, sagte er irgendwann. »Wir waren zu schwach. Zu sehr in Konventionen gefangen. Ich dachte, ich würde mich ehrenhaft verhalten. Aber wenn ich mutiger gewesen wäre, dann hätte ich um dich gekämpft. Pistolen im Morgengrauen. Bella und Olly – sie hätten meine Kinder sein können, weißt du?«
Laras Kopf fuhr in die Höhe.
»Ich hätte sie als meine eigenen ausgeben können. Und sie hätten es nie erfahren.«
»Hör auf damit«, flehte Lara. »Das liegt alles in der Vergangenheit. Wir können jetzt nichts mehr daran ändern.«
Er griff nach ihrer Hand.
»Ich muss jetzt reingehen.« Lara erhob sich. Auf einmal hatte sie das Gefühl, Marcus beschützen zu müssen. Er hatte so viel zu verlieren, und deshalb tat er ihr leid. Sie musste jetzt ins Haus gehen und ihn aufwecken, ihn nach oben bringen und sich neben ihn ins Bett legen, vollständig bekleidet und mit den Händen auf den Ohren.
»Geh nicht«, bat Stephen. Er stand auf und streckte erneut die Hand nach ihr aus. Er bekam ihren Arm zu fassen und drehte sie zu sich herum. Er war viel größer als sie, fast dreißig Zentimeter, und sie hätte sich nicht gegen ihn wehren können, selbst wenn sie es gewollt hätte. Sie sah zu ihm auf, als er ihre Hände nahm.
Und da geschah es. Der Teil von ihm, der sich vor langer Zeit so fest in ihrer DNA verankert hatte, begann zu schwingen, als hätte sie nie etwas anderes gekannt. Sie spürte seinen Herzschlag in seinen Handflächen, hörte seinen Atem, als wäre es ihr eigener.
Wäre der Knall der Flasche Maker’s Mark nicht gewesen, die Marcus mit dem Fuß umstieß, als er sich auf dem Sofa herumwälzte – wer weiß, wie weit sie noch gegangen wären. Doch das Geräusch ließ sie auseinanderfahren. Verstört gingen sie hinein, um sich um die Scherben, den Whisky und um Marcus zu kümmern, der zwischenzeitlich benommen und triefäugig aufgewacht war. Inzwischen hatte Lara sich wieder so weit unter Kontrolle, dass es ihr gelang, Stephen die Hand an die Wange zu legen und den Kopf zu schütteln, als sie ihm eine gute Nacht zuflüsterte. Er gab ihr die Öllampe und wies ihr die Richtung zum Schlafzimmer, das sie mit ihrem Mann teilen würde.
»Es tut mir leid«, raunte er und beugte sich dicht zu ihr, um ihr zu helfen, als sie sich Marcus’ Arm um die Schultern legte, damit sie ihn auf dem Weg nach oben stützen konnte. »Das war wahnsinnig.«
Lara stellte die Lampe auf den Tisch neben dem Bett, dann rollte sie Marcus zwischen die Laken und ging nach nebenan ins kleine Bad, wo sie Schuhe und Hose abstreifte, sich mit kaltem Wasser das Gesicht wusch und ihre Kontaktlinsen herausnahm, wobei sie es so gut wie möglich vermied, sich selbst anzuschauen.
Sie war aufgewühlt, fühlte sich krank, war erregt – so wie früher, als ihre Eltern sie gezwungen hatten, am Wochenende zur Reitstunde zu gehen. Ihre Angst vor Pferden – sie waren so riesig und sie selbst im Vergleich dazu geradezu zwergenhaft – und die Gefahr, dass etwas wirklich Schlimmes passieren könnte, hatten dazu geführt, dass sie jeden Samstagmorgen auf der Kloschüssel saß, die Reithosen bis zu den Knöcheln heruntergezogen, und nicht wusste, ob sie ihren Darm leeren oder sich übergeben sollte. Inzwischen wusste sie, dass diese Gefühle für ein junges Mädchen wie sie, in dessen Vorstellungswelt Sex nichts weiter war als eine abstrakte und leicht eklige Erwachsenenangelegenheit, ein Vorgeschmack auf Begierde gewesen waren.
Sie trat ans Schlafzimmerfenster, um die Vorhänge zu schließen, blieb dann aber vor der Scheibe stehen, weil sie glaubte, mit ihren kurzsichtigen Augen eine Gestalt in der Dunkelheit ausgemacht zu haben. Winzige Wassertröpfchen drangen durchs Fliegengitter und kühlten ihre brennende Haut. Sie öffnete das Gitter, um besser sehen zu können, aber alles, was sie erkennen konnte, war ein samtenes Blau, in dem sich Bäume, Tiere und Gott weiß was noch verbargen. Sie wollte ihren Platz am Fenster gerade verlassen, als urplötzlich ein gezackter Blitz in den Rasen fuhr und den Garten erhellte. Als Lara zurückzuckte – sie hatte gehört, dass Blitze auch in Häuser einschlagen konnten –, erkannten ihre Augen verschwommen die Gestalt einer Frau, die im Regen am Waldrand stand. Sekundenbruchteile später, als der Donnerschlag kam und ihr Trommelfell zum Beben brachte, war alles wieder in Dunkelheit getaucht.
Lara rieb sich die Augen. Der Abdruck der Gestalt haftete noch auf ihrer Netzhaut. Sie kniff die Augen zusammen und ging ganz dicht an das Fliegengitter heran, als könne sie sich so zwingen, schärfer zu sehen. Doch sie konnte nichts erkennen. Keine Bewegung in der Tintenschwärze, kein Geräusch bis auf das Prasseln des Regens auf dem Dach über ihr, und es kamen auch keine Blitze mehr, um ihren Eindruck entweder Lügen zu strafen oder ihr die Möglichkeit zu geben, sich zu vergewissern, dass sie sich nicht getäuscht hatte.
Sie zog die Vorhänge zu und ging auf ihre Seite des riesigen Betts. Es war dumm, ihren Augen zu trauen. Rein logisch betrachtet, konnte niemand dort draußen sein, mitten im Wald und bei solch einem Wetter; ohne Kontaktlinsen konnte sie kaum drei Meter weit sehen. Das, der Sturm, der grelle Blitz und ihr aufgewühlter Gemütszustand mussten dazu geführt haben, dass sie Dinge sah, die gar nicht da waren.
Lächerlich. Überhaupt, was für ein lächerlicher Abend.
Sie blies die Lampe aus und schlüpfte zwischen die Laken. Sie blieb am äußersten Bettrand liegen, schlang sich die Arme um den Körper und vergrub sich in Stephens Hemd, das sie immer noch trug. Sie hörte Marcus schnarchen. Er lag zwei Meter von ihr entfernt auf dem Rücken, und seine roten Locken umrahmten sein Gesicht auf dem Kissen wie die Mähne eines betäubten Löwen.
Was nun?, dachte sie. Was nun?
Sie hatte nicht die blasseste Ahnung. Das Einzige, was sie mit Sicherheit wusste, war, dass der Dschinn, als wäre er in der zerschlagenen Whiskyflasche eingesperrt gewesen, jetzt frei war und dort draußen mit dem Donner und den Blitzen wütete, und dass sie nicht darauf hoffen konnte, er würde sich freiwillig wieder in Gefangenschaft begeben.