11

Die Sonne bewegte sich langsam auf das westliche Ende der Main Street zu und zog ihre Schatten in die Länge, als sie in Richtung Theater gingen. Trotzdem war es nach wie vor heiß, und noch ehe sie die knapp fünfhundert Meter zurückgelegt hatten, die sie von ihrem Ziel trennten, klebte ihnen die Kleidung am Körper.

Lara ging als Letzte und betrachtete ihre Familie von hinten. Die zierliche Bella und der lange Olly zankten sich wegen irgendetwas. Ganz vorn hüpfte Jack an der Hand seines Vaters daher und redete ohne Punkt und Komma. Am Tonfall von Marcus’ Einwürfen – »Im Ernst?« und »Na, das ist ja toll« – erkannte sie, dass kein Wort von dem, was sein Sohn ihm erzählte, bei ihm ankam.

Einen Moment lang sah Lara die anderen, als wäre sie selbst gar nicht da – als befände sich ein Teil von ihr noch immer irgendwo hoch über dem Atlantik und wäre noch nicht ganz angekommen. Sie musterte jeden Einzelnen und dachte bei sich, dass sie sehr gut ohne sie auskamen. Das war ein beruhigender Gedanke.

Sie blieb stehen, streckte die Arme und gähnte, wobei sie Augen und Mund so weit aufriss, wie sie nur konnte, und die warme, nach Bäumen duftende Luft trank, als wäre sie Medizin, die sie wieder heil machen würde.

»Machst du Pause?« Marcus drehte sich um.

»Ich lasse bloß alles auf mich wirken«, antwortete sie.

»Du hättest dich heute Nachmittag wirklich hinlegen sollen«, sagte er. »Du warst den ganzen Tag in Aktion.«

»Seht mal, die Bücherei«, rief Lara, als sie sich dem weißen Gebäude mit dorischen Säulen näherten.

»Wow«, sagte Bella. »Die Bücherei

»Das ist wirklich die niederste Form von Witz«, warf Marcus ein.

Lara stieg die steinernen Stufen zum Eingang hoch und wollte die Tür öffnen, die jedoch verschlossen war. Auf der Veranda stand ein Aufsteller mit einem dilettantisch gestalteten Poster. Sollten sie jemals beschließen, im typographisch verarmten Trout Island zu bleiben, würde an Kunden kein Mangel herrschen, dachte sie. Auf dem Poster war das sommerliche Veranstaltungsprogramm der Bücherei abgedruckt. Sie ging dichter heran, um die winzige Schnörkelschrift zu entziffern.

»Es gibt hier jeden Donnerstag eine Aufführung für Kinder«, rief sie den anderen zu, die vor den Stufen auf dem Gehweg stehen geblieben waren. »Diese Woche spielen sie Füchschen Popüchschen und Hühnchen Popünchen. Da gehen wir hin, Jacko.«

Jack jubelte.

»Ich glaube, das wird ihm besser gefallen als das, was er heute Abend zu sehen kriegt«, sagte Bella, als Lara wieder zu ihnen auf den Gehweg kam.

»Unsinn, es wird fantastisch«, widersprach Marcus, als sie in die Straße einbogen, in der das Theater lag. »Und seht nur: Der ganze Ort ist auf den Beinen!«

Tatsächlich, die First Street war voller Autos. Menschen tummelten sich in Grüppchen auf dem Rasen vor dem Theater. Einige hatten sich, für die Tageszeit nicht ganz passend, herausstaffiert, als wollten sie in die Oper: die Frauen in langen Röcken und Blusen, die Männer in glänzenden Anzügen. Andere waren legerer gekleidet und trugen das, was in Warenhäusern gemeinhin unter »Freizeitkleidung« firmierte.

Den Rasen zu betreten, in den bläulichen Schatten des Theatergebäudes einzutauchen, war wie auf eine Gartenparty zu kommen. Überall um sie herum lachten Menschen, begrüßten sich, verteilten Küsschen und schüttelten Hände. Hinter zwei Tischen standen mehrere ältere Frauen und boten Backwaren an, die reißenden Absatz fanden: Brownies, große Stücke Kirschpie und etwas, was wie Karottenkuchen aussah. Lara fragte sich, wie man bei der Hitze ein großes Stück Kuchen essen sollte.

»Jetzt könnte ich sterben für ein Bier«, verkündete Marcus und lotste sie alle auf die Veranda hinauf und bis zu deren Ende, wo ein alter Mann mit einem grünen Sonnenvisier auf dem Kopf Dosen aus einer Kühlbox von der Größe eines Sargs verkaufte. Doch als Marcus ihn nach einem Bier fragte, lachte der Mann und entblößte dabei unfassbar weiße gerade Zähne.

»Ha, verdammt, lassen Sie das bloß Martha nicht hören«, sagte er und zeigte auf die größere der beiden Kuchendamen. »In Trout Island sind wir seit fast hundert Jahren trocken.«

»Trocken?«

»Kein Verkauf von Alkohol erlaubt, Sir.«

»Aber ich bin mir ganz sicher, dass es im Laden Bier gab«, entgegnete Bella.

»Nun ja, stimmt. Das wurde letzten Sommer durchgesetzt«, sagte der alte Mann und kratzte sich am Ärmel seines zitronengelben Polyesterhemds. »Aber Martha will davon nichts wissen. Sie sagt, deswegen hatten wir letztes Jahr den ganzen Ärger. Wegen dem Bier.«

»Ärger?«, fragte Olly.

»Mit den jungen Leuten«, erwiderte der Alte. »Irgendein Unfug mit einem Gewehr, Unfall bei der Jagd, Sie wissen, was ich meine. Aber Sie sind nicht von hier, oder? Wenn ich mir Ihren Akzent so anhöre.«

»Wir sind aus England«, erklärte Lara.

»Wirklich? Also, da kennen Sie nicht zufällig einen Kerl namens John Whitely, was? Lebt in London.«

»Die Familie Wayland! Meine Lieben!« James kam über die Veranda auf sie zugeeilt und legte Bella und Olly je eine Hand auf die Schulter. »Also, seid ihr Jüngeren damit  einverstanden, dass ich eure Mutter und euren Vater nach drinnen entführe? Ich muss kurz mit ihnen sprechen. Hiram, bist du so freundlich und gibst jedem der drei hier eine Dose von ihrem Lieblingsgetränk? Das geht aufs Haus, ihr Süßen.«

»Zahlst du es uns auch zurück?«, fragte der alte Mann.

»Selbstverständlich. Am Ende des Abends.«

»Vergiss es aber nicht. Martha kann es nicht leiden, wenn die Kasse nicht stimmt. So.« Er wandte sich den jungen Waylands zu. »Was darf’s denn sein?«

James legte einen Arm um Lara, den anderen um Marcus und schob sie auf den Theatereingang zu.

»Drinnen habe ich einen ganz vorzüglichen Prosecco kalt gestellt«, raunte er, sobald sie sich außerhalb der Hörweite der Erfrischungsleute befanden. »Schmuggelware.«

Er ließ sie ins Foyer eintreten, das noch nicht fürs Publikum geöffnet war, und sofort spürte Lara die angenehm klimatisierte Luft.

»Es riecht so gut hier drin«, stellte sie fest.

»Bienenwachs«, sagte James. »Unser fantastisches ehrenamtliches Vorderhausteam sorgt vor jeder Premiere dafür, dass die Holztäfelung makellos poliert ist. Auf solche Dinge legt man in Trout Island Wert.« Er setzte sich an den Tisch neben dem Eingang, atmete aus und lehnte sich zurück, wobei er sich mit dicken Fingern durchs lange schüttere Haar fuhr. Im Sitzen sah er auf einmal sehr erschöpft aus.

»Wie läuft es denn?«, erkundigte sich Marcus.

»Frag mich nicht. Kann sein, dass wir es heute Abend über die Bühne kriegen, aber wenn, dann nur mit Ach und Krach. Ehrlich gesagt« – er senkte die Stimme –, »und ihr müsst schwören, dass ihr es niemandem weitersagt: Nach dem Kampf, den ich mit Bettys Skript geführt habe, freue ich mich schon sehr darauf, an Sir Williams schönen Versen zu arbeiten.«

»Aber ihr habt ein großes Publikum«, sagte Lara und lehnte sich gegen das glatte, kühle Holz.

»O ja. Es ist uns ausgesprochen treu und in der Regel auch recht dankbar. Nicht, dass wir viel Konkurrenz hätten. Wir sind das einzige Theater im Umkreis von vierzig Meilen. Für einige der Leute hier sind wir sogar das erste Theater, in das sie überhaupt je einen Fuß gesetzt haben. Und für viele werden wir wohl auch das letzte sein.«

»Was ist mit den Aufführungen in der Bücherei?«, fragte Lara.

»Also, Liebes, die würde ich wohl kaum als Theater bezeichnen.« James klimperte mit den Wimpern. »Was ist, Marcus? So wortkarg?«

»Du hattest was von Prosecco gesagt?«, erinnerte Marcus ihn mit einem erzwungenen Lächeln.

»Oh, bitte verzeiht. Ich habe momentan ein Gedächtnis wie ein Sieb.« James stand auf und schwebte zum anderen Ende des Foyers, wo er einen Schrank öffnete, in dem sich eine Miniküche verbarg. Er holte eine kalte Flasche aus dem Kühlschrank, ließ den Korken knallen und goss drei Sektflöten mit schäumendem, strohgoldenem Prosecco voll. Während er damit beschäftigt war, warf Lara unauffällig einen Blick auf Marcus. Er sah aus, als hätte er am liebsten die Flucht ergriffen. Sie hoffte um seinetwillen, dass die Vorstellung an diesem Abend ein Erfolg werden würde.

»So, bitte sehr.« James reichte die von der Kälte beschlagenen Gläser herum.

Lara spürte, wie die leicht nach Biskuit schmeckende Flüssigkeit ihr die Kehle hinunterperlte. Hoffentlich würde sie das nach dem nachmittäglichen Glas Rotwein wieder in Schwung bringen.

»Wunderbar«, sagte sie.

Unterhalb der geschwungenen gebohnerten Treppe wurde eine Tür aufgestoßen, und eine annähernd zwei Meter große, in schwarze Spitze gehüllte Gestalt mit toupierten Haaren und leuchtend karmesinroten Lippen, die aufgeregt ein Spiral-Kleid aus mit Stäbchen verstärktem schwarzem Satin schwenkte, zerstörte die friedliche Ruhe des Foyers vor dem Einlass.

»Betty, Darling. Prosecco?«, säuselte James.

»Kannst du diese gottvermaledeite Schlampe wieder zur Vernunft bringen?« Betty schleuderte das Satinkleid von sich. Es landete vor James’ Füßen und wirbelte eine Wolke Staubkörnchen auf, die in den hereinfallenden Abendsonnenstrahlen tanzten. Bettys Stimme war weich und sonor und hatte einen Südstaateneinschlag, eine Blanche-Dubois-Intonation, die perfekt zur Schlafzimmereinrichtung im schmuddeligen zweiten Zuhause der Familie Wayland gepasst hätte.

»Nicht schon wieder.« James seufzte. »Ich dachte, das hätten wir geklärt.«

Betty nahm Lara und Marcus mit gespitzten Lippen und einer leichten Neigung des Kopfes zur Kenntnis. »Hi. Ich bin Betty. Ihr müsst Marcus und Lara sein. Ich bin entzückt, eure Bekanntschaft zu machen.« Sie nickte, dann wandte sie sich wieder James zu. »Madame behauptet, sie könne in dem Kleid nicht singen. Behauptet, sie bekäme keine Luft. Ich habe ihr gesagt, das sei alles eine Frage der Kontrolle. Das ist exakt dieselbe Art von Kleid, die ich in Marguerite im Cavern Club Theatre in Silverlake anhatte. Und ich habe darin acht Monate lang sechs Abendvorstellungen plus zwei Nachmittagsvorstellungen pro Woche gesungen. Es liegt nur daran, dass sie so unglaublich fett geworden ist, seit ich bei ihr Maß genommen habe, und jetzt ist das verdammte Ding zu eng.« Betty bückte sich, hob das Kleid auf und hielt es sich vor den strichdünnen Körper. »Außerdem gibt es gar keine Alternative. Sie muss es tragen. Ach, James, mein Süßer, würdest du zu ihr gehen und ihr das sagen? Mir geht ihr Theater so was von auf die Möpse.«

James blies die Backen auf, nahm Betty das Kleid ab und verschwand durch die Tür unter der Treppe.

»Und jetzt hat er auch noch angefangen. Sagt, seine Schuhe würden drücken. Ich geb’s auf mit den beiden«, grummelte Betty und folgte James zur Treppe. »James, Täubchen, ich sage dir, das ist das letzte Mal, dass ich mit so einer Horde von –«

Glücklicherweise schnitt die hinter ihr ins Schloss fallende Tür Bettys letzte Worte ab. Lara und Marcus blieben allein im Foyer zurück. Einen Moment lang war nichts zu hören bis auf das leise mechanische Klicken des sich drehenden Deckenventilators, der für eine kühle Brise sorgte, von der Lara auf den Armen eine angenehme Gänsehaut bekam.

»Noch Prosecco?«, fragte Marcus und schenkte ihnen beiden die Gläser wieder voll.

»Ganz schön dreist«, lautete Laras Kommentar. »Das also ist Betty.«

»Ja.«

»Formidabel.«

»In der Tat. Das Musical ist eigentlich ihre Lebensgeschichte, mit ein paar Ausschmückungen.«

»Ich glaube nicht, dass sie allzu viele Ausschmückungen braucht.« Auf einmal kam sich Lara in ihrem figurumschmeichelnden Boden-Kleid furchtbar gewöhnlich vor. Wie ein Gänseblümchen neben einer Orchidee. Sie trank einen Schluck von ihrem Prosecco und stieg dann langsam die geschwungene Treppe hoch, um die gerahmten Plakate vergangener Produktionen der Trout Island Theatre Company, mit denen die Wände geschmückt waren, zu betrachten.

»Die sind wirklich ganz schön hässlich«, raunte sie Marcus zu, der sich zu ihr gesellt hatte. Die Plakate waren alle in demselben Stil gehalten: wirklichkeitsgetreue, steife Fotos, die den Stückinhalt wiedergaben. Hamlet zeigte einen Mann, der einen Totenschädel in der Hand hielt, Hedda Gabler eine Frau mit einer Pistole. Die Typographie war – nicht weiter überraschend – ein einziges Durcheinander. Auf einem der Plakate zählte Lara ganze sieben Schrifttypen, einschließlich der abscheulichen Comic Sans.

»Bestimmt hat sich jemand viel Mühe damit gegeben«, wandte Marcus ein, um eine positive Einstellung bemüht.

»Und das Repertoire ist auf jeden Fall sehr anspruchsvoll. Meinst du, ich sollte beim Design meine Hilfe anbieten?«, fragte Lara.

»Findest du denn, dass es nötig ist?«, fragte Marcus zurück und verzog das Gesicht.

Sie sah ihn aufmunternd an. »Macbeth wird großartig«, meinte sie.

»Ja, ja. Natürlich.«

»Kann ich Ihnen helfen?« Eine Stimme aus dem Foyer unter ihnen ließ sie beide zusammenfahren. Sie drehten sich um und sahen eine rundliche junge Frau hinter dem Kassentisch stehen. Sie hatte lange strohblonde Haare, die ihr bis zum beachtlichen Hinterteil reichten. »Eigentlich«, sagte sie und pappte sich ein steifes Lächeln ins Mopsgesicht, »dürften Sie noch gar nicht hier drin sein.«

»Oh, James hat uns reingelassen«, erwiderte Marcus und stieg die Treppe wieder hinunter.

»Ah! Dann sind Sie bestimmt Marcus Wayland«, sagte die Frau. »Das hört man gleich an Ihrem Akzent. Willkommen in Trout Island.« Sie wischte sich die Hand an ihrer bis kurz vor dem Zerreißen gespannten Jeans ab und streckte sie Marcus hin. Lara fand, dass sie so aussah, als müsse sie sich zusammennehmen, um nicht zu knicksen. »Ich bin Alyssa Smith. Vorderhausleitung.«

»Sehr angenehm.« Marcus strahlte. »Das hier ist meine Frau Lara.«

»Freut mich.« Alyssa nickte in Laras Richtung. »Sie müssen mich jetzt entschuldigen. Ich mache in ein paar Minuten auf und muss noch die Kartenausgabe organisieren.« Sie deutete auf ihre Proseccogläser. »Sie können gerne hierbleiben, bis Sie ausgetrunken haben. Wir müssen ein bisschen diskret sein … Ich weiß, James findet es total lächerlich.« Sie verdrehte die Augen. »Aber wir haben hier heute Abend einige Damen, die in Bezug auf Alkohol eine sehr klare Meinung haben.«

»Wir sind ihnen schon begegnet«, sagte Marcus.

»Ich stehe ja so auf Ihren Akzent. Ich werde Sie so lange nerven, bis ich ihn von Ihnen gelernt habe!«, erklärte Alyssa.

Lara und Marcus stellten sich an die Seite und tranken ihren Prosecco, während Alyssa zwei lange, verworrene Nachrichten abhörte, die jemand zwecks Kartenreservierung auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte. Keiner der Anrufer nannte seinen Nachnamen. Sie schienen davon auszugehen, dass Alyssa schon wissen würde, wer Kenny und Lara und Marsha und Hank waren, und so verhielt es sich auch. Pflichtbewusst notierte sie den Inhalt der Nachrichten mit einem violetten Fineliner, wobei sie sich beim Schreiben auf die Zungenspitze biss. Dann zog sie eine Schublade des Schreibtischs auf und holte eine metallene Geldkassette heraus. Sie öffnete sie mit einem Schlüssel von einem riesigen Schlüsselring aus Draht, der an ihrem ansonsten nutzlosen Gürtel hing. In der Kassette lag ein Stapel grüner Pappkärtchen.

»Was ist denn, wenn Sie mehr Reservierungen als Tickets haben?«, wollte Lara wissen.

»Dann sagen wir den Betreffenden einfach, sie sollen am nächsten Tag wiederkommen. Bis auf einige Wochenendurlauber ist es den meisten egal. Hier gibt’s nicht viel anderes zu tun. So, und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Und Gläser weg, wenn ich bitten darf.« Alyssa kam um den Tisch herumgewatschelt und sperrte die Tür auf. Dahinter wartete eine Schlange erwartungsvoll lächelnder, größtenteils weißhaariger Zuschauer.

Olly stand im hinteren Teil der Schlange und überragte die vor ihm stehenden Damen.

»Mum«, rief er, als er sich durch die Tür drängte. »Scheiße, wo wart ihr denn die ganze Zeit?«

Eine der Damen drehte sich um und schnalzte angesichts seiner Ausdrucksweise und seines Benehmens missbilligend mit der Zunge.

Wenn die nur wüsste, dachte Lara.

»Wir mussten die ganze Zeit hier draußen mit Jack rumstehen, und dann ist ihm ein Unglück passiert«, sagte Bella, die zusammen mit ihrem kleinen Bruder hinter einem älteren Mann mit Cowboyhut hervorschaute.

»Oh, das arme Würmchen«, sagte eine Frau mit Oberarmen so schlaff wie Pudding, als Bella ihn durch die Schlange nach vorn reichte.

»Es ist ganz flüssig, Mum.« Jack hielt sich den Popo.

»Du Armer.« Lara fasste ihn an der Hand und nahm ihn mit zum Wickeltisch auf der Toilette. Jack hatte einen empfindlichen Magen, und schon die kleinste Veränderung in seiner Ernährung, sogar im Trinkwasser, konnte Folgen haben. Zum Glück hatte seine Unterhose das Gröbste aufgefangen, also zog Lara sie ihm kurzerhand aus und wischte ihn so gut es ging sauber.

»Die hier werfe ich weg.« Sie knüllte die Unterhose zusammen. »Du kannst ohne gehen.«

»Cool«, sagte Jack.

Sie wickelte die verdreckte Unterhose in mehrere Papierhandtücher ein und kehrte ins Foyer zurück.

»Entschuldigen Sie, Alyssa.« Lara deutete auf das übelriechende Bündel, das sie unauffällig in der Hand hielt. »Wo kann ich das entsorgen?«

Alyssa rümpfte die Nase. »Hinter dem Haus steht eine Mülltonne.« Sie wies Lara die Richtung. »Aber schließen Sie sie gut, sonst kommen die Waschbären.«

Lara ließ Jack in Ollys und Bellas Obhut, bevor sie nach draußen ging und das Gebäude umrundete. Hinter dem großen Müllcontainer sah sie zwei Schauspieler, einen Mann und eine Frau, die aneinandergelehnt auf einer alten Couch neben dem Bühneneingang saßen und rauchten. Lara duckte sich ein wenig, um nicht entdeckt zu werden.

»Ist mir doch kackegal«, sagte die Frau. »Ich hab meinem Agenten gesagt, ich komme nie wieder hierher, selbst wenn sie zur Abwechslung mal anständig zahlen.«

»Ich weiß, Baby, ich weiß. Aber jetzt, wo wir schon mal hier sind, müssen wir auch unser Bestes geben. Alles andere wäre unprofessionell.«

»Was bildet die sich ein, mir zu sagen, ich wäre fett geworden? Bin ich fett geworden, Brian?«

»June, du weißt, dass du nicht fett bist. Du hast einen wunderschönen Körper. Du weißt, wie sehr ich deinen wunderschönen Körper liebe.«

»Oh, Brian.« June blies den Rauch aus und beugte sich zu dem Mann, nahm seinen Kopf in die Hände und zog sein Gesicht zu sich herab. Ihre Lippen trafen sich, und Brians Hand fand ihren Weg in Junes Bademantel, wo sie die größte, rundeste und prallste Brust freilegte, die Lara je gesehen hatte. Er rollte ihre Brustwarze zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her, als versuche er, einhändig eine Zigarre zu drehen.

Ein großer, gutaussehender Junge tauchte im Bühneneingang auf und hustete hinter vorgehaltener Faust, um auf sich aufmerksam zu machen. Die beiden lösten sich voneinander und blickten zu ihm hoch. Brians Hand ruhte nach wie vor fest auf Junes nackter Brust.

»Ja, Sean?«, fragte June, zog an ihrer Zigarette und sah ihn an.

»June, Brian, ich wollte euch nur Bescheid sagen, dass jetzt Einlass ist. Noch fünfzehn Minuten bis zum Vorstellungsbeginn. Wahrscheinlich habt ihr die Durchsage nicht gehört.«

»Ich glaube, es ist für den Inspizienten so üblich, uns mit Miss Turpin und Mr Weinberg anzusprechen«, sagte June und blähte die Nüstern, »um uns aufzurufen.«

»Ihr zwei bewegt eure Ärsche jetzt sofort hier rein und zieht euch um.« Betty war hinter Sean aufgetaucht und schob ihn zur Seite. »Ich habe Ihr Kleid für heute Abend etwas ausgelassen, Miss Turpin, es gibt also keinerlei Ausreden für schiefe Töne. Und Mr Weinberg, ich wäre Ihnen wirklich außerordentlich dankbar, wenn Sie Ihre Hand von Miss Turpins Vorbau nehmen und – äh – es unterlassen könnten, meinen jungen, unschuldigen Assistenten zu verderben.«

»Nichts, was er nicht schon gesehen hätte.« Ein weiterer Schauspieler – dieser Anfang dreißig und ganz italienischer Gigolo – spazierte an Sean vorbei und zauste ihm die Haare. Dann warf er sich auf die Couch, wobei er fast auf Junes Schoß gelandet wäre, und steckte sich ebenfalls eine Zigarette an.

»Bitte, meine Damen«, rief Betty. »Wollen wir heute auch noch ein bisschen Theater spielen, oder soll bloß geraucht werden?«

»Dürfen wir uns das wirklich aussuchen?« Der Italiener lehnte sich zurück und atmete mit zusammengekniffenen Augen aus.

Betty seufzte tief und schüttelte den Kopf. »Ich erwarte, dass ihr alle beim Fünfminutenaufruf Gewehr bei Fuß steht. In Kostümen.«

Sie machte kehrt und verschwand im Theater.

»Du hast es ihm gesteckt, Tony«, sagte Brian, der endlich die Hand von Junes Brust nahm.

»Arschloch«, lautete Tonys Erwiderung an Brian. Dann nahm er einen letzten Zug von seiner Zigarette, trat sie aus und ging wieder hinein.

»Komm, Schatz«, bat June. Sie stand auf und zog ihren Bademantel zurecht, wobei es ihr gelang, sich dem jungen Inspizienten noch einmal in ihrer ganzen Pracht zu zeigen. Lara fand, dass es so aussah, als habe sie es mit Absicht getan, trotzdem blieb der junge Mann erstaunlich gelassen.

Er sah dem Pärchen hinterher, dann ging er rasch um das Sofa herum und hob die leeren Getränkedosen, Zigarettenkippen und Plastikbecher auf, die die Schauspieler hatten liegen lassen. Lara hatte das Gefühl, schon viel zu lange hinter dem Container gehockt zu haben, also schob sie den Deckel auf und warf ihr Bündel hinein. Es landete mit einem gedämpften Rascheln.

»Oh, hi.« Sean sah zu ihr herüber.

»Hallo«, grüßte Lara. »Tut mir leid, ich wollte nicht –«

»Kein Problem. Sie müssen Bellas Mutter sein.«

»Stimmt. Woher weißt du –«

»Ich hab sie heute im Laden getroffen. Sie sehen ihr ziemlich ähnlich.«

»Das nehme ich als Kompliment.« Lara strich sich die Haare glatt. Aha! Das also war der große Junge. Er hatte die blauesten Augen, die sie je gesehen hatte, und ein Lächeln, das das Herz jedes jungen Mädchens zum Schmelzen bringen musste. Sie konnte nur hoffen, dass Bella einen kühlen Kopf behielt. »Du hast es ja nicht leicht, was?« Sie deutete zum Bühneneingang.

»Das kann man laut sagen. June und Brian sind ein echter Alptraum. Ich bin froh, bald mit einem weniger durchgedrehten Cast zu arbeiten.«

»Die beiden sind im Shakespearestück nicht dabei?«

»Nein, Gott sei Dank. Die machen nur Musical.«

Lara war insgeheim erleichtert für Marcus. »Machst du bei Macbeth auch die Inspizienz?«

»Ein bisschen, aber ich spiele auch mit. Bloß Ross und den Arzt, nichts Weltbewegendes, aber immerhin kann ich so ein bisschen Erfahrung sammeln.«

»Dann willst du auch Schauspieler werden?« Lara kam sich vor, als verhöre sie einen potentiellen Schwiegersohn. Ein Schauspieler war nicht gerade das, was sie sich für ihre Tochter erhoffte.

»Genau. Im Herbst gehe ich auf die Juilliard. Endlich weg aus Trout Island.« Er beugte sich an Lara vorbei und warf den aufgesammelten Müll in den Container auf Jacks Unterhose.

Er ist wirklich sehr gut aussehend, dachte Lara.

»Sean? Wo ist mein Sean?« Betty kam aus dem Bühneneingang geeilt. »Oh, du bist bei der kleinen Mamacita. Hallo, Liebes.« Sie ging zu Lara und gab ihr einen Kuss auf die Wange, als wären sie beste Freundinnen. »Na, für euch haben wir später aber noch eine Überraschung.«

»Ist mir zu Ohren gekommen«, sagte Lara.

»Und, hast du schon eine Ahnung, was es sein könnte?«

»Nicht die geringste.«

»Von mir erfährst du nichts, Schatz.« Betty legte einen manikürten Finger an die Lippen. »Und jetzt komm, Sean, mein Liebling, die Vorstellung spielt sich nicht von allein, hab ich recht? Wir brauchen dich.« Sie legte ihm den Arm um die Schultern und führte ihn nach drinnen.

Auf ihrem Weg zurück ins Foyer beschloss Lara, Marcus nichts von dem zu sagen, was sie mit angehört hatte. Immerhin hatte der Zwischenfall gezeigt, dass Betty Stil und Köpfchen besaß, vielleicht hatten sie und James also tatsächlich ein ernstzunehmendes Stück auf die Bühne gebracht.

Wie sich herausstellte, war das nicht der Fall.

Set Me On Fire! hielt wenig positive Überraschungen bereit. Das Stück war die vorhersehbare Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichte einer jungen Südstaatenschönheit, die sich – teils dank ihrer wilden Entschlossenheit, teils aufgrund einer Begegnung mit einem Engel, der ihr großen Ruhm prophezeite – bis ganz nach oben kämpfte. Dabei ließ sie sich weder von brutalen Liebhabern, skrupellosen Managern noch vom pöbelnden Publikum einer Provinzkneipe aufhalten. Lara war sich sicher, dass Bettys wahre Biographie wesentlich interessanter war, als das nichtssagende Sing-und-Tanz-Spektakel vermuten ließ, nicht zuletzt da sie, anders als ihre Figur im Stück, nicht wirklich eine Frau war.

Als Pearl, Bettys Bühnen-Alter-Ego, war June Turpin zu Beginn des Stücks, als sie eigentlich sechzehn hätte sein sollen, mindestens dreißig Jahre zu alt. Ihr Kostüm in Form eines schlackernden Lumpenkleids mit Zöpfen brachte ihr einen lauten Lacher von Olly ein, den sie, dem flüchtigen Dolchblick nach zu urteilen, den sie ihm zuwarf, eindeutig gehört hatte.

Das restliche Publikum allerdings war von Set Me On Fire! begeistert. Die Tanzeinlagen waren nicht die schlechtesten, musste Lara zugeben, und fast jede Nummer bekam stehende Ovationen.

Das Klatschen war das Einzige, was Jack Spaß machte, und Lara hatte alle Hände voll damit zu tun, während der übrigen Zeit dafür zu sorgen, dass er nicht störte. Sie war geübt darin, mit kleinen Kindern ins Theater zu gehen, und hatte vorsorglich drei Karamelllutscher eingesteckt. Auf diese Weise war er beschäftigt oder zumindest ruhig – ganz im Gegensatz zu seinem großen Bruder, der einfach nicht stillsitzen konnte.

»Würdest du bitte aufhören, so rumzuzappeln?«, zischte Marcus, der sich über Lara hinwegbeugte und Olly aufs Knie klopfte.

Als die Saallichter zur wohlverdienten Pause angingen, warf Lara einen Seitenblick auf Marcus. Er hatte große Mühe, an der Illusion festzuhalten, dass er durch dieses Theater groß rauskommen würde.

»Du meine Güte«, sagte eine Frau mit einem adretten glänzenden weißen Bob zu ihrem Begleiter, als sie sich aus ihrer Sitzreihe zwängte und mit dem Programm Luft zufächelte. »War das nicht einmalig?«

Von ihren Plätzen im vorderen Bereich des Saals aus ließ Lara den Blick über die anderen Zuschauer schweifen, als diese das Theater verließen. Abgesehen von einigen Teenagern, die gegen ihren Willen hergeschleppt worden waren und eine Aufsässigkeit ausstrahlten, die noch größer war als die von Olly, gab es kaum jemanden unter sechzig.

Die Waylands waren die Einzigen, die noch saßen. Verhältnismäßig jung, britisch und in den vom Koffer zerknitterten Kleidern wirkten sie ein wenig fehl am Platz. Als die letzte alte Dame Richtung Ausgang schlurfte – zweifellos mit Kurs auf den Kuchenstand –, spürte Lara ein Prickeln im Nacken, als stünde jemand direkt hinter ihr.

Sie drehte sich auf ihrem Sitz und schaute sich im Zuschauerraum um. Die Reihen nagelneuer roter Plüschsitze waren hochgeklappt und zeigten ihre blanken Unterseiten. Dann nahm sie eine Bewegung wahr, und sie sah die schmale Galerie ganz hinten im Saal. Von verschnörkelten Eisenpfeilern gestützt, verlief sie über die gesamte Breite des Raums. Von ihrem Platz aus konnte sie nicht viel erkennen, aber als sie nach oben blickte, sah sie die Silhouette eines großen Mannes, der durch einen sich hinter ihm befindenden Scheinwerfer angestrahlt wurde. Sie konnte es nicht mit Sicherheit sagen, hatte aber das Gefühl, dass sein Blick auf ihr ruhte. Kaum hatte sie ihn bemerkt, als er zurück in den Schatten trat und verschwand.

»Hast du das gesehen?«, fragte sie Marcus, der endlich aufgestanden war.

»Was?«

»Da war ein Mann …« Sie zeigte auf die Galerie.

Marcus folgte ihrem Blick. »Wahrscheinlich der Beleuchter.«

»Wahrscheinlich.«

»Oder deine Fantasie geht mit dir durch. Wäre ja nicht das erste Mal. Also, wer will ein Stück Kuchen?«, fragte Marcus.

Auf dem Weg nach draußen zum Kuchenstand schaute Lara erneut zur Galerie hoch, aber es war niemand dort. Vielleicht hatte Marcus recht. Selbst mit Kontaktlinsen war die Sehkraft ihrer computergeschädigten Augen bei schwachem Licht nicht die beste. Mehr als einmal war es schon vorgekommen, dass sie in einer schummrigen Theaterkneipe Wildfremde gegrüßt hatte.

Draußen auf dem Rasen hatte der erste Akt eines prächtigen goldenen Sonnenuntergangs begonnen, und die stille Luft war erfüllt von Insekten, die sich unter den Zuschauern nach einem blutigen Imbiss umtaten.

»Sieh mal, wie schwarz die Bäume sind.« Bella zeigte auf die Umrisse der Ahornbäume auf dem Hügel hinter dem Ort. »Da oben wäre ich jetzt nicht gerne.«

»Bllllairrrr Witch.« Olly tauchte hinter ihr auf.

»Verpiss dich!« Bella stieß ihn von sich.

»Es ist wirklich eine andere Welt«, sagte Lara, die Jack mit einem Stück Kuchen fütterte und zu verhindern versuchte, dass er seine chinesische Jacke vollkleckerte. Die »Kirsch«füllung war zu rot, als dass man darauf hoffen durfte, etwaige Flecken würden sich wieder entfernen lassen.

»Also, Familie Wayland, wie hat euch unsere kleine Show gefallen?« James kam auf sie zugetrippelt und legte die Arme um Bella und Olly. Marcus warf Olly einen diskreten, aber strengen Blick zu.

»Super«, antwortete Olly, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Wunderschöne Kostüme«, fand Bella. »Stimmt’s, Mum?«

»Wer hat sie genäht?«, wollte Lara wissen.

»Betty. Betty ist ein Genie.« James strahlte, bester Stimmung durch das verschwenderische Lob, mit dem die übrigen Zuschauer ihn überhäuft hatten. »Sie macht alles: das Skript, die musikalische Leitung, die Kostüme, das Bühnenbild.«

»Und warum tritt sie nicht mehr auf?«, wollte Olly wissen, und Lara wusste nicht, ob er bloß höflich war oder im Gegenteil besonders gerissen und unverschämt.

»Lampenfieber«, flüsterte James. »Es gab da einen kleinen Zusammenbruch. Aber wir sprechen nicht darüber.«

»Wie schade«, sagte Lara und dachte einen Moment lang an ihr eigenes verschenktes Potenzial – von der Starschauspielerin des zwölften Jahrgangs zur Mutter und Hausfrau in nur etwas mehr als einem Jahr. Was hätte aus ihr werden können, wenn ihr das Leben nicht dazwischengekommen wäre?

»Wie auch immer, avanti!« James klatschte in die Hände. »Meine Damen und Herren, bitte essen Sie jetzt Ihren Kuchen auf. Die Vorstellung geht in fünf Minuten weiter. Ich möchte nicht, dass auch nur ein Krümel übrigbleibt.«

Leises Gelächter schwappte durch die Menge, dann machten sich alle über die Reste auf ihren Tellern her. Eine rotgesichtige Alyssa tauchte neben James auf.

»Äh, James, könnte ich dich bitte kurz sprechen?«, kiekste sie. »Im Foyer.« Sie drehte sich um und dackelte zurück ins Gebäude.

»Ich komme schon, Alyssa, Liebchen. Huch. Sieht so aus, als bekäme ich Schelte von der Dame des Hauses«, wisperte James Lara und Marcus zu. »Sie mag meine spontanen Ansagen nicht besonders. Findet, das sei ihre Aufgabe. Gott, sie ist so streng

»Der ist aber gut drauf heute Abend«, meinte Olly, als sie ihn über den Rasen davoneilen sahen.

»Den Leuten scheint es jedenfalls zu gefallen«, sagte Marcus und stürzte den letzten Schluck aus seiner Limonadendose hinunter. »Gott, das Zeug ist ja ekelhaft. Root Beer – ich möchte mal wissen, aus was für ›Wurzeln‹ sie das herstellen.«

»Kommt, lasst uns wieder reingehen«, schlug Lara vor und nahm Jack auf den Arm, der an ihre Beine gelehnt dastand und kurz vor dem Einschlafen war.

Der folgende Akt behandelte die glücklichere zweite Hälfte der Lebensgeschichte von Bettys Alter Ego. Sie fand die Liebe ihres Lebens – James, vermutlich –, reüssierte am Broadway und wurde von Fremden auf der Straße um Autogramme gebeten. Im Finale schließlich kam die in Pailletten gehüllte June Turpin auf einem glitzernden Sperrholzmond hereingeschwebt. Gestützt wurde sie – das hatte Lara dem Programmheft entnommen – von einem Trupp der Freiwilligen Feuerwehr von Trout Island in voller Uniform.

»Was, wenn während der letzten Szene irgendwo ein Feuer ausbricht?«, fragte sie Marcus flüsternd.

Dann öffnete June Turpin den Mund, um den Finalsong zu singen. Zu diesem musikalischen Thema hatte die ganze bisherige Musik hingeführt.

You! You set me on fire,
Couldn’t get any higher,
Don’t know no one flyer,
Now sir, be my sire …

Der Text in Kombination mit der schwankenden Schauspielerin, deren Gleichgewicht durch den schaukelnden Mond noch mehr in Gefahr geriet, löste bei Olly einen erstickten Lachkrampf aus. Glücklicherweise war die Musik, die aus den zwei Lautsprechern vor der Bühne dröhnte, dermaßen laut, dass nur Lara es mitbekam.

Nachdem der Vorhang gefallen war, kamen alle Mitwirkenden auf die kleine Bühne und verbeugten sich, begleitet von donnerndem Applaus. Um die Waylands herum erhoben sich die Zuschauer von ihren Plätzen und riefen: »Bravo!«

»Aufstehen«, zischte Marcus und erhob sich.

»Spinnst du?«, sagte Olly.

»Du stehst jetzt auf, oder du bekommst nie wieder Taschengeld«, sagte Marcus.

Die gesamte Familie erhob sich, sogar Lara, die den schwitzenden, schlafenden Jack auf dem Arm trug.

»Bravo!«, rief Marcus und klatschte mit hoch über dem Kopf erhobenen Händen. »Zugabe!«

»Lieber Gott, bitte nicht«, murmelte Olly.

Betty kam auf die Bühne getänzelt, und der Applaus schwoll zur doppelten Lautstärke an, als sie in einen tiefen Knicks sank. Lara fragte sich, wie es sein konnte, dass ein dermaßen sittenstrenges Publikum einen Paradiesvogel wie sie so vergötterte. Vielleicht war ein Hauch des vielzitierten New Yorker Liberalismus bis hierher vorgedrungen. Oder aber die Leute glaubten, dass die glamouröse Frau Betty echt war. Und wieso auch nicht? Betty und James glaubten daran, und war das nicht die Quintessenz des amerikanischen Traums: dass man der sein konnte, der man sein wollte, und das tun, was einem beliebte?

Wenn es dieser Traum doch nur in den frühen Neunzigern nach Stratford-upon-Avon geschafft hätte, dachte Lara.

Sie sah, wie Bella rot wurde, als der junge Mann, Sean, auf die Bühne kam, um Betty einen gigantischen Strauß roter Rosen zu überreichen. Sean trat zurück, und Lara war sich ganz sicher, dass er dabei ihrer Tochter einen Blick zuwarf. Dann zeigte Betty zur linken Bühnenseite, und James kam gemessenen Schrittes und mit ausgebreiteten Armen auf die Bühne. Er beugte sich zu Betty und gab ihr einen Kuss, und sie beide strahlten ins Publikum. Der Applaus ebbte ganz allmählich ab.

»Meine Damen und Herren, Jungen und Mädchen«, sagte James. »Das Trout Island Theatre möchte Ihnen für Ihr Kommen danken. Wie Sie wissen, sind die Fördergelder, die unser wundervolles Gemeindetheater für die zahlreichen Darbietungen erhält, die wir für Sie und Ihre Nachbarn auf die Bühne bringen, lächerlich gering. Wir hoffen sehr, dass Ihnen die Aufführung gefallen hat. Und falls dem so ist, dann hoffen wir, dass Sie Ihren Freunden davon erzählen werden. Außerdem möchte ich noch ankündigen, dass in drei Wochen unsere Produktion von William Shakespeares schottischem Stück Premiere haben wird. Unser Star Marcus Wayland ist heute Abend hier, er ist den weiten Weg aus England gekommen. Marcus, steh auf.«

Marcus erhob sich, wandte sich um und verbeugte sich so würdevoll, wie er es vermochte. Wieder applaudierten die Zuschauer, dann gebot James Schweigen, damit er fortfahren konnte.

»Wie Sie wissen, verlangen wir keinen Eintritt, aber wenn Ihnen die Vorstellung gefallen hat, dann greifen Sie bitte in Ihre Taschen, und geben Sie unseren Schauspielern, was Sie entbehren können. Sie werden dort hinten mit Hüten bereitstehen und Ihre Spenden dankend entgegennehmen. Kein Betrag ist zu klein, und …«, und er machte eine Pause, in der das Publikum Gelegenheit bekam, sein Lächeln zu erwidern, »kein Betrag kann jemals zu groß sein.«

Erneut wurde Beifall geklatscht, als die Schauspieler von der Bühne sprangen, an den hinteren Türen Aufstellung bezogen und den Zuschauern ihre Hüte hinhielten, damit diese Ein-Dollar-Scheine, Zwanziger, Fünfziger und sogar Schecks über größere Summen hineinwerfen konnten.

»Wie entwürdigend«, sagte Olly leise.

»Das ist eine althergebrachte Tradition«, erwiderte Marcus laut. »Ich finde es großartig.« Dann wurde er von einer Gruppe Damen umringt, die ihn alle kennenlernen wollten, um zu erfahren, ob er aus London war und sie ihn aus irgendwelchen Filmen kannten.

Er war in seinem Element.

Lara schlenderte mit den Kindern nach draußen. Sie hoffte, ein oder zwei Gläser Wein auf der Party würden sie etwas munterer machen, trotzdem fiel es ihr schwer, Begeisterung für den bevorstehenden Abend aufzubringen. Daran konnte auch der Gedanke an die Überraschung – wahrscheinlich irgendetwas Schrilles und Peinliches, ein typisch englisches Gericht oder ein untragbarer Hut, den Betty gebastelt hatte – nichts ändern.

»Ich muss mich setzen«, sagte sie zu Bella und Olly.

Also ließen sich Mutter und Kinder der Familie Wayland auf der Rollstuhlrampe neben dem Theatereingang nieder und warteten darauf, dass sich ihr Ehemann und Vater wieder zu ihnen gesellte. Sie sahen zu, wie erst die Zuschauer gingen und danach, in aufgekratzten Grüppchen, die Schauspieler. Sie warteten fast vierzig Minuten.

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