24
Marcus hatte Probe, Bella und Olly waren unterwegs, Jack schlief, und Lara hätte Zeit gehabt, sich ihrem Businessplan zu widmen. Stattdessen räumte sie auf. Es war ihr unbegreiflich, wie viel Unordnung ihre Familie innerhalb von zwei Tagen anrichten konnte. Da sie noch keinen offiziellen Platz für die Schmutzwäsche bestimmt hatte, waren Bella, Olly und Marcus dazu übergegangen, ihre dreckige Unterwäsche, stinkenden Socken und T-Shirts nach dem Ausziehen einfach auf dem Fußboden liegen zu lassen. Lara fand, dass sich genügend Wäsche angesammelt hatte, um eine Fahrt zum Waschsalon zu rechtfertigen, der, wie James ihr mitgeteilt hatte, an der Main Street hinter der Abzweigung zum Theater lag.
Sie ging von Zimmer zu Zimmer, sammelte Kleider auf, stopfte sie in eine Tüte und versuchte, dabei nicht an Stephen zu denken oder daran, was als Nächstes passieren würde. Wenn sie das Problem in ihrem Kopf ganz weit nach hinten in eine Ecke schob, würde es sich vielleicht von selbst lösen, ohne dass sie etwas dafür tun musste. Doch die Spuren, die er auf ihrem Körper hinterlassen hatte, waren schwer zu ignorieren. Alles, was sie tat, schien von einer ganz neuen Bedeutsamkeit erfüllt. Sie spürte seine Anwesenheit in den Wänden, als verfolge er jede ihrer Bewegungen und wäge sie mit seinen Blicken ab.
Genau das Gefühl hatte sie auch, als sie sich in Bellas Zimmer auf den Bauch legte und den Arm unter das Bett streckte, um nach einem Slip zu greifen. Unter Stephens imaginärem Blick war es eher eine Tanzbewegung als ein häuslicher Handgriff. Als sie den Slip ihrer Tochter unter dem Bett hervorzog, blieb ein Stück Papier daran hängen. Den Fund in der Hand, kam Lara auf die Knie und stellte fest, dass es sich um die alte Fotografie eines Mädchens handelte. Es war vielleicht zwölf Jahre alt und blickte, ohne zu lächeln, starr in die Kamera. Es trug Kleider, die Laras Vermutung nach aus den vierziger Jahren stammen mussten. Als sie das Foto umdrehte, sah sie, dass jemand auf die Rückseite den Namen »Jane« geschrieben hatte.
Lara wischte den Staub vom Foto und lehnte es gegen Bellas Fensterrahmen.
»Mummy!«, rief Jack laut aus seinem Zimmer. Laras freie Zeit war um. Jetzt stand ihr ein langer, heißer Nachmittag bevor, und sie hatte niemanden außer Jack zur Gesellschaft.
»Wie wäre es mit einer Fahrt in den Waschsalon, Jacky?«, schlug sie vor. »Ich ziehe mich nur schnell um.« Sie wollte Stephens Hemd mit in die Wäsche geben, auch wenn sie sich ihres Beweggrundes – wenn es sauber war, würde sie zu ihm fahren und es ihm zurückgeben müssen – ein wenig schämte.
Sie gab Jack ein Buch, das er anschauen konnte, während sie in der kleinen Wanne mit dem gebogenen Rand duschte. Während das eisige Wasser ihr die Hitze aus dem Körper saugte, überkam sie eine ungekannte geistige Klarheit. Sie musste Stephen sagen, dass er sie vergessen und in Frieden lassen solle. Ihre Familie war wichtiger als alles andere auf der Welt. Sie kam an erster Stelle, vor ihren eigenen selbstsüchtigen Wünschen.
Alle Beteiligten – oder zumindest die meisten – wären glücklicher, wenn die Dinge so blieben, wie sie waren.
Sie stieg aus der Wanne und trocknete sich ab, wobei sie es vermied, sich selbst im beschlagenen alten Spiegel an der blechverkleideten Wand gegenüber der Wanne zu betrachten. Das Letzte, was sie jetzt sehen wollte, war ihr schlaffer Körper mit seinen allzu deutlich sichtbaren Spuren kürzlicher und länger zurückliegender Schwangerschaften.
Die Zwillinge. Was wäre wenn …
Sie schüttelte den Kopf. Wie schrecklich doch ein nagender Zweifel war, wie ein Samen, der tief in einem vergraben lag, aber jederzeit austreiben und seinen Kopf aus der Erde recken konnte.
Sie entfernte die letzten Reste von Mascara, die um ihre Augen herum zu Flecken verlaufen waren, so dass sie aussah wie ein Pandabär. Dann trug sie Feuchtigkeitscreme auf und tuschte sich die Wimpern neu. Sie schlüpfte in frische Unterwäsche, zog ihr tintenblaues Leinenkleid an, das immer besser aussah, wenn es zerknittert aus dem Koffer kam, und knüllte Stephens Hemd zusammen, um es zur Schmutzwäsche zu stecken. Dann machte sie sich mit Jack im Buggy auf die Suche nach dem Waschsalon.
Die trübe Hitze hatte sich in einen gelben Dunst verwandelt, der so dicht war, dass Lara das Gefühl hatte, als müsse sie sich durch ihn hindurchkämpfen, um auf der Main Street vorwärtszukommen. Die Straße führte an einem unbesetzten Verkaufsstand mit Blumen und Mais vorbei, dann folgten mehrere Häuser in zunehmenden Stadien des Verfalls. Schließlich gelangte sie zu dem Schild, das James ihr beschrieben hatte. Es war mit abblätternder Farbe handgemalt und dermaßen alt, dass man es in einem der Antikläden rund um die Bibliothek hätte verkaufen können. »Wäscherei« stand in verschlungener Schreibschrift darauf, darunter waren zwei Kinder abgebildet, die Kleider in einer Zinkwanne wuschen, während um sie herum Seifenblasen aufstiegen. Ganz unten auf dem Schild deutete ein Pfeil zu einer staubigen Einfahrt, die unmittelbar hinter einem abbruchreifen Haus um die Ecke führte. Lara hoffte, dass die Wäscherei mehr als bloß Zinkwannen zu bieten hatte, um den großen Sack Schmutzwäsche zu reinigen.
Sie war froh, als sie in dem niedrigen Häuschen am Ende der Einfahrt insgesamt zehn große Waschmaschinen und fünf Trockner vorfand. Abgesehen von einer einzelnen Wäscheladung, die in einem der Trockner im Kreis herumgeschleudert wurde, war der Waschsalon leer. Lara blieb stehen und betrachtete das Braun, Beige und Grau der Kleider in der Trommel, als sie an ihr vorbeiwirbelten. Die Hitze im Waschsalon machte das Atmen fast unmöglich, und Lara fluchte leise, als sie spürte, dass ihre Achseln feucht wurden – sie hatte vergessen, nach der Dusche Deo zu benutzen. Es kam ihr so sinnlos vor, frische Kleider vollzuschwitzen, während man die alten wusch. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen und das Kleid mit in die Maschine zu werfen.
Sie stopfte die Schmutzwäsche in die Trommel, fütterte den Schlitz mit Vierteldollarstücken und die Waschpulverschublade mit Waschpulver. Dann drehte sie sich zu Jack um, der wie ein Klecks Butter in seinem Buggy hing. »Wollen wir nach draußen gehen und das Buch hier lesen?«, fragte sie und holte sein derzeitiges Lieblingsbuch, Wir gehen auf Bärenjagd, aus ihrer Handtasche.
»Nein«, antwortete Jack.
»Was möchtest du denn machen?« Sie hatten eine Stunde, bis die Wäsche durchgelaufen war, und Lara wollte nicht den ganzen Weg zurück zum Haus gehen, um dann zwanzig Minuten Zeit zu haben, bevor sie erneut losmussten.
»Ich will schaukeln«, quengelte Jack. »Und es ist so heiß, ich halt das nicht aus.«
Er verzog sein verschwitztes kleines Gesicht zu einer missmutigen Grimasse. Lara sah sich im Waschsalon um. Mit seinen Wänden aus billigem Plastiklaminat und dem abgewetzten Linoleumfußboden war er fast genauso trostlos wie ihr Haus. Lara fragte sich, wer auf die Idee kam, in einem Ort wie diesem einen Waschsalon zu betreiben. Seine versteckte und durch Bäume geschützte Lage machte ihn zu einem idealen Ort für Unfug aller Arten. Jack hat recht, dachte sie. Die Schaukel ist tausendmal besser, als hier herumzusitzen und zu warten.
Da Jack behauptete, zum Gehen zu müde zu sein, schob Lara ihn im Buggy nach draußen. Sie vermutete, dass sie, um zum Spielplatz zu gelangen, die Abkürzung über den Schulhof nehmen konnten. Sie überquerten gerade den Parkplatz vor der Wäscherei, als ein Wagen mit hoher Geschwindigkeit um die schwer einsehbare Straßenecke in die Einfahrt gebogen kam. Lara schrie auf und versetzte Jacks Buggy einen Stoß, so dass er in eine Hecke rollte. Hätte sie nicht so schnell reagiert, hätte der Wagen den Buggy gestreift oder sogar Schlimmeres. Das Auto kam mit kreischenden Bremsen zum Stehen.
»Immer sachte«, sagte Lara, als sie sich wieder gesammelt hatte.
Die Fahrerin des Wagens stieg aus und murmelte etwas zu sich selbst. Ohne Lara und Jack eines Blickes zu würdigen, marschierte sie schnurstracks in den Waschsalon. Lara sah nichts als jede Menge Beige und ein braun-türkis gewürfeltes Tuch, das sie vom Vortag aus dem Diner wiedererkannte.
»Unmöglich«, sagte Lara laut zu Jack in der Hoffnung, dass die Frau es hören würde. »Sie hätte uns umbringen können.« Sie überlegte, ob sie genug Mumm hätte, hineinzugehen und die Frau auf ihr Verhalten anzusprechen. Doch dann kam diese keine Minute später mit einer vollgestopften Tasche wieder heraus. Hinter der großen Sonnenbrille konnte Lara das Gesicht der Frau nicht erkennen, aber sie hatte einen verkniffenen, bitteren Zug um den Mund. Sie warf die Wäsche auf den Rücksitz ihres Wagens, sprang auf den Fahrersitz und setzte mit quietschenden Reifen in einem weiten Bogen zurück, bevor sie davonraste und den Geruch verbrannten Gummis zurückließ.
»Erstaunlich«, sagte Lara.
»Böse Frau«, sagte Jack.
»Ganz böse Frau«, pflichtete Lara ihm bei.
Links vom Parkplatz führte ein Trampelpfad einen mit Gras bewachsenen Abhang hinunter zum Schulsportplatz. Es schien tatsächlich eine gute Abkürzung zu sein, allerdings würden sie den Buggy oben stehen lassen müssen. Lara verhandelte kurz mit Jack, dann legte sie den Buggy zusammen und deponierte ihn unter einem Busch. Gemeinsam machten sie sich, halb gehend, halb rutschend, auf den Weg den Hang hinunter. Sie überquerten das Fußballfeld und stiegen auf der anderen Seite wieder hoch zum Spielplatz.
Lara stieß Jack auf der Schaukel an und unterhielt sich mit ihm, während sie gleichzeitig versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, was soeben passiert war. Die Einfahrt zum Waschsalon war breit genug, so dass Fußgänger und ein Fahrzeug problemlos nebeneinander Platz hatten. Außerdem würde doch jeder, der halbwegs bei Verstand war, in einer solch engen Kurve langsam fahren. Und ganz abgesehen davon, hätte die Fahrerin noch genügend Zeit gehabt, Lara und Jack zu sehen und auszuweichen. Fast schien es so, als hätte sie mit voller Absicht auf sie zugehalten. Aber warum?
Vielleicht hatte das Sonnenlicht sie geblendet. Die Wolkendecke hatte sich in der letzten halben Stunde aufgelockert, und von Zeit zu Zeit stieß die Sonne durch die Lücken. Lara testete diese Theorie, indem sie zuerst nach oben in den Himmel und dann geradeaus blickte. Es stimmte, ihre Pupillen brauchten eine Weile, um sich anzupassen. Das war auch der Grund, weshalb es mehrere Sekunden dauerte, bis ihr bewusst wurde, dass sie genau zu einem großen, fremden Mann hinüberschaute, der am hinteren Ende des Spielplatzes in einer Art Pavillon saß.
Lara spürte einen Stich des Unbehagens. Sie hatte geglaubt, sie und Jack wären allein. Das Gesicht des Fremden war hinter einem Vorhang langer blonder Haare und einer bis zu den durch eine Pilotenbrille verdeckten Augen heruntergezogenen Baseballkappe fast nicht zu erkennen, und doch hatte sie das untrügliche Gefühl, dass er in ihre Richtung blickte. Ihre Vermutung bestätigte sich, als er lächelnd die Hand hob, um ihr zuzuwinken. Irgendetwas an ihm war seltsam, und Laras Instinkte schlugen Alarm. Er war für die Hitze viel zu dick angezogen und schien irgendwie nicht in seine Haut zu passen. Hätte Lara für einen Film die Rolle eines Psychopathen besetzen müssen, hätte sie den Mann auf jeden Fall zum Recall eingeladen.
Sie wandte den Blick ab und tat so, als hätte sie sein Winken nicht bemerkt. Gleichzeitig überlegte sie. Der Spielplatz lag in unmittelbarer Nähe zur Straße. Überall standen Häuser, und das Theater befand sich direkt gegenüber. Es waren jede Menge Leute in der Nähe, die sie hören würden, falls sie schrie.
»Mummy, wer ist das?«, fragte Jack und zeigte auf den Mann, während er auf der Schaukel nach oben flog.
»Pst. Man zeigt nicht mit dem Finger auf andere Leute, Schätzchen«, mahnte Lara. Dann sah sie zu ihrer Beunruhigung, dass der Unbekannte aufgestanden war und Anstalten machte, zu ihnen herüberzukommen.
»Ich glaube, jetzt ist es genug, was meinst du, Jack? Wir könnten Daddy auf der Probe besuchen gehen.«
»Jippie!«, rief Jack, während Lara bereits nach der Schaukel griff, um sie anzuhalten. Sie nahm ihren Sohn auf den Arm und wandte sich zum Gehen.
»Hallo!«, rief der Mann und beschleunigte seine Schritte, um sie einzuholen. Er hatte einen starken Südstaatenakzent. »Warten Sie kurz.«
»Verzeihung. Ich glaube nicht, dass wir uns kennen«, sagte Lara, die einsah, dass sie keine andere Wahl hatte, als stehen zu bleiben und mit ihm zu reden. Was blieb ihr anderes übrig? Falls der Mann wirklich gefährlich war, würde sie ihm sowieso niemals davonlaufen können, und falls er nur freundlich sein wollte, sollte er sie nicht für unhöflich halten.
»Sam Miller«, stellte sich der Mann vor und streckte die Hand aus, um ihre zu schütteln.
»Hallo. Lara Wayland«, sagte Lara und sah ihn an.
Jack kicherte und zappelte so lange auf Laras Arm, bis sie ihn auf den Boden stellte. Er ging auf den Mann zu. »Stephen, warum hast du dich verkleidet?«, wollte Jack wissen.
»Erwischt«, antwortete »Sam Miller« in dem Manchester-Dialekt, den Lara so gut kannte. »Wie heißt es doch so schön? Kindermund tut Wahrheit kund.«
»Stephen?« Lara musste lachen, so erleichtert war sie. »Was in drei Teufels Namen treibst du in dem Aufzug?«
»Wie soll ich mich sonst frei bewegen?«, fragte er zurück. »Ich habe Jahre meines Lebens in der Maske zugebracht. Jetzt kann ich das, was ich da gelernt habe, wenigstens mal zum Einsatz bringen.«
»Aber warum so?«, fragte Lara. »Ich dachte schon, du wärst ein Verrückter, der uns kidnappen will.«
»Die meisten Leute kommen Sam Miller nicht zu nahe«, erklärte Stephen lachend. »Sie stellen ihm nicht allzu viele Fragen.«
»Das scheint mir doch ein unverhältnismäßig großer Aufwand zu sein«, erwiderte Lara, während ihr klar wurde, wie dumm sie gewesen war. Unter den vier oder fünf äußerlichen Bestandteilen seiner Verkleidung war es ganz eindeutig Stephen.
»Es ist eine angenehme Abwechslung. Normalerweise starren mich immer alle an, weil sie glauben, ich wäre ihr Eigentum. Ich habe das einfach nicht länger ausgehalten. Mag sein, dass es dir überzogen vorkommt, aber es funktioniert.«
»In der Maskerade kann ich dich gar nicht ernst nehmen.«
»Ich bin froh, dass wir uns über den Weg gelaufen sind«, gab Stephen zu. »Ich musste immer wieder über unser Gespräch gestern Abend nachdenken, und ich wollte mich bei dir entschuldigen.«
Lara warf ihm einen warnenden Blick zu und deutete mit dem Kopf auf Jack, der sie an der Hand gefasst hatte und in Richtung Theater zog.
»Oje«, sagte Lara. »Ich habe ihm versprochen, dass wir bei Marcus reinschauen.«
»Isst du gerne Eis, Jacko?« Stephen beugte sich zu Jack herunter, bis seine Augen auf derselben Höhe waren wie die des Jungen.
Jack strahlte und nickte, so dass es aussah, als würden seine Sommersprossen tanzen.
»Pass auf, dann werde ich jetzt mit dir und deiner Mum zur hiesigen Eisdiele fahren. Es ist die beste im ganzen County. Jeder kennt sie.«
»Wow!«, machte Jack.
»Sie heißt Pretty Fly Pie …«, erklärte Stephen und richtete sich auf. »Und sie ist wirklich einmalig. Mein Wagen steht da drüben.« Er zeigte auf einen zerbeulten roten Jeep Wrangler, der vor dem Theater parkte.
»Müssen wir mit dem Auto fahren?« Lara dachte an ihre Wäsche.
»Auf jeden Fall. Es sind ungefähr zehn Meilen in diese Richtung.« Stephen deutete nach Westen.
»Und das nennst du hiesig?«
»Willkommen in Amerika.«
Während sie beim Haus anhielten, damit Lara den Kindersitz holen konnte, ließ Stephen zu Jacks Entzücken das Dach des Wrangler herunter. Den Wind in den Haaren, fuhren sie los, aus dem Ort hinaus in dieselbe Richtung, die Lara beim Joggen eingeschlagen hatte. Doch statt nach der Überquerung der Brücke dem Fluss zu folgen, fuhren sie geradeaus weiter aufs offene Land hinaus. Im Zickzack schlängelten sie sich einen steilen Hügel hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter, dann kreuzten sie eine gigantische sechsspurige Schnellstraße, auf der lediglich drei Autos und ein Lkw zu sehen waren. Links der Straße befand sich eine verlassene Tankstelle, die im Schatten eines nicht zum Stil der Umgebung passenden, zehn Meter hohen Sunoco-Leuchtschilds regelrecht winzig aussah. Abgesehen von einem kleinen Wohnwagenpark, war sie das erste Gebäude, das sie zu Gesicht bekamen, seit sie Trout Island verlassen hatten.
»Wie weit ist es denn noch?«, rief Lara über das Röhren des Motors und den Fahrtwind hinweg. Sie staunte sehr, dass Stephens Perücke noch festsaß.
»Wir sind fast da«, antwortete er. »Haltet Ausschau nach dem Pie.«
Hinter der Brücke über die Schnellstraße bogen sie rechts ab und fuhren langsam durch einen Ort, der das exakte Abbild von Trout Island war, nur dass er die majestätische Präsenz eines Theatergebäudes vermissen ließ. Am Ortsausgang beschleunigte Stephen wieder, und es ging noch einige Meilen durch die Wildnis, bis schließlich vor ihnen ein hölzernes Schild in Form eines gigantischen geflügelten Pie auftauchte.
»Pretty Fly Pie …«, verkündete Stephen und lenkte den Wagen auf den gekiesten Parkplatz vor einer rot gestrichenen Scheune. Ein weiteres Schild über dem Eingang versprach »… und verflixt gutes Eis«.
»Wehe, wenn es nicht verflixt gut ist«, sagte Lara. »Es hat einen ziemlich heftigen CO2-Fußabdruck.«
»Glaub mir, es ist jedes Gramm wert«, versicherte Stephen und holte Jack aus seinem Kindersitz. Er wollte ihn auf den Boden stellen, doch Jack klammerte sich an seinem Hals fest. Sie sahen aus wie eine Familie, als sie über den Parkplatz gingen.
Durch das Scheunentor gelangte man in einen großen, hohen Raum, in dem erstaunlich viele Menschen auf bunt zusammengewürfelten Stühlen saßen und Pie oder Eiscreme aßen. Einige spielten Schach auf Brettern, die auf die Tischplatten gemalt waren, andere hatten sich über Puzzles gebeugt. Man konnte auch Obst und Gemüse kaufen – an einem hölzernen Verkaufsstand gleich neben dem Eingang wurden Pfirsiche aus Pennsylvania angeboten, die so reif waren, dass sie die Scheune mit ihrem lieblichen Duft erfüllten. Daneben standen auf einem Regal Körbe voller Maiskolben, deren gelbe Kerne unter den papierdünnen Hüllblättern noch taufeucht waren. Es gab stapelweise Bio-Tomaten in den unterschiedlichsten Formen und Größen und in allen Farben des Sonnenuntergangs, ebenso Blaubeeren, winzig kleine Erdbeeren, Basilikum, Zucchini und Paprika. Weiter hinten wurden auf mehreren Holzregalen Honig, Marmeladen, Ahornsirup und Küchenbretter aus heimischem Holz angeboten, die jemand namens Wally Woodshop gefertigt hatte. An der Längsseite schließlich befand sich der Heilige Gral, auf dessen Suche sie hergekommen waren: dreißig verschiedene Geschmacksrichtungen hausgemachter Eiscreme.
»Das Eis und die Pies sind aus eigener Herstellung, sämtliches Gemüse wird hinter der Scheune nach biologischen Richtlinien angebaut, und die meisten anderen Produkte stammen aus einem Zwanzig-Meilen-Umkreis. Du musst also kein allzu schlechtes Gewissen haben«, erklärte Stephen.
Lara nahm einen Pfirsich und sog tief dessen Duft ein. Er fühlte sich an, als würde er jeden Moment in ihrer Hand zerfließen. Jack kletterte von Stephens Arm herunter und steuerte schnurstracks auf die Eistheke zu. Lara merkte, wie ihr die Tränen kamen, einfach nur weil es so schön war. Sie sah zu Stephen auf, der sie mit einem Lächeln beobachtete.
»Hübsch hier, oder?«, fragte er.
Lara legte den Pfirsich zurück und schaute sich um. »Wunderschön.« Den Satz, den ihr Magen bei Stephens Blick machte, überspielte sie, indem sie Jack zur Eistheke folgte, um ihm bei der Auswahl behilflich zu sein.
»Ich will alle«, verkündete Jack, der sich am Tresen festhielt und auf die Zehenspitzen gestellt hatte, damit er besser sehen konnte.
»Also, ich weiß nicht«, sagte Lara. »Vielleicht kannst du dir zwei aussuchen?«
Während sie Jack bei seiner schweren Entscheidung half, spürte sie Stephen ganz in ihrer Nähe.
»Hey, Sam, wie geht’s, wie steht’s?«, fragte der füllige Mann hinter dem Tresen.
»Gut geht’s, Jim, danke«, antwortete Stephen und schaltete wieder auf den galanten Südstaatenakzent vom Spielplatz um. »Für den Kleinen empfehle ich den Sundae«, sagte er in derselben Stimme zu Lara. »Die Schokoladensoße ist ein Gedicht. Im Übrigen sind Sie eingeladen.«
»Wie nett von Ihnen, Sir«, bedankte sie sich und knickste wie eine Südstaatenschönheit. »Sie scheinen ja, was das Sortiment angeht, ein echter Connaisseur zu sein. Kommen Sie oft hierher?«
»Sehr oft«, erwiderte er, und Lara stellte sich vor, wie Stephen in seiner absurden Verkleidung hierherfuhr und ganz allein sein Eis aß. Puzzelte er, um sich die Zeit zu vertreiben? Suchte er sich einen Schachpartner?
Irgendwann war die Auswahl getroffen. Der geduldige, höfliche Jim nahm einen kunstvollen Eisbecher in Form einer Muschel und setzte jeweils eine Riesenkugel Cookie-Dough- sowie Erdnussbutter-Eiscreme darauf. Dann ging er mit einem erstaunlich grazilen Schritt zu den Soßenspendern und pumpte warme Schokoladensoße über das Eis.
»Streusel?«, fragte Jim an Jack gewandt.
»Streusel«, bestätigte Stephen.
»Das ist viel zu viel«, protestierte Lara, als sie die Schale für Jack entgegennahm.
»Keine Sorge«, sagte Stephen, nach wie vor in seinem Südstaatenakzent. »Ich helfe ihm.«
»Sonst noch jemand?« Jim verzog die fleischigen Lippen zu einem engelsgleichen Lächeln.
»Ich nehme eine Kugel hiervon.« Lara zeigte auf die fettarmen, zuckerfreien Wassereissorten ganz am Rand der Theke.
»Sind Sie sicher?«, fragte Jim. »Die hier sind um Längen besser.« Mit der Hand fuhr er an den überquellenden Bottichen, voll mit Double-Chocolate-, Hershey-Bar-, Buttermandel- und Maple-Fudge-Eiscreme, entlang.
»Nur zu, die Dame«, sagte Stephen. »Eine Frau wie Sie muss doch nicht auf ihre Figur achten.«
»Sie alter Charmeur, Sie.«
Am Ende entschied sie sich für eine Kugel Kürbiseis in der Waffel, weil Kürbis eine Sorte war, die sie noch nie probiert hatte. Stephen wählte Strawberry Cheesecake und Toffee Cookie Crumble in einer Schale so wie Jack, allerdings mit Schlagsahne obendrauf.
»Jetzt habe ich alle durch«, meldete er zufrieden.
Während Stephen bezahlte, machten sich Lara und Jack auf die Suche nach einem freien Tisch.
»Oh!« Lara blieb wie angewurzelt stehen. Durch das Tor spazierten Hand in Hand und so sehr aufeinander fixiert, als wären sie die einzigen Menschen auf der Welt, Bella und Sean. Sean legte seine Hand unter die von Bella, als sie einen Pfirsich hochhob, damit er daran riechen konnte. Dann deutete sie auf den Mais, und er pflückte einen dreißig Zentimeter langen Stängel Basilikum ab, den er ihr wie eine Blume überreichte. Es war fast wie eine Parodie junger Liebe, und einen Augenblick lang verspürte Lara einen Stich des Neids angesichts solcher Unbeschwertheit.
Dann wandte sich Bella in ihre Richtung, um das Eis zu begutachten, und sah ihre Mutter und ihren kleinen Bruder dastehen und sie ungläubig anstarren.
»Mum?«, rief sie. »Was macht ihr denn hier?«
»Wonach sieht es denn aus?«, fragte Lara und leckte an ihrem Eis, das die Waffel hinunter über ihre Finger tropfte. Es war köstlich: die gedämpfte Süße von Kürbis, gekrönt von einem Hauch Zimt, und eine beinahe pudrige Textur.
»Eis, Bell. Lecker«, sagte Jack und erklomm einen Stuhl. Schon jetzt hatte er mehr Schokoladensoße am Mund als auf seinem Teller.
Bella zog Sean mit sich zu ihrem Tisch. »Mum, das ist Sean.«
»Ich weiß. Wir kennen uns schon.« Lara lächelte zu ihm auf. »Ich dachte, ihr wolltet schwimmen gehen?«
»Waren wir ja auch«, entgegnete Bella. »Aber irgendwann sind wir ganz schrumpelig geworden, deshalb ist Sean mit mir hierhergefahren. Ist es nicht toll hier?«
»Ach so, ihr seid mit dem Auto gekommen«, sagte Lara. »Du warst hoffentlich angeschnallt.«
»Hi, ich bin Bella. Laras Tochter.« Bella streckte die Hand über den Tisch, um Stephen zu begrüßen, der sich zu ihnen gesellt hatte und Jack gerade die Schokolade vom Gesicht wischte. Er fasste sie bei den Fingerspitzen, dann beugte er sich zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Bellas Augen weiteten sich. Sie machte einen Schritt zurück und musterte ihn. Dann grinste sie. »Stimmt. Jetzt fällt’s mir auch auf.«
Stephen legte einen Finger an die Lippen.
»Hey, ›Sam‹«, sagte Sean.
»Du weißt Bescheid?« Bella drehte sich mit offenem Mund zu ihrem Freund um.
»Ich dachte, nur James, Betty und Trudi wären eingeweiht?«, sagte Lara zu Stephen.
»Na ja, Sean hat mich mal zufällig auf der Farm gesehen. Aber er ist ein guter Junge. Ich würde mein Leben in seine Hände legen«, flüsterte Stephen.
»Grund genug hast du ja«, erwiderte Sean ernst.
»Ich wünschte, ich hätte das früher gewusst. Du hast ja keine Ahnung, wie schwer es war, dichtzuhalten«, beschwerte sich Bella bei Sean. Dann wandte sie sich wieder Stephen zu und musterte dessen Verkleidung. »Echt schrill.«
»Also, wollt ihr zwei euch auch was gönnen?«, sagte Stephen lauter und wieder in seiner Sam-Stimme. Er langte in seine Brieftasche und reichte ihnen einen Zehndollarschein über den Tisch. »Na los, Kinder. Euer Onkel Sam gibt einen aus.«
»Danke, Sam«, sagte Bella.
Lara sah den beiden zu, wie sie zur Eistheke gingen. Sean erklärte Bella die verschiedenen Sorten und hatte dabei die Hand an ihrer Hüfte, so dass sie ihm immer ganz nah war. Die Art, wie Bella sich zu ihm umdrehte, der Ausdruck in ihren Augen, wenn sie mit ihm sprach, und die veränderte Form ihrer Lippen, wenn sie ihm zuhörte, sagten mehr darüber aus, wie weit diese Freundschaft mittlerweile gediehen war, als Lara wissen wollte. Seufzend aß sie das letzte Stückchen ihrer Eiswaffel. Sie hatten sich gerade erst kennengelernt, und Bella war noch so jung. Sie war bis über beide Ohren verliebt – das sah selbst ein Blinder. Lara wappnete sich. Das Beste, worauf sie hoffen konnte, war, dass ihrer Tochter das Herz gebrochen wurde – oder dass sie es war, die ihm das Herz brach. Alles andere wäre in ihrem Alter einfach undenkbar.
»Na, erinnern die zwei dich an jemanden?«, raunte Stephen dicht neben ihr in seiner echten Stimme.
Lara kaufte einen Korb voll Gemüse und Obst. Dann lud sie Sean und Stephen zum Abendessen ein. Sie wollte Pasta mit frischer Basilikum-Tomatensoße kochen, garniert mit Pecorino aus regionaler Produktion, gefolgt von einem Pretty-Fly-Blaubeerpie. Nach kurzem Zögern und einem gequälten Seitenblick auf Bella nahm Sean die Einladung an. Stephen hingegen sagte, er müsse nach Hause, um die Hühner zu füttern. Im Konvoi machten sie sich auf den Weg zurück. Stephen und Lara mit Jack auf dem Rücksitz, dahinter Sean zusammen mit Bella in Seans Wagen, der, wie Lara erleichtert feststellte, ein vernünftiger, nicht zu alter Nissan war.
Als sie die steile Anhöhe jenseits der Schnellstraße hinauffuhren, fiel Lara wieder ein, dass sie noch beim Waschsalon vorbeimusste. Als sie Trout Island erreicht hatten, bat sie Stephen, rechts ranzufahren. Sie lief zu Sean und Bella, die hinter ihnen angehalten hatten, um ihnen Bescheid zu geben, sie sollten schon zum Haus vorfahren, während sie und Stephen die Wäsche holten.
Auch diesmal trafen sie im Waschsalon niemanden an. Als Erstes holte Lara den Buggy und lud ihn in Stephens Kofferraum. Dann betrat sie das Häuschen. Die Waschmaschine, in die sie ihre Wäsche gesteckt hatte, war leer. In der Annahme, sie habe einen ähnlichen Fehler gemacht wie auf dem Supermarktparkplatz mit ihrem Wagen, sah sie in den anderen Maschinen nach, fand aber nichts als leere, glänzende Stahltrommeln vor. Zu guter Letzt schaute sie noch in die Trockner, weil sie dachte, jemand könnte in wohlmeinender Absicht ihre Wäsche aus der Maschine genommen haben, aber auch dort war keine Spur von ihren Sachen. Die Wäschekörbe aus Plastik waren ebenfalls leer.
Irritiert überflog sie, auf der Suche nach einer Telefonnummer, die primitiven Schilder, die überall an die Wände geklebt waren und die zahlreiche Anweisungen in fehlerhafter Rechtschreibung enthielten, wie etwa: MASCHIENEN NICHT ÜBER LADEN und VOR DEM BEFÜLEN BITTE TASCHEN LEHREN. KUNDEN HAFTEN FÜR EVENTUELE SCHÄDEN. Schließlich entdeckte sie einen kleinen handgeschriebenen Zettel, der kaum sichtbar unter dem Waschpulverautomaten hing und auf dem eine Kontaktnummer FÜR DEN STÖRFALL angegeben war. Lara notierte sich die Nummer auf den Arm.
»Mistkerle«, sagte sie, als sie zum Wrangler zurückging. Stephen saß auf der Rückbank und las Jack aus Wir gehen auf Bärenjagd vor, das er in ihrer Handtasche gefunden haben musste. »Jemand hat unsere Wäsche mitgenommen. Irgendjemand hat unsere gesamte Wäsche geklaut.«
»Wie seltsam. Kinder?«, fragte Stephen.
»Oder vielleicht haben Olly und Marcus sie mitgenommen?«, überlegte Lara. »Obwohl ich das bezweifle.«
»Die böse Frau«, sagte Jack.
»Du hast recht, Jack«, stimmte Lara ihm zu. »Vielleicht war es die böse Frau.«
»Welche böse Frau?« Stephen sah zu ihr auf.
»Irgendeine Schwachsinnige hätte uns beinahe überfahren, als wir heute Nachmittag hier waren«, erklärte Lara, während sie in den Wrangler stieg. »Aber was sollte sie mit unserer Wäsche anfangen?«
»Wie hat sie ausgesehen?« Stephen kletterte nach vorn auf den Fahrersitz.
»Ich konnte sie nicht genau erkennen. Irgendwie braun, mittleres Alter. Wütend. Sie ist um die Ecke gerast gekommen, hätte uns fast umgefahren, dann hat sie uns beschimpft und ist da drin verschwunden.« Lara zeigte auf den Waschsalon. Als sie sich danach zu Stephen umdrehte, fiel ihr auf, dass sein Blick sich verdüstert hatte.
»Das ist meine Schuld«, sagte er.
»Was?«
»Nichts.«
»Nein, was ist los?«
Er wandte den Blick ab, legte die Hände in den Nacken, ließ den Kopf hängen und seufzte. »Wo ich bin, passieren ständig merkwürdige Dinge«, fügte er hinzu.
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Hör zu, mach dir keine Gedanken. Wahrscheinlich gibt es eine ganz simple Erklärung dafür. Ich rufe die Nummer hier an, sobald wir zu Hause sind.« Sie wies auf das Gekritzel auf ihrem Arm. »Und ich bin mir sicher, dass die Sachen wieder auftauchen werden. Wenn jemand hier im Ort in Ollys Made-in-Brighton-T-Shirt herumläuft, dann haben wir unseren Dieb. Aber Marcus wird sich ärgern, dass sein Paul-Smith-Hemd weg ist. Ach, verdammt«, sagte sie, als es ihr wieder einfiel. »Dein Hemd war auch mit dabei.«
»Zerbrich dir deswegen nicht den Kopf. Ich habe Hunderte«, beruhigte Stephen sie. »Aber ich werde zusehen, dass du dein Oberteil so schnell wie möglich wiederbekommst. Jetzt habt ihr ja nicht mehr viel zum Anziehen.« Er startete den Motor. »Ich fahre dich mal lieber zurück. In ein paar Minuten kommt Marcus nach Hause.«
»Du scheinst seinen Probenplan ja gut zu kennen«, wunderte sich Lara und schnallte sich an.
»Ich habe so meine Quellen«, sagte er grinsend.
Er fuhr langsam um den Block zu ihrem Haus, parkte am Straßenrand, stieg aus und half Lara dabei, ihre Einkäufe aus dem Kofferraum zu holen. Dann hob er Jack aus seinem Kindersitz, löste den Sicherheitsgurt und trug den Sitz auf die Veranda.
»Wir sehen uns bald wieder, Lara. Sehr bald.« Er strich ihr über die Schulter und beugte sich vor, um sie auf die Wange zu küssen, dann stieg er in den Wrangler und fuhr davon.
Lara blieb stehen und winkte, die Einkäufe zu ihren Füßen. Ihre Wangen brannten dort, wo seine Lippen sie berührt hatten. Eine Brise zauste die hohen Ahornbäume, die rund ums Haus wuchsen, so dass sie einen Moment lang nichts anderes hören konnte als das Rauschen ihrer Blätter. Hatte sie nicht am Morgen erst beschlossen, Stephen nie wiederzusehen? Und hatte sie nicht gerade einen ganzen Nachmittag mit ihm verbracht und auch noch Jack in die Sache hineingezogen?
Dann erspähte sie Marcus weit hinten auf der Main Street, seine Haarfarbe und Gestalt unverwechselbar, wie er mit einer schweren Umhängetasche über der Schulter und einer Zigarette in der Hand den Gehweg entlangschlenderte. Die tief stehende Sonne des späten Nachmittags leuchtete in seinem Haar, so dass er aussah, als stünde er in Flammen. Seinem federnden Schritt nach zu urteilen, hatte er einen guten Arbeitstag gehabt. Er wirkte seltsam vollständig, als habe er endlich seinen Platz in der Welt gefunden.
»Daddy!«, rief Jack und rannte seinem Vater entgegen.
Und hier stehe ich, dachte sie. Seine Lara, die mit dem Gedanken spielt, all dieses Glück zu zerstören.