7
Lara stand in Joggingsachen auf der Veranda und trank ein großes Glas Wasser, um die Flüssigkeit zu ersetzen, die sie im Laufe einer schwülen, schlaflosen Nacht ausgeschwitzt hatte. Das Licht der Morgendämmerung kroch mit Spinnenfingern über den Himmel, und eine grüne Frische milderte den Gummigestank von Trout Island.
Sie stellte ihr Glas ab, steckte sich die Ohrstöpsel ein, wählte Morrissey auf ihrem iPod aus und marschierte in zügigem Aufwärmtempo los, die Main Street entlang. Sobald sie in die Sixth Street eingebogen war, fiel sie in einen leichten Trab.
Seit sie damit angefangen hatte, um die Pfunde loszuwerden, die sie während der Schwangerschaft mit Jack angesetzt hatte, war das Laufen aus Laras Leben nicht mehr wegzudenken. Ihre Lieblingsroute zu Hause in England führte am Wasser entlang – ebener Beton auf der gesamten Strecke, so dass keine Gefahr für ihre Fußknöchel bestand, und das ständig wechselnde Schauspiel des Ärmelkanals.
Schweiß begann, auf ihrer Haut zu jucken. Sie überquerte eine Brücke, die über einen rasch dahinfließenden Fluss führte, und lief weiter stadtauswärts. Sie freute sich über die hohen Bäume am Straßenrand und die sauerstoffreichere Luft, die sich unter ihnen angesammelt zu haben schien. Mit kraftvollen Schritten nahm sie eine leichte Steigung und bog schließlich auf einen unbefestigten, parallel zum Fluss verlaufenden Pfad ein. Nebel kroch zwischen den Wildblumen hervor, die eine Art Hecke bildeten, hinter der der eigentliche Wald begann. Ihre Schritte hallten in der leeren Landschaft wider, und ihr Atem pendelte sich auf einen gleichmäßigen Rhythmus ein. Als sie um eine Kurve bog, sah sie vor sich einen großen weißen Bungalow, umgeben von einer riesigen, fast bis zur Grasnarbe abgemähten Rasenfläche. Zwei Geländewagen parkten in der Einfahrt, und genau wie überall sonst gab es auch hier kein Zeichen von Leben.
»Igitt«, sagte Lara. Es schien ihr genau die Art von Haus zu sein, in dem man erstickte. Sie lief weiter, blieb dann aber stehen, als hinter dem Bungalow ein furchterregendes Gebell zu hören war, und schaltete ihren iPod aus. Ein großer schwarzer Hund kam über den Rasen genau auf sie zugeschossen. Ganz langsam und ohne das Tier aus den Augen zu lassen, bückte sich Lara und hob zwei Steine auf. Sie hatte gelesen, dass man es so machen sollte, wenn man von einem Hund angegriffen wurde. Man warf den ersten Stein wie einen Ball und rief »Hol ihn!«, in der Hoffnung, das Tier würde sich auf ein Spiel einlassen. Falls das nicht funktionierte, hatte man immer noch den zweiten Stein als Waffe.
Lara schleuderte den ersten Stein. Der Hund, der, so konnte sie inzwischen erkennen, mindestens zur Hälfte Rottweiler war, blutunterlaufene Augen und schaumtriefende Lefzen hatte, ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie packte ihren zweiten Stein fester und bereitete sich innerlich darauf vor, das Tier, falls nötig, zu töten. Es kam immer näher, und seine Beine bewegten sich so rasend schnell, dass sie gar nicht mehr auseinanderzuhalten waren. Doch plötzlich, sie hatte den Stein schon über den Kopf gehoben, prallte das Tier gegen eine unsichtbare Wand und sprang mit einem lauten Aufjaulen zurück. Lara sah eine Reihe dünner Metallstangen, in etwa so groß wie Zauberstäbe, die in regelmäßigen Abständen im Rasen steckten. Sie waren es, die den Hund aufgehalten hatten.
Der jedoch hatte sich sofort wieder gefangen und kläffte weiter, knurrte und fletschte die Zähne vor Wut, dass er sie nicht erreichen konnte. In der Ferne stimmten andere Hunde mit ein, und ihr Gebell hallte in den umliegenden Hügeln wider.
»Faszinierend.« Lara streckte dem Tier die Zunge heraus. Dann ließ sie den Stein fallen und setzte sich wieder in Bewegung.
Sie war erst wenige hundert Meter weit gekommen, als ein zweiter großer Hund über die Straße auf sie zugesprungen kam. Wie sein Vorgänger, so hatte auch er sie ganz eindeutig ins Visier genommen, allerdings schien seine Absicht eine andere zu sein. Lara blickte sich nach Steinen um, sah aber keine in Reichweite. Sie verhielt sich ganz still, weil sie hoffte, dem Tier auf diese Weise zu signalisieren, dass sie keine Bedrohung darstellte.
Wenige Schritte von Lara entfernt blieb der Hund stehen und musterte sie aus runden gelben Augen. Er war riesig, noch größer als der andere Hund, wie eine schwarze Dänische Dogge. Er duckte sich, und sie machte sich mit geballten Fäusten bereit, ihm einen Schlag gegen das Herz zu versetzen, sobald er sie ansprang. Zu ihrem Erstaunen jedoch legte er sich auf den Boden und sah winselnd zu ihr hoch.
»Hallo, mein Junge.« Lara hielt ihm die Hand hin. Besser, man macht ihn sich zum Freund als zum Feind, dachte sie.
In geduckter Haltung kroch der Hund über den Weg auf sie zu, bis seine Schnauze fast ihre Finger berührte. Als sie ihn streichelte, kam er ihr entgegen und schmiegte sich an sie wie eine Katze. Dann machte er Sitz und hielt ihr eine Vorderpfote hin.
»Freut mich, dich kennenzulernen.« Lara schüttelte ihm die Pfote. Sie fühlte an seinem Hals nach einer Marke, damit sie ihn mit Namen ansprechen konnte, aber er hatte keine. »Wie soll ich dich denn nennen? Wie wäre es mit Hund? Also, Hund, ich muss dann mal weiter.«
Sie entfernte sich ein paar Schritte, dann blieb sie stehen und blickte zurück. Hund saß da, schaute ihr nach und sah aus, als wolle er ihr winken, wenn er es nur gekonnt hätte.
Bis auf einen Beinahe-Zusammenstoß mit einem leuchtend blauen Vogel, der einen Federkamm auf dem Kopf hatte, gab es keine weiteren Zwischenfälle. Irgendwann gelangte Lara an eine Brücke, die zurück über den Fluss führte, ohne dass sie ein zweites Mal an dem Höllenhund vorbeimusste.
Als sie wieder beim Haus ankam, war es fast schon zu heiß zum Laufen. Aber die Stunde körperlicher Betätigung hatte ihr Gehirn mit Endorphinen überschwemmt, und sie fühlte sich beinahe wie neugeboren. Sie beugte sich über das Treppengeländer der hinteren Veranda, um ihre Schenkel zu dehnen, und atmete tief ein und aus, damit ihr Herzschlag sich wieder beruhigte.
Im Haus war alles still – es war noch niemand wach. Wieder staunte sie über die Fähigkeit ihrer Familie, den Jetlag einfach wegzuschlafen. Als sie in die Küche ging, um sich ein Glas Wasser einzugießen, hörte sie vorn vor dem Haus ein Kratzen. Sie ging durch den grauenvollen Eingangsflur und öffnete die Haustür. Dort saß Hund und blickte sie mit zum Gruß erhobener Pfote an.
»Hallo«, sagte sie und kraulte ihn hinter den Ohren. »Ich würde dich ja reinlassen, aber das geht leider nicht. Mr Wayland und der junge Master Wayland haben nämlich eine Allergie gegen Kerle wie dich. Aber warte kurz, mein Junge.«
Hund schien sie verstanden zu haben, denn er machte keinerlei Anstalten, über die Schwelle zu kommen. Lara ging zurück in die Küche, fand im Topfschrank eine Plastikschüssel, füllte sie mit Wasser und trug sie nach draußen auf die Veranda. Hund war offenbar sehr durstig, denn er schlappte alles auf.
Die nächsten zwei Stunden verbrachte Lara damit, unter Ausnutzung ihrer Restenergie vom Sport den schimmeligen Kühlschrank sowie die Küchenschränke mit ihren schmierigen Fünfziger-Jahre-Auslegepapieren und Fliegenkadavern zu schrubben.
Sie war auf Händen und Knien und wollte sich gerade den letzten Schrank vornehmen, als sie jemanden hinter sich spürte.
»Toller Arsch«, hörte sie Marcus sagen.
Sie hob den Kopf und sah ihn an, wobei sie sich mit dem Unterarm die Haare aus dem Gesicht schob.
»Geht es Jack gut?«
»Bestens. Schläft wie ein Baby. Was machst du da?«, fragte er und sah auf sie herab. Er trug noch das T-Shirt und die Unterhose vom Vortag.
»Wie sieht es denn aus?«, fragte sie zurück. »Das wird ganz schön viel Arbeit, das Haus hier bewohnbar zu machen.«
»Ist doch alles gut«, sagte Marcus. »Bloß kein Stress.«
»Du hast leicht reden.«
»Hast du an Kaffee gedacht?« Er wühlte in den Einkaufstüten, die noch auf dem Tisch standen und darauf warteten, ausgepackt zu werden. »Oh, welch Luxus«, rief er aus, als er die braune Tüte mit Kaffee fand, die Lara und Jack im Supermarkt frisch hatten mahlen lassen.
»So teuer war der gar nicht«, erwiderte sie.
»Gibt’s auch Milch?«
Lara deutete auf die Plastiktüte, die sie vor der Säuberungsaktion aus dem Kühlschrank genommen hatte.
»Sollte die nicht im Kühlschrank stehen?«, fragte Marcus.
Er machte sich daran, in der uralten Maschine Kaffee aufzusetzen. Lara schrubbte indes weiter im Schrank.
»Du warst doch nicht etwa joggen, oder?«, wollte er von ihr wissen.
»Ich konnte nicht schlafen, deshalb dachte ich, ich gehe laufen, bevor es zu heiß wird.«
»Du solltest dir ein bisschen Ruhe gönnen.«
»Das kann ich nicht. Das weißt du.«
»Was ist das denn hier?«, fragte Marcus, der in eine andere Einkaufstüte spähte und die Spielsachen herauszog, die sie im Supermarkt gekauft hatten.
»Irgendwie muss ich ihn ja beschäftigen.«
»Klar. Aber vergiss nicht, wir haben kein großes Budget.«
Lara wandte sich ab und versuchte, sich ganz auf ihren Schrank zu konzentrieren. Sie spürte, wie ihr das letzte bisschen Endorphin aus dem Hirn sickerte.
»Kaffee?«, fragte Marcus.
»Ja, bitte.«
»Hier oben«, erklärte er und stellte den dampfenden Becher so ab, dass sie ihn gerade nicht mehr erreichen konnte. »Ich lege mich dann mal wieder ins Bett und gehe meinen Text durch.« Er verschwand in Richtung Flur.
Nicht zu fassen, dachte Lara. Einfach nicht zu fassen.
Kurze Zeit später kam Jack nach unten. Er hatte Cyrilbär im Arm und kratzte sich die schweißverklebten Haare, aber seine Augen sahen nicht mehr ganz so schlimm aus wie tags zuvor.
»Morgen.« Lara gab ihm einen Kuss.
»Hunger«, sagte er.
Sie schüttete ihm Reese’s Puffs in eine Schüssel und setzte ihn mit seinem neuen Malbuch und den Wasserfarben an den Tisch, während sie die restlichen Einkäufe auspackte. Sie vergewisserte sich, dass er noch beschäftigt war, bevor sie sich ein Glass Wasser nahm und nach draußen auf die Veranda ging, um im Schatten zu sitzen und sich von der leichten Brise, die über die Straße wehte, ein wenig abkühlen zu lassen.
Wären die orangefarbenen Säcke und Mülltonnen nicht gewesen, die jemand an die Straße gestellt hatte, während sie joggen gewesen war, hätte sie niemals geglaubt, dass hier Menschen wohnten. Sie lauschte mit angehaltenem Atem. Über das Zirpen und Schnarren der Zikaden und anderer, lauterer Insekten hinweg hörte sie das Plärren eines Fernsehers – weit entferntes Gelächter vom Tonband, das der warme Wind zu ihr herübertrug. Obwohl der Ort so verlassen wirkte, hatte sie auf der Veranda das sonderbare Gefühl, beobachtet zu werden. Sie versuchte, durch die mit Fliegendraht verkleideten Fenster der Nachbarhäuser zu spähen, konnte aber nichts erkennen. Was auch immer dahinterlag, wurde vom Drahtgeflecht verborgen. Ein Paradies für Spanner.
Dann vernahm sie irgendwo in der Ferne das Röhren eines Motors. Das Geräusch war ganz leise und die Straße völlig leer, so dass unmöglich festzustellen war, aus welcher Richtung es kam.
Kurze Zeit später tauchte ein Fahrzeug auf, und Lara sah, dass es sich um einen UPS-Lieferwagen handelte. Er hielt vor ihrem Haus, und ein großer Mann in brauner Uniform sprang vom Fahrersitz. Er streckte die Beine, sah zum Haus hinüber, stieß einen leisen Pfiff aus und schüttelte den Kopf.
Er verschwand im Laderaum des Lieferwagens, und als er wenige Augenblicke später wieder herauskam, hatte er ein Paket in der Hand, das ungefähr so groß war wie vier Ziegelsteine. Er knallte die hinteren Türen des Lieferwagens zu und sprang die Stufen zur Veranda hinauf. Lara erhob sich, und der Mann zuckte zusammen.
»Du liebe Zeit, Lady. Ich hab Sie da im Schatten gar nicht gesehen.«
»Entschuldigung«, sagte Lara.
»Trout Island Theatre Company?«
»Äh, ja.«
»Hier, bitte eine Unterschrift.« Er hielt ihr ein elektronisches Gerät hin, und seine Hand streifte ihre, als sie es von ihm entgegennahm.
Als sie es zurückgab, merkte sie, dass er den Hals reckte, um an ihr vorbei ins Haus blicken zu können.
»Ich könnte das Fliegengitter aufmachen, dann sehen Sie besser«, bot sie an.
»Tut mir leid, Ma’am, es ist nur –«
»Ja?«
»Ist das …« Der UPS-Bote wurde rot – zusammen mit seiner schweißfleckigen braunen Uniform eine unvorteilhafte Kombination. »Ist das das Larssen-Haus?« Er rümpfte die Nase, als er den Namen aussprach.
»Larssen? Keine Ahnung. Wir sind gerade erst eingezogen.«
»Oh. Okay. Ich und meine große Klappe. Ich muss dann auch mal wieder. Schönen Tag noch.«
Er händigte ihr das Paket aus, drehte sich um und lief die Stufen hinunter über den Rasen. Genau wie der Wachmann vor dem Supermarkt hatte auch er gewisse Ähnlichkeiten mit Olly. Vielleicht sahen alle Amerikaner so aus – groß und schlaksig, mit leicht wiegendem Gang. Bevor er in seinen Wagen stieg, drehte er sich noch einmal um, warf einen letzten Blick auf das Haus und verzog dabei das Gesicht.
Lara sah dem Wagen nach, wie er in der Ferne verschwand. Merkwürdig, dachte sie. Larssen-Haus?
Das Paket war an James adressiert, aber da sie sich relativ sicher war, dass es sich um den »Rauter« handelte, nahm sie es mit nach drinnen und riss es auf. Verärgert stellte sie fest, dass die Verpackung schon einmal geöffnet worden war; man hatte ihnen ein Gerät geschickt, das jemand anderer bereits benutzt und dann zurückgegeben hatte oder Ähnliches. Immerhin war sie nach halbstündigem Getüftel endlich online und nutzte die Zeit, um ihre E-Mails und Facebook-Nachrichten zu lesen und sich mit Kollegen und Freunden daheim auszutauschen – in einer Welt, die nach nur zwei Tagen schon ein ganzes Leben weit weg schien.