29
Lara und Jack brauchten eine halbe Stunde, um sich auf ein Eis zu einigen. Während sie danach in gemächlichem Tempo zurück zum Haus schlenderten, versuchte Lara, sich auf die positiveren Aspekte von dessen heruntergekommenem Äußeren zu konzentrieren: die verwitterten Holzschindeln und malerischen Fensterläden. Doch immer wieder wanderte ihr Blick zu dem Steinsockel, auf dem das Haus stand. Er war dunkel und moosbewachsen. Wie Grabsteine, durchfuhr es sie.
Sie beschloss, das, was sie über das Haus erfahren hatte, für sich zu behalten. Es bestand kein Grund, Bella und Olly damit zu behelligen, und Marcus würde die Geschichte bloß verharmlosen, was sie nicht ertragen hätte.
Als sie in den Gartenweg einbogen, sah sie auf der oberen Stufe zur Veranda einen kleinen Gegenstand liegen.
Es war ein gelbes flaumiges Küken, das dort auf dem Rücken lag, die Flügelstummel zu beiden Seiten hin ausgebreitet, die wurmartigen Füßchen in die Luft gereckt, so dass sie wie Hinweispfeile aussahen, mit denen das Tier auf seine eigene Leiche zeigte. Sein Genick war ganz eindeutig gebrochen. Lara bückte sich, um den Kadaver zu untersuchen, und musste dabei an die Schemazeichnung eines zwölfwöchigen Fötus in ihrem alten Schwangerschaftsbuch denken, die sie wie unter Zwang immer wieder angeschaut hatte. Ungefähr so groß war er gewesen.
»Armer Babyvogel«, sagte Jack und ging neben dem Küken in die Hocke. Sein Eis tropfte auf den Boden.
Lara richtete sich auf und blickte die Straße hinunter. Wie immer war die Luft angefüllt von Tierlauten – Insekten, Hunde, Pferde und noch andere, wildere Kreaturen. Aber sie hatte nicht ein einziges Mal das Gackern eines Huhns oder das Krähen eines Hahns gehört. Und selbst wenn – dieses winzige Ding wäre allein wohl kaum sehr weit gekommen. So wie sein Hals abgeknickt war, musste es von etwas getötet worden sein, das größer war als es selbst.
Unwillkürlich dachte Lara an Hund. Es gab keine konkreten Beweise, und doch hatte sie ihn bereits im Verdacht, der entflohene Larssen-Hund zu sein. War dies eine Art hündisches Friedensangebot, weil er wusste, dass sie ihn enttarnt hatte?
Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen. Trieb dieses Haus sie langsam, aber sicher in den Wahnsinn?
»Ja, armer Babyvogel«, sagte sie, nahm ihren Sohn auf den Arm und öffnete die Tür.
»Hallo?«, rief sie von der Schwelle aus, in der Hoffnung, dass wenigstens Olly da wäre. Stattdessen empfing sie das Haus mit seiner ganz eigenen, drückenden Leere und Fäulnis. Einzig das Summen des alten Kühlschranks, der versuchte, sich selbst am Überhitzen zu hindern, durchbrach die Stille. Sie sah zu der Stelle auf dem Fußboden im Flur hinüber, wo der Fleck gewesen war. Sie hatte ganze Arbeit geleistet. Man hätte niemals geahnt, dass dort etwas Schreckliches passiert war.
Beim Hineingehen trat Lara versehentlich auf einen Brief, der auf der Fußmatte lag. Sie wusste gleich, dass er für sie bestimmt war, weil der Absender ihren Namen in Großbuchstaben mit grüner Tinte auf den Umschlag geschrieben hatte. Er roch nach schalem Zigarettenrauch. Im Umschlag steckte ein Zettel, auf dem in derselben eigenartigen Druckschrift und ohne Satzzeichen Folgendes geschrieben stand:
HEY KÜKEN FREU DICH NICHT ZU FRÜH LASS DIE FINGER VON SM.
Laras Wangen brannten. Jemand wusste von ihr und Stephen. Aber wer? Die einzige Person, die möglicherweise etwas ahnte, war Betty. Lara wusste nicht viel über sie, aber solche Abscheulichkeiten waren ganz gewiss nicht ihr Stil.
Sie setzte Jack an ihren Laptop, damit er ein Spiel auf der C-Beebies-Website spielen konnte. Dann nahm sie ein Bier aus dem Kühlschrank und ging nach draußen, wo sie sich auf die Veranda setzte, nachdachte und das tote Küken anstarrte, als könnte es ihr eine Antwort auf ihre Frage liefern.
Alles wurde immer verworrener: die gestohlene Wäsche; der Streifenhörnchen-Vorfall; die Geisteskranke, die sie um ein Haar überfahren hätte; die Larssen-Geschichte; Bella, die den Kopf verlor; Olly, der sich mit zwielichtigen Freunden herumtrieb.
Einen Moment lang sah sie die Lösung gestochen scharf vor sich: Sie würde mit den Kindern nach Hause fliegen, und Marcus würde bleiben. So konnte er in Ruhe arbeiten, ohne dass ihm seine Familie im Weg war. Und wenn er dann im September zurück nach England kam, würde sie die Sache auf die eine oder andere Weise entscheiden, je nachdem, was die räumliche Trennung in ihr bewirkt hatte. Ohne die alles verkomplizierende Anwesenheit von Stephen.
Sobald er in ihrer Nähe war, konnte sie nicht mehr klar denken.
Aber noch während sie über die Idee nachsann, wurde ihr bereits klar, dass sie es niemals tun würde. Denn dann würde sie Marcus ihre Abreise irgendwie erklären müssen; Bella und Olly würden Fragen stellen, und es war durchaus denkbar, dass sie ganz einfach sagen würden, sie wollten lieber bei ihrem Vater bleiben. Und das kam auf keinen Fall in Frage.
Doch der wahre Grund, weshalb sie nicht abreisen würde, war genau der, aus dem sie eigentlich hätte abreisen sollen.
Sie würde nicht tun, was diese hinterhältige kleine Botschaft von ihr forderte. Sie konnte die Finger nicht von SM lassen. Dazu war es nun zu spät.
Sie fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und rieb sich den Nacken. Sie sah zu den Häusern mit ihren blinden Fenstern hinüber und fühlte sich beobachtet. Es war furchtbar. Im Rücken spürte sie die drückende Last des Larssen-Hauses mit seinem ganzen Elend.
Weil sie es nicht länger aushielt, stand sie auf und ging zum Schuppen hinter dem Haus, wo die Kolibris wie immer den Futterspender umschwirrten, als hätte sich seit jenem ersten Morgen, als sie ihnen zugesehen hatte, nicht das Geringste geändert. Sie stieß die mit Spinnweben verhangene Tür des Schuppens auf und spähte vorsichtig ins dunkle, nach Teeröl riechende Innere.
Bis auf einige Blumentöpfe und einen Spaten – genau das, wonach sie gesucht hatte – war der Schuppen leer. Sie nahm den Spaten, ging um den Schuppen herum und hob im struppigen Gras ein kleines Grab aus. Dann kehrte sie zur Veranda zurück und nahm das tote Küken auf den Spaten, wobei sie achtgab, es nicht noch weiter zu beschädigen.
Sie trug das Küken zum Grab und ließ es vorsichtig hineingleiten. Der Anblick, wie es leblos in der roten Erde lag, bestärkte sie in der Überzeugung, dass sie die Sache mit Stephen bis zum Ende durchstehen musste. Das Leben war kurz, und in ihr meldete sich der erschreckende Gedanke, dass sie bereits sechzehn lange Jahre davon vergeudet hatte.
Vergeudet war vielleicht ein wenig übertrieben. Aber dennoch …
Sie sprach ein Gebet für das Baby, dessen Leben sie ein Ende gesetzt hatte, und bedeckte das Küken mit einem Häufchen Erde. Sie pflückte eine Chrysantheme von einem verkümmerten Busch, der in einem der unkrautüberwucherten Blumenbeete hinter dem Schuppen wuchs, und steckte sie in die frisch aufgeworfene Erde. Während sie am Boden kniete, wurde ihr klar, dass sie Stephen anrufen musste.
Sie eilte ins Haus und wählte seine Handynummer, aber es sprang sofort die Mailbox an – nicht weiter überraschend in einer Gegend mit derart lückenhafter Netzabdeckung. Als Nächstes versuchte sie es auf seinem Festnetzanschluss, aber dort klingelte und klingelte es nur, ohne dass jemand abnahm. Sie stellte sich vor, wie die Telefonklingel in seinem kühlen, hohen Wohnzimmer widerhallte. Es gab keinen Anrufbeantworter, aber sie hätte ohnehin keine Nachricht hinterlassen, weil sie gar nicht wusste, was sie sagen sollte.
Jack war nach wie vor glücklich in sein Computerspiel vertieft, doch Lara war verzweifelt. Sie musste unbedingt mit jemandem reden. Aber mit wem? Gina konnte sie nicht anrufen, weil sie ihr gegenüber Stephen nicht erwähnen durfte. Die Einzige, die ihr einfiel, war Betty. Sie tippte die Nummer des Farmhauses ins Telefon und wartete fünfzehn Klingeltöne ab. Sie wollte gerade auflegen, als sich eine atemlose Stimme meldete. »Hallo?«
»Betty?«
»Lara, bist du das?«
Hastig berichtete Lara ihr von dem Küken und der Nachricht. Betty bat sie, alles genau zu beschreiben – die Farbe der Schrift, die großen Druckbuchstaben.
»Hast du Stephen schon davon erzählt?«
»Nein, noch nicht. Ich kann ihn nicht erreichen.«
»Gut. Kein Sterbenswörtchen zu ihm, Liebes. Ich möchte, dass du jetzt gleich zu mir nach Hause kommst, dann können wir uns darüber unterhalten. Ich habe Eistee im Kühlschrank. Bring den Brief mit, damit ich ihn mir ansehen kann.«
»Aber ich habe Jack dabei.«
»Das ist doch kein Problem, mein Täubchen. Ich habe genau das Richtige, um ihn zu beschäftigen.«
Nach einer kurzen Verzögerung, da Jack, der es geschafft hatte, sich vorn vollständig mit Eiscreme zu bekleckern, eine Ganzkörperwäsche benötigte, hielt Lara am Weg neben dem Farmhaus.
»Hallo«, rief sie und klopfte an die Küchentür.
»Da seid ihr ja!«, kam Bettys Stimme aus dem Garten hinter Lara. »Ich dachte schon, ihr hättet euch verfahren.« Sie tauchte hinter den Tomatenstauden auf und kam, einen flachen Korb in der Armbeuge, über den Weg zwischen den Gemüsebeeten auf sie zu. Seit ihrer Begegnung im Theater hatte Betty sich umgezogen und trug nun einen seidenen Kimono zu abgeschnittenen Shorts. Sie hatte sich die Haare zurückgebunden, war aber nach wie vor vollständig geschminkt.
»Da unten ist Trudi. Trudi, sag hallo zu Lara und Jack«, rief Betty. Hinter einem Dickicht aus Stachelbeersträuchern kam die gedrungene obere Hälfte der sonderbaren, vernarbten Frau zum Vorschein. Sie hob eine Hand zum Gruß, bevor sie sich wieder über ihre Arbeit beugte. »Schau dir diese kleinen Goldstücke an.« Betty nahm eine winzige kugelrunde Tomate aus ihrem Korb und steckte sie Lara in den Mund.
»Köstlich«, sagte Lara.
»Pass auf, Jack, möchtest du mal etwas ganz Besonderes sehen?«, fragte Betty und ging in die Hocke, damit sie mit ihm auf Augenhöhe war.
»Die Fische?«, fragte Jack und machte große Augen.
»Noch besser als die Fische.«
Jack nickte und nahm Bettys Hand. Sie führte ihn ins Haus zu einer Nische unter der Treppe.
»Schau mal«, flüsterte sie und ließ sich, aufs Treppengeländer gestützt, auf die Knie nieder. Jack tat es ihr nach. Er reckte den Hals, um besser sehen zu können, und stieß einen Laut der Verzückung aus.
Im Schatten der Treppe stand ein Korb mit kleinen Kätzchen. Sie hatten das Ratten-Stadium hinter sich und sahen aus wie flauschige Fellkugeln. Betty nahm eins der Tiere auf den Arm und hielt es Jack hin. Dieser schaute fragend zu seiner Mutter.
»Eine Minute.« Lara wühlte in ihrer Handtasche nach seinen Antihistaminen und einer Wasserflasche. »Er ist allergisch«, erklärte sie, an Betty gewandt.
»Ach herrje. Das wusste ich nicht«, sagte Betty.
»Kein Problem.« Lara gab Jack eine Tablette. »Die hier habe ich immer dabei. Wenn er eine nimmt, hat er zehn Stunden Ruhe.«
Nunmehr geschützt, wandte Jack sich dem Kätzchen zu. Er nahm es entgegen, als wäre es zart wie eine Feder, und es schmiegte sich in seine Armbeuge, als wäre es zu nichts anderem geboren worden. Jack sah zu Lara auf, übers ganze Gesicht strahlend. Sie spürte Tränen in den Augenwinkeln brennen. Das also war Unschuld.
»Ein Kojote hat die Mutter getötet«, raunte Betty Lara zu. Dann wandte sie sich wieder an Jack. »Es ist jetzt Fütterungszeit. Möchtest du das übernehmen? Ich zeige dir, wie es geht.«
Betty ging in die Küche und kam kurze Zeit später mit einer Pipette und einem kleinen Becher Milch zurück. Sie zeigte Jack, wie er das Kätzchen mit dem milchgefüllten Glasröhrchen locken und dann vorsichtig auf den Gummiballon drücken musste, damit die Milch herausfloss, während es saugte.
»Damit sollte er eine Weile zu tun haben«, sagte Betty. »Also, Mamacita, komm und trink einen Eistee, und dann erzählst du Betty alles.«
Lara setzte sich an den Küchentisch und reichte Betty den bösen Brief. Betty setzte sich eine Brille mit Gestell im Leopardenmuster auf und las ihn, roch an ihm und legte ihn schließlich mit gerümpfter Nase zwischen sie auf den Tisch.
»So. Man muss dir also sagen, dass du dich von Stephen fernhalten sollst?«, sagte sie nicht unfreundlich.
»Es ist nichts passiert …«, sagte Lara. »Aber, wie du mir selbst gesagt hast: Das einzig Wichtige im Leben ist die Liebe.« Sie ließ den Kopf in die Hände sinken und schloss die Augen. Sie sollte besser den Mund halten. Darüber zu sprechen würde sie der Tat nur noch einen weiteren Schritt näher bringen.
»Ach, Lara. Du und ich, wir sind uns ganz ähnlich. Wir sind beide Romantiker. Soll ich dir erzählen, was es mit diesem Brief auf sich hat?«
»Ja«, sagte Lara in ihre Hände.
»Bestimmt hast du das meiste schon gehört. Es war ja kaum ein Geheimnis. Nun, in L. A. sind gewisse Dinge vorgefallen, die den armen Stephen sehr krank gemacht haben. Wenn man in der Öffentlichkeit steht, zieht man viel Aufmerksamkeit auf sich, da ging es ihm wie vielen. Allerdings gab es eine ganz bestimmte Person – Elizabeth Sanders –, die so felsenfest davon überzeugt war, dass sie und Stephen füreinander bestimmt waren, dass sie vollkommen durchgedreht ist, als er nicht auf die Flut von Nachrichten reagierte, die sie ihm geschickt hat. Zuerst war es noch relativ harmlos – zerbrochene Eier auf seiner Windschutzscheibe oder Päckchen, die er nicht bestellt hatte. Aber dann wurde es immer schlimmer, und irgendwann gingen dann die Drohungen los.«
»Drohungen?«
»Es war grauenhaft. Richtige Gewaltdrohungen.«
»Und warum ist er nicht zur Polizei gegangen?«
»Das ist er ja anfangs, aber es hat sich alles so schleichend entwickelt – sie verstand es, ihre Spuren zu verwischen, und es war schwer zu beweisen, dass die Drohungen tatsächlich von ihr kamen. Sie lebte im Verborgenen und konnte nie aufgespürt werden, es gab nicht mal eine Personenbeschreibung von ihr. Das war schrecklich für Stephen. Sie ist untergetaucht und hat mit ihrem Feldzug einfach weitergemacht. Schließlich ist dann sein Management in Panik geraten, weil der Fall so viel Aufsehen erregt hat. Das sei nicht gut für sein Image als harter Mann, meinten sie und haben ihn gedrängt, die Anzeige zurückzuziehen, weil sie hofften, es würde dann schon von selbst aufhören. Aber natürlich war das genaue Gegenteil der Fall. Auf einmal hatte Stephen immer öfter ›Unfälle‹. Das ging so weit, dass er sich irgendwann gar nicht mehr vor die Tür gewagt hat. Alles, was er noch machen konnte, war zu Hause zu sitzen und seine Angst im Alkohol zu ertränken.«
»Ich dachte, er trinkt nicht.«
»Nicht mehr. James und ich lebten zu der Zeit gerade in New York. Als wir zurück nach L. A. kamen, waren wir entsetzt, in was für einer schlechten Verfassung Stephen war. Wenn man ihn jetzt sieht, kann man es sich kaum vorstellen, aber er sah einfach grauenhaft aus. Also haben wir ihn aus der Stadt geschmuggelt und ihn drei Monate zum Entzug nach Utah geschickt, was den zusätzlichen Vorteil hatte, dass Elizabeth Sanders ihm nicht mehr zu nahe kommen konnte. Danach ist er hierhergekommen. Er hat bei uns gewohnt und sich gleichzeitig nach einem Haus umgesehen. Wir haben unseren gesamten Alkoholvorrat hinten in der Scheune versteckt und nur getrunken, wenn er nicht zu Hause war. Kannst du dir das vorstellen? Wie zwei ungezogene Teenager.«
»Und das Küken? Und der Brief?«
Betty beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. »Ich weiß nicht, wie es ihr gelungen ist, aber sie muss ihn aufgespürt haben.« Sie nahm den Brief wieder in die Hand und wedelte damit vor Lara in der Luft herum. »Das ist zu einhundert Prozent ihr Stil – wenn das Wort nicht zu viel der Ehre ist. Wir haben getan, was wir konnten, um ihn zu verstecken, aber offenbar ist sie ihm auf die Spur gekommen. Haben deine Kinder irgendwas ausgeplaudert?«
»Nein«, erwiderte Lara und hoffte, dass sie damit recht hatte. »Sie sind vernünftig. So was würden sie nicht machen. Ihnen ist klar, dass Stephen vorsichtig sein muss.«
Betty lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Lara. Sie konnten hören, wie Jack draußen in der Halle mit den Kätzchen redete.
»Außerdem«, fuhr Lara fort, »war da diese Frau, die uns beobachtet hat, als wir von eurer Party kamen, direkt nach dem Wiedersehen mit Stephen. Erinnerst du dich noch – diese komische Frau im Diner? Ich glaube, es war dieselbe.« Dann erzählte Lara Betty noch von dem Vorfall im Waschsalon. »Du fandest sie doch auch irgendwie merkwürdig, oder?«
»Ich habe Sanders nie mit eigenen Augen gesehen«, erklärte Betty stirnrunzelnd. »Und du hast recht, bei dieser Frau im Diner hatte ich kein gutes Gefühl. Aber ich hätte niemals gedacht …« Sie verstummte und schloss die Augen. Ihre langen Wimpern warfen dünne Schattenstriche auf ihre Wangen. Lara konnte fast hören, wie ihr Gehirn arbeitete.
»Folgendes, Schatz«, sagte Betty schließlich, während sie ihre wunderschön manikürten Fingernägel betrachtete. »Es gibt zwei Dinge, die du jetzt tun musst.«
»Und zwar?«
»Erstens, und das ist das Allerwichtigste: Stephen darf auf keinen Fall erfahren, dass Elizabeth Sanders ihm hierher gefolgt ist.«
»Was soll das denn bezwecken?«
»Er ist sensibler, als du denkst, Liebes. Wenn er davon erfährt, dann wird ihn das umbringen. Ich habe damals hautnah miterlebt, wie verzweifelt er war.«
»Aber sie wird nicht einfach so wieder verschwinden«, gab Lara zu bedenken. »Oder?«
»Nein. Und das ist der Punkt, an dem du ins Spiel kommst.« Erneut lehnte Betty sich über den Tisch. »Ganz offensichtlich hat sie dich aufs Korn genommen. Ich möchte, dass du versuchst, herauszufinden, wer sie ist und wie sie aussieht. Du musst Beweise sammeln wie ein Detektiv. Und dann, wenn wir genug gegen sie in der Hand haben, gehen wir zur Polizei, und der Fall wird erledigt sein, bevor Stephen auch nur etwas ahnt.«
»Aber ist sie nicht gefährlich? Was ist mit uns?«
Betty fixierte sie mit strengem Blick. »Lara, es geht hier um Stephen Molloy.«
Lara runzelte verblüfft die Stirn. Betty hatte Stephens Namen ausgesprochen, als wäre er eine Art Gottheit. Als müsste Lara bereit sein, alles für ihn zu opfern.
»Und nun zur zweiten Sache«, fuhr Betty fort.
»Zweite Sache?«
»Ich habe doch gesagt, dass es zwei Dinge gibt, die du tun musst, schon vergessen, Liebes?«
»Ich höre.« Lara spürte, wie ihre Wangen glühten.
»Es ist von elementarer Wichtigkeit, dass Macbeth ein Erfolg wird. Für das Theater, für James, für mich, für Marcus. Das heißt, nicht nur darfst du Stephen kein Sterbenswörtchen davon verraten, dass seine kleine Erzfeindin wieder aufgetaucht ist, ich möchte dir außerdem dringend ans Herz legen, in deinem Umgang mit ihm ein gewisses Maß an Zurückhaltung walten zu lassen.«
»Umgang?«
Betty sah Lara an. Jeder Rest Wärme war aus ihren Zügen verschwunden, so dass man ihr zum ersten Mal ihr wahres Alter ansah. »Ich will nicht, dass du Marcus in irgendeiner Weise aus dem Gleichgewicht bringst, bis die Vorstellungen vorbei sind. Haben wir uns verstanden? Falls doch, dann bekommst du es mit mir zu tun, und glaub mir, ich nehme keine Gefangenen.«
Lara schob ihr halb ausgetrunkenes Glas Eistee von sich und sah Betty an. Sie war also aufgeflogen, und zur Strafe hatte man ihr jeden letzten Rest Selbstbestimmung und Sicherheit weggenommen. Sie musste daran denken, wie sie sich als Kind gefühlt hatte, als ihre Meinung nie gezählt hatte; wie ihre Eltern aus ihrer Erwachsenenperspektive auf sie herabgeschaut hatten, als sei sie eine vollkommen andersgeartete Lebensform, etwas, das auf einer viel niedrigeren Evolutionsstufe angesiedelt war. Genau so fühlte sie sich jetzt wieder.
»Nun, Liebes«, sagte Betty, die aufstand und in die Hände klatschte, so dass sich ihr prächtiger Kimono ausbreitete wie die Schwingen eines großen Raubvogels. »Dann wollen wir doch mal schauen, wie es dem süßen kleinen Jack mit den kuschligen kleinen Kätzchen ergangen ist.«