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Die neuen Reifen kosteten sie fast achthundert Dollar, weil sie exakt dieselben Modelle nehmen musste wie die, die ursprünglich am Wagen gewesen waren, und die lagen, wie nicht anders zu erwarten, im oberen Preissegment. Dies bedeutete auch, dass der Mechaniker erst zurück in die Werkstatt fahren musste, um die Reifen zu holen, wodurch die Reparatur fast den gesamten Nachmittag in Anspruch nahm. Sie rief Marcus auf der Festnetznummer des Hauses an und berichtete ihm, was passiert war.
»Scheiße«, sagte er.
»Ich weiß noch nicht genau, wann ich zurück bin«, erklärte sie. »Das dauert alles ewig. Und es ist nichts zu essen im Haus.«
»Mach dir keine Sorgen, ich habe hier alles im Griff. Wenn du wiederkommst, wartet ein leckeres Essen auf dich.«
Wow, dachte sie. Das wäre ja mal was ganz Neues.
Sie brauchte lange, um den Weg aus der Stadt zu finden. Als sie sich endlich auf der unbekannten menschenleeren Landstraße wiederfand, war Jack eingeschlafen, und es war später Nachmittag.
Sie war nicht gern allein mit der Natur, nicht einmal im Schutz ihres großen Wagens. Ihre Fantasie hatte die lästige Angewohnheit, Blüten zu treiben. Jedes Mal, wenn sie um eine Kurve bog, rechnete sie damit, dahinter eine widerliche alte Hexe am Straßenrand stehen zu sehen, die ihr einen Fluch entgegenschleuderte. Bei jedem Blick in den Rückspiegel hatte sie Angst, in die vor Wahnsinn funkelnden Augen einer Gestalt zu blicken, die hinter ihr auf dem Rücksitz saß und ihr irgendetwas Schreckliches antun wollte.
Sie hatte die Stadt bereits ein gutes Stück hinter sich gelassen, als plötzlich ein graubraunes Auto mit röhrendem Motor hinter ihr auftauchte, das auf einer besonders kurvenreichen Teilstrecke der Landstraße direkt an ihrer Stoßstange klebte. Als der Fahrer endlich zum Überholen ansetzte, wobei er aufblendete, hupte und sich sogar die Mühe machte, das Fenster herunterzukurbeln und ihr den erhobenen Mittelfinger entgegenzustrecken, war Lara bereits voll im Kampf-oder-Flucht-Modus. Ihre Handflächen waren schweißnass, ihr Herz raste. Erst jetzt konnte sie sehen, dass es sich bei dem Fahrer um eine Frau handelte.
»Blöde Kuh«, knurrte sie ihr hinterher, einfach nur, um sich selbst Mut zu machen.
Sie zwang ihre Atmung zur Ruhe und versuchte, nicht daran zu denken, was in den dicht bewaldeten Hügeln um sie herum so alles vor sich ging. Das fremde Auto hätte sie von der Straße abdrängen können, und niemand hätte je davon erfahren, bis man sie irgendwann Jahre später gefunden hätte, ein ausgedörrtes Gerippe, der rostende Chevy von Schlingpflanzen überwuchert.
Als sie endlich Trout Island erreicht hatte und am Friedhof vorbeifuhr, beschloss sie, Marcus gegenüber die Rechnung für die Reifen nicht zu erwähnen. Sollte er nachfragen, würde sie behaupten, sie hätte hundert Dollar bezahlt. Auch das würde er schon als unverschämt teuer empfinden, aber es war lange nicht so schlimm wie der tatsächliche Betrag, der eine ganze Woche grüblerischer Schweigsamkeit nach sich ziehen würde.
Glücklicherweise ging Marcus’ Abneigung gegen alles Finanzielle so weit, dass er es nicht einmal über sich brachte, die Briefumschläge mit ihren Kontoauszügen und Kreditkartenrechnungen zu öffnen. Die Verwaltung des Geldes oblag allein ihr, und sie sah es als ihre Pflicht an, ihn vor den schmerzhafteren Wahrheiten zu schützen, indem sie gelegentlich ein wenig untertrieb.
Sie bog in die Einfahrt des Hauses ein. Wenn man es durch halbgeschlossene Augen betrachtete, bekam man noch eine Ahnung davon, wie eindrucksvoll es früher einmal ausgesehen haben musste. Leider zeigten der zugewucherte Vorgarten und der triste Teerplatz hinten nur allzu deutlich, dass diese Zeiten lange vorbei waren.
Sie hob Jack aus dem Kindersitz und trug ihn die wackligen Verandastufen zum Hintereingang hinauf. An der Küchentür hing ein Zettel, auf dem – in einer Handschrift, die so verschnörkelt war, dass sie nur von James stammen konnte – stand, dass das Gas nunmehr repariert sei.
Im Haus regte sich nichts. »Hallo?«, rief sie und trug Jack ins Wohnzimmer, wo sie ihn aufs Sofa bettete.
Keine Antwort.
»›Ich habe alles im Griff‹«, knurrte Lara, als sie zurück nach draußen ging, um die Einkäufe hereinzutragen. »›Ein leckeres Essen wartet auf dich‹. Von wegen.«
Manchmal brachte Marcus sie zur Weißglut.
Obendrein war sie so müde, dass sie sich kaum noch bewegen konnte.
Sie musste fünfmal laufen, bis sie alles ins Haus geschafft hatte. Die Sachen, die kühl gestellt werden mussten, legte sie mitsamt den Einkaufstüten in den Kühlschrank, den sie, so hatte sie sich vorgenommen, am nächsten Morgen saubermachen würde. Die Schränke waren ebenfalls völlig verdreckt, also ließ sie die restlichen Einkaufstüten auf dem Küchentresen stehen. Sie war gerade im Begriff, sich eine Flasche Rotwein aufzumachen und von einem Everything-Bagel mit Sesam, Mohn, Zwiebeln und Knoblauch abzubeißen, als sie auf der vorderen Veranda Schritte und dann das Zuschnappen der Fliegengittertür hörte.
»Hallo? Müde Reisende?«, rief Marcus laut. »Wir bringen Nahrung.«
Gleich darauf tauchten er, Olly und Bella in der Küche auf. Jeder von ihnen trug eine Pizzaschachtel vor sich her, die fast so breit war wie Bella hoch.
»Wein gibt es auch!«, dröhnte Marcus, der die Flasche neben Lara erspäht hatte. »Und unser Auto hat wieder Luft. Das Leben meint es gut mit uns!«
Sie aßen Pizza, bis sie sich kaum noch rühren konnten, und schauten sich eine DVD mit dem Film Schenectady, New York auf Laras Laptop an. Niemand konnte der Handlung folgen außer Olly, der seine Familie für ihre mangelnden intellektuellen Fähigkeiten mit beißendem Spott überschüttete. Jack rollte sich neben Lara zusammen und schlief ein.
»Schlafenszeit für alle«, verkündete Lara, als Marcus Jack die Treppe hinauftrug. Olly erhob sich seufzend, aber Bella blieb noch sitzen.
»Mum«, sagte sie, sobald Ollys schwere Schritte ganz oben auf der Treppe angekommen waren. »Olly ist richtig fies zu mir.«
»Immer noch?«, fragte Lara, während sie die leeren Pizzaschachteln zusammenfaltete, wobei sie achtgab, dass nicht allzu viele fettige Krümel auf den Boden fielen. »Gib mir mal das Glas da, ja?«
»Er nervt mich die ganze Zeit wegen Jonny. Dabei …« Bella stand auf der Schwelle zum Wohnzimmer und knetete ihre Hände. Ihre Wangen waren gerötet.
»Na ja, es hat ihm eben viel bedeutet, dass du mit seinem besten Freund zusammen warst«, sagte Lara, die damit beschäftigt war, die Spuren des schmierigen Festmahls zu beseitigen. »Er wird schon darüber hinwegkommen. Na los, steh nicht einfach nur so rum, Bella. Räum die Teller zusammen, ja?«
Seufzend knallte Bella die Teller aufeinander, trug sie in die Küche und stellte sie neben die Spüle.
»Ich weiß, dass Olly manchmal nervig sein kann«, gab Lara zu und nahm ihre Tochter bei den Händen. »Aber nur, weil er dich liebhat.«
»Ach, was soll das Ganze überhaupt? Du kapierst es ja eh nicht«, entgegnete Bella und machte sich los. »Ich geh ins Bett.« Sie stapfte ins Wohnzimmer, gab der Tür einen Stoß, als hege sie einen persönlichen Groll gegen sie, dann floh sie durch den Flur und unter lautem Gepolter die Treppe hinauf.
Teenager, dachte Lara in der Stille, die auf Bellas Abgang folgte. Da macht man was mit.
Dann nahm sie sich den Abwasch vor.
Als Lara zurück nach unten kam, nachdem sie den Kindern einen Gutenachtkuss gegeben hatte – ein Ritual, an dem sie festhielt, egal wie sehr ihre Ältesten auch darauf pochten, dass es weder notwendig noch erwünscht sei –, fand sie Marcus rauchend auf der Hollywoodschaukel vor. Zu seinen Füßen standen eine zweite Flasche Wein und zwei Gläser. Sie setzte sich neben ihn.
»So lässt es sich leben«, verkündete Marcus. »Ich glaube, wir haben ausnahmsweise mal genau die richtige Entscheidung getroffen.«
Sie suchte in seinem Gesicht nach der tieferen Bedeutung dieser Worte. Waren sie eine Art Entschuldigung für das Baby? Vielleicht. Das musste sie jedenfalls glauben. Er legte den Arm um sie und beugte sich zu ihr, um sie zu küssen.
»Ich l-l-l-liebe dich, L-l-l-lara.« So sagte er es immer.
»Ich dich auch«, sagte sie. Ihre übliche Antwort.
»Bumsen kommt wohl nicht in Frage?«
Lara machte sich von ihm los. »Das geht noch nicht.«
»Ja. Ja. Natürlich nicht. Tut mir leid.«
Um die Lampe auf der Veranda hatten sich ganze Heerscharen stechender Insekten versammelt. Marcus klatschte einen Moskito an seinem Hals tot. »Besser, wir gehen rein, sonst werden wir noch bei lebendigem Leib aufgefressen. Irgendeinen Wermutstropfen gibt es immer.«
»Ich bin todmüde.« Lara hob Flasche und Gläser auf und ging zurück ins Haus. Marcus schaltete das Licht aus und folgte ihr.
»Was haben die Reifen denn gekostet?«, wollte er wissen, als sie nach oben gingen.
Sie drehte sich zu ihm um und sagte: »Hundert Dollar.«
»Du lieber Himmel.«