14
Die Fische waren in ihrem glitzernden Aquarium hin und her geschwommen. Was zwischen den beiden Erwachsenen hinter der Scheibe vorging, hatte sie nicht gekümmert. Der Kleine hatte währenddessen munter drauflosgeplappert und seiner Mutter den Vornamen jedes einzelnen Aquariumbewohners aufgezählt.
»Ich habe Betty versprochen, dass ich verschwunden bin, bevor das Essen serviert wird«, hatte Stephen gesagt und sich losgemacht, um etwas auf eine kleine gelbe Karte zu kritzeln, die er aus seiner Brusttasche gezogen hatte. »Hier ist meine E-Mail-Adresse. Schick mir deine.« Er hatte Lara die Karte gereicht und sich dann zu ihr gebeugt.
Es war nur ein flüchtiger Kuss gewesen, aber auf die Lippen.
Und als Lara nun in der Küche stand und Kräuter hackte, nachdem Betty sie dazu verdonnert hatte, ihr bei den allerletzten Vorbereitungen fürs Essen zur Hand zu gehen, spürte sie ihn immer noch. Sie hatte Mühe, sich auf das zu konzentrieren, was Betty ihr gerade erzählte.
»Als wir es gekauft haben, war es im gleichen Zustand wie die Scheune.« Lara vermutete, dass sie vom Farmhaus sprach. »Aber in einem lange zurückliegenden Leben war ich mal Schreiner, ich kann also gut mit Holz umgehen.« Während sie dies sagte, prügelte Betty mit einem hölzernen Kochlöffel auf einen halben Granatapfel ein, so dass die Kerne herausflogen und der rosafarbene Saft über einen Couscoussalat spritzte, der auf einer grünen Platte angerichtet war.
»Wir haben auch eine Wohnung in der Stadt, unten im East Village, aber im Sommer halten wir uns dort nie auf. Im August ist es grauenhaft. Aber die Winter hier oben sind sehr hart. Der Schnee reicht bis hoch über die Veranda. Manchmal ist es einfach schön, die Wärme anderer Menschen zu spüren, die Güte von Fremden. In der Lage zu sein, einmal um den Block in eine nette Bar zu gehen oder sich was im Theater anzuschauen.«
»Das heißt, im Winter ist das Theater geschlossen?«
»O ja. In der kalten Jahreszeit macht hier kaum jemand einen Schritt vor die Tür, es sei denn, es ist absolut unumgänglich. Alle hocken zu Hause, bis ihnen irgendwann die Decke auf den Kopf fällt. Außer trinken machen die Leute nicht viel.«
»So ein Wetter kann ich mir hier gar nicht vorstellen. Mir kommt es ganz und gar unmöglich vor, dass es irgendwann einmal nicht drückend heiß sein könnte.«
»Glaub mir, Schwester: Hier kann man sich die Eier abfrieren. Stimmt’s, oder hab ich recht, Trudi?«
Trudi nickte von ihrem Platz an der Spüle aus, wo sie sich gerade einem Stapel Abwasch widmete.
»Kommen Sie hier aus der Gegend?«, erkundigte sich Lara bei Trudi. Der Dienstbotenstatus, den Betty der Frau zuwies, war ihr irgendwie unangenehm.
»Sie hat eine Wohnung unten im Ort«, antwortete Betty. »Ohne Trudi würde der gesamte Theaterbetrieb zum Erliegen kommen. Sie macht hier im Haus praktisch alles für James und mich. Und«, Bettys Stimme senkte sich zu einem Flüstern, »hin und wieder borgen wir sie auch an Mr Molloy aus.«
»Obwohl der nie will, dass ich ihm im Haushalt helfe.« Trudi drehte sich zu Lara um. Sie lächelte, und auf einmal kam Leben in ihr unbewegtes Gesicht. »Das macht er lieber selbst. Ich darf nur Besorgungen für ihn erledigen.« Mit Nägeln, die so abgebissen waren, dass es Lara bei dem Anblick schauderte, steckte sie sich eine fettige Strähne ihrer dunklen Haare hinters Ohr.
»Betty, kommst du irgendwann noch mal raus und gesellst dich zu uns?«, wollte James wissen, der in die Küche gerauscht kam. »Das Grillgut ist fertig. Wir warten nur noch auf dich.«
Betty hörte auf, den Granatapfel zu bearbeiten, und sah James von der Seite an. »Männer«, sagte sie. »Alles, woran ihr denkt, ist essen. Was ihr nicht begreift, ist, dass es nicht nur ein Fest für den Gaumen sein muss, sondern auch für die Augen. Wir kommen sofort, gib uns noch eine Minute.«
»Kann ich wenigstens Trudi haben? Ich brauche Hilfe beim Fleisch.«
Trudi sah zu Betty, die durch ein Nicken ihre Zustimmung signalisierte. Trudi wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und eilte hinter James her.
»Was für ein sonderbarer Charakter«, stellte Lara fest.
»Sie hatte ein bewegtes Leben«, sagte Betty. »Sie war früher mal Burlesque-Tänzerin, kannst du dir das vorstellen?«
Nein, das konnte Lara nicht. Mussten Burlesque-Tänzerinnen nicht Glamour ausstrahlen? Trudi war alles, nur nicht glamourös.
»Sie hat schlimme Zeiten durchgemacht, das arme Ding«, fuhr Betty fort, wusch sich die Hände und ging zum Kühlschrank. »Ist mit dem Gesetz in Konflikt gekommen und so weiter. Es hätte auch mich erwischen können …« Sie langte in den Kühlschrank und suchte dort nach etwas. »Du meine Güte, eine halbvolle Flasche Champagner.« Sie zwinkerte Lara zu. »Möchtest du vielleicht ein Glas, um dich ein bisschen aufzupeppen?«
»Sieht man mir an, dass ich das nötig habe?« Lara wischte sich die letzten Stückchen Basilikum von den Händen, bevor sie die Fingerspitzen ans Gesicht hob, um den Duft einzuatmen.
»Ach, Schätzchen.« Betty reichte ihr ein randvoll gefülltes Glas. »Das Wiedersehen mit ihm hat dich ganz schön aus der Bahn geworfen, nicht wahr?«
Lara sah sie scharf an.
»Sagen wir mal so, Schätzchen«, fügte Betty, die den Blick registriert hatte, hinzu. »Ich weiß, dass er sich sehr darauf gefreut hat, dich nach all der Zeit wiederzusehen.«
»Hat er das?«, fragte Lara.
»Und wie«, bekräftigte Betty und stürzte ihren Champagner hinunter. »Stephen und ich stehen uns sehr nahe. Er ist für mich wie ein Sohn. Aber mach dir keine Sorgen, ich habe kein Sterbenswörtchen verraten. Nicht mal James weiß davon. Wenn jemand Diskretion zu schätzen weiß, dann ich. Tratsch kann so viel kaputtmachen, findest du nicht? Das einzig Wichtige im Leben, mein Täubchen, ist die Liebe.« Sie legte eine Hand auf Laras Schulter.
Der Champagner in Laras Mund schmeckte sauer, als sie ihn hinunterschluckte.
»So.« Betty klatschte in die Hände. »Wo steckt denn eigentlich dein süßer kleiner Fratz?«
»Immer noch hinten und schaut sich die Fische an. Er kann gar nicht genug von ihnen bekommen.«
»Warum holst du ihn nicht, dann können wir gemeinsam nach draußen zu den anderen gehen.«
Lara gehorchte. Mit ihrer mütterlich bestimmenden Art hatte Betty sie förmlich überrollt. So war noch nie jemand zu ihr gewesen. Bestimmt nicht die ewig betrunkene Ansammlung zerplatzter Lebensträume, die sich ihre leibliche Mutter schimpfte.
Das Essen wurde bald darauf serviert, und Lara brachte eine einzige Jakobsmuschel herunter. Ihr Appetit schien sie verlassen zu haben.
Sie war es gewohnt, die Abende zu Hause mit ihren Kindern zu verbringen, und machte sich nicht viel aus Partys. Das galt erst recht für Partys voller Fremder. Außerdem war sie zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, um zu versuchen, mit anderen ins Gespräch zu kommen. Sie hätte sich bemühen sollen, das wusste sie. Schließlich musste sie das Image der Waylands, den Mythos ihrer glücklichen, perfekten britischen Familie pflegen – und sei es nur, damit sie selbst wieder ein bisschen mehr daran glaubte.
Aber sie brachte es einfach nicht fertig. Stephen wiederzusehen war, als hätte jemand einen Stock zwischen die Speichen ihres Fahrrads geworfen. All die Jahre, die seitdem vergangen waren, die Leben, die sie getrennt voneinander gelebt hatten, waren wie zwei sich gabelnde Wege, von denen sie niemals geglaubt hätte, dass sie sich eines Tages wieder kreuzen würden. Doch genau das hatten sie nun getan. Sie waren nicht so weit voneinander entfernt gewesen wie vermutet.
Glücklicherweise war Jack auf ihrem Schoß eingeschlafen, so dass sie an den Schaukelstuhl auf der Veranda gefesselt war und eine ausgezeichnete Entschuldigung hatte, sich nicht ins Getümmel stürzen zu müssen. Stattdessen saß sie einfach da und beobachtete ihre Familie. Wie in letzter Zeit so oft, schienen Bella und Olly sich wegen irgendetwas in die Haare geraten zu sein. Während Bella in einer Hängematte lag und schmollte, mischte sich ihr Bruder unter die Gäste, ganz wie Marcus es immer tat. Er fing Gespräche mit den jüngeren Schauspielern an, klopfte hin und wieder jemandem auf die Schulter und schlenderte dann zur nächsten Gruppe weiter. Selbst nach seinen eigenen Maßstäben zu urteilen, war er an diesem Abend erstaunlich aufgeräumt. Sie sah ihn zu zwei jungen Männern mit einer Gitarre hinübergehen, und es dauerte nicht lange, da spielte er selbst, während die anderen ihm zuschauten und anerkennend nickten. Von Zeit zu Zeit jedoch kam er an Bella vorbei, beugte sich über sie und flüsterte ihr ein paar Worte ins Ohr. Ihrer Miene nach zu urteilen gefiel ihr nicht, was er sagte.
Lara hielt Ausschau nach diesem netten Jungen, Sean, und erspähte ihn schließlich, ins Gespräch mit James vertieft. Ihr fiel auf, dass er immer wieder zu ihrer Tochter herübersah, und einmal trafen sich dabei ihre Blicke. Sie hoffte, dass Olly mit seiner unsinnigen Loyalität diesem rückgratlosen Schwächling Jonny gegenüber ihr nicht dazwischenfunkte. Falls doch, wäre Lara enttäuscht, dass Bella es einfach klaglos hinnahm. Sie wünschte sich, ihre Tochter wäre nicht ganz so passiv und würde öfter die Zähne zeigen.
Passivität war bei einem jungen Mädchen der sichere Weg in die Katastrophe. Wenn irgendjemand das wusste, dann Lara Wayland.