54

ES IST NUR ein Baum, sagte Konowa sich, ein belebtes Stück Holz. Sonst nichts. Wie kann es also ein Stern sein? Tausende von Elfkynan hatten ihr Leben gegeben, weil sie diese Lüge geglaubt hatten. Zehntausende, vielleicht Hunderttausende sammelten sich aufgrund einer Legende, schürten eine Rebellion in der Hoffnung, dass sie ihre Freiheit gewinnen könnten, getäuscht von einem einfachen Baum.

Und Stählerne Elfen waren gestorben, seine Männer, seine Soldaten, und wofür?

Es war nur ein Baum. Er hätte brennen sollen, als er ihn packte. Konowa fühlte, wie sich seine Hand um den schlanken Stamm schloss. Im nächsten Moment flog er rücklings zu Boden, während ein Blitz in den Himmel zuckte und die Nacht zum Tage machte. Ein neuer brillanter Stern leuchtete am Himmel und tauchte das Schlachtfeld in ein klares rotes Licht.

Konowa landete auf seiner linken Schulter, rollte sich ab und sprang auf. Seine Schulter pochte vor Schmerz, und er rieb sie mit seiner rechten Hand, als er plötzlich innehielt. Sein Blick war auf seinen Säbel gefallen, der in zwei Stücke zerbrochen war. Er hielt nur noch den Griff und ein gezacktes Stück der zerbrochenen Klinge in der Hand. Konowa blickte hoch. Ein einzelner, wie eine Spirale gewundener Lichtstrahl loderte zwischen dem Stern am Himmel und dem Baum hier auf der Erde. Hitzewellen breiteten sich davon aus.

Der Boden dampfte, und die Luft wurde schwerer, feuchter. Konowa blinzelte und schüttelte den Kopf. Eine Gestalt tauchte in dem Licht auf, und ihre Robe flatterte in der Energie, die von dem Baum und dem Stern freigesetzt wurde. Dann bückte sich die Gestalt, tätschelte den Schössling und trat an ihm vorbei, wobei das Licht des Sterns ihr folgte. Konowa spürte eine neue Macht, die anders war als alles, was er je zuvor empfunden hatte.

»Willkommen daheim, mein Kleiner«, sagte Rallie und blickte lächelnd zum Himmel hoch.

Ein eiskalter Windstoß durchschnitt die Hitze, und ihr Emissär erhob sich aus der Erde. »Gebt mir den Stern und rettet Euch selbst!«

Das schien Rallie zu amüsieren. Sie zog eine neue Zigarre aus ihren Umhängen und hielt sie an das Licht. Ihre Augen funkelten, als das Ende der Zigarre aufglühte.

»Ich soll es dir geben? Es gehört mir nicht, also kann ich es auch nicht weggeben«, antwortete sie.

Konowa sah sich verblüfft um. Alle starrten auf Rallie, ihren Emissär und den lodernden Stern am Himmel.

Ihr Emissär trat einen Schritt vor. Eine Bogensehne sang, und gleichzeitig feuerte eine Muskete, aber Kugel und Pfeil glitten wirkungslos durch seine Brust. Sein Gelächter klang wie Geröll, das von einer Bergflanke polterte. Er zückte einen Dolch, um dessen Klinge schwarze Flammen loderten, als würden sie leben.

»Beeindruckend«, meinte Rallie, in deren freier Hand plötzlich ein weißer Federkiel auftauchte.

»Nicht einmal deine Waffen können mich jetzt noch verletzen. Die Sarka Har graben tief. Ihre Macht ist hier absolut, und der Stern wird ihr gehören.«

»Du verstehst die Macht der Feder wirklich nicht, hab ich recht? Ich habe nicht vor, diese hier zu werfen«, meinte Rallie, als sie ein Blatt Papier aus einer anderen Falte ihrer Robe zog. Sie zückte die Feder und begann zu zeichnen.

Konowa verstand Rallies Spiel zwar nicht, aber das war auch nicht wichtig. Er spürte die Wahrheit in den Worten ihres Emissärs, noch während die Wärme, die das Licht zwischen dem Schössling und dem Stern ausgestrahlt hatte, schwächer wurde. Er packte seinen geborstenen Säbel fester und machte Anstalten anzugreifen.

»Das ist nicht nötig, Major. Ihr Emissär wird in Kürze abreisen. Es sollte ein bemerkenswerter Abgang werden. Ich hoffe, ich werde ihm gerecht«, meinte Rallie und begann zögernd, etwas zu skizzieren.

»Ich werde den Stern jetzt nehmen!«

Er trat einen weiteren Schritt auf Rallie zu, und die Flammen um seinen Dolch loderten hoch in die Nacht hinauf.

Die Luft zwischen ihrem Emissär und Rallie funkelte und vibrierte vor Energie. Die Eichel an Konowas Brust brannte erwartungsvoll vor Kälte und erfüllte sein Blut mit Kristallen einer uralten, dunklen Macht. Es mochte ein Geschenk der Schattenherrscherin sein, aber Konowa würde es benutzen, um ihren Emissär zu vernichten, ganz gleich, welche Konsequenzen das haben würde. Und diesmal würde er den Mistkerl nicht nur töten, sondern das Wesen vollkommen auslöschen. Er hatte den Rest seines Säbels in die Scheide geschoben, und als er ihn jetzt zücken wollte, klemmte er. Konowa blickte auf die Scheide, sah jedoch keinen Grund, warum er den Säbel nicht herausziehen konnte. Er versuchte es erneut, vergeblich.

»Major, bitte«, sagte Rallie, die mittlerweile zügiger zeichnete. »Ich muss mich konzentrieren.«

Konowa blickte hoch und sah zum ersten Mal die Zeichnung auf Rallies Papier. Sie zeigte die Szenerie vor ihnen, aber es war keine Momentaufnahme, sondern sie bewegte sich. Licht und Schatten zuckten wie wild über das Papier, als ihr Emissär und Rallie auf einer Ebene miteinander fochten, die die normale Vision nicht aufnehmen konnte.

»Deine Salontricks werden mich nicht lange aufhalten«, sagte ihr Emissär und trat einen weiteren Schritt vor. Die Luft schien um seinen Körper herumzufließen, als würde er durch tiefen Schnee waten.

»Das ist auch nicht nötig«, erwiderte Rallie, drehte das Papier mit einer eleganten Handbewegung um und begann eine neue Zeichnung.

Konowa erhaschte einen Blick auf den Herzog von Harkenhalm, einen Tisch und ein entzündetes Streichholz.

Ihr Emissär blieb stehen, legte den Kopf auf die Seite, als lauschte er auf etwas. Dann kreischte das Wesen.

»Wenn man beim ersten Mal keinen Erfolg hatte … «, sagte Rallie und zog kräftig an ihrer Zigarre. Das Ende glühte rot auf.

»Mein Ryk Faur!« Die Gestalt des Wesens, das ihr Emissär war, waberte und zerbarst dann, bevor es sich in nichts auflöste.

Rallie nickte zufrieden, als sie ihre Skizze beendete. »Es ist zwar nicht meine beste Arbeit, aber ich glaube, meine Leser werden verstehen, worauf ich hinauswollte. Und jetzt«, sagte sie, steckte Papier und Federkiel in ihre Robe und blickte den jungen Baum liebevoll an. »Was machen wir mit dir, hm?«

»Sie werden ihn mir geben.« Der Prinz trat vor und streckte die Hand aus. Dann ließ er seinen Blick über das Schlachtfeld gleiten und hob die Stimme. »Ich beanspruche diese Beute im Namen Ihrer Majestät der Kaiserin, der Königin von Calahr und Herrscherin aller Länder ihres Imperiums.«

Visynas Augen glühten, und Konowa wusste, es war nur eine Frage der Zeit, dass diese Situation außer Kontrolle geriet.

»Dein Vater hätte dir ihre Macht nicht geben sollen, Konowa Flinkdrache.«

Die Stimme durchdrang spielend die aufgeregten Stimmen der anderen, und einen Moment verstummten alle. Es war zehn Jahre her, seit Konowa diese Stimme gehört hatte.

Er drehte sich zu Chayii Rote Eule von der Langen Wacht herum. Ein Eichhörnchen hockte gelassen auf ihrer Schulter. Sein Fell qualmte ein wenig.

»Er wollte mich beschützen, Mutter«, antwortete Konowa. Ihm schwindelte vor Gefühlen. »Ohne dieses Geschenk wären wir alle tot.«

Chayii ging zu ihm und blieb unmittelbar vor dem Ring aus Frost stehen. Sie nickte Rallie unmerklich zu und wandte sich dann an ihn. »Und mit dem Geschenk, was bist du damit, mein Sohn? Es ist lange her, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe, und ich würde dich an meine Brust drücken, wie jede Mutter das mit ihrem Kind machen würde, aber du würdest mich mit ihrem Gift verbrennen.« Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie Konowa betrachtete. Sie legte den Kopf auf die Seite und sah dann Visyna an. »Und du. Du bist eine Weberin der Fäden des Lebens. Ich fühle es, so wie ich fühle, dass dieses Land hier vor Schmerz schreit. Warum hast du zugelassen, dass dies geschah?«

Visyna öffnete und schloss mehrmals den Mund. Konowa spürte plötzlich einen pochenden Schmerz hinter seinen Schläfen.

»Der Stern muss bei meinem Volk hier in Elfkyna bleiben«, sagte Visyna schließlich. »Er muss hierbleiben, wo er gepflanzt wurde. Hier sollte er sein, um dieses Land zu reinigen und ihre tödlichen Machenschaften zu zerstören.«

Chayii nickte. »Die Hexe hat recht.«

»Nein!«, schrie Prinz Tykkin, »hat sie nicht!« Er schlug mit der Faust gegen seine Schwertscheide. »Der Stern wird nach Calahr gebracht. Ich will, dass dieser Schössling sofort ausgegraben wird. Regiment! Waffen anlegen!«

Bajonette wurden zu Boden gesenkt, und ihre Spitzen glitzerten im Morgenrot, von Frost überzogen. Die Bogenschützen der Elfen legten ihre Pfeile an. Kälte durchströmte Konowa.

»Ma… Major …«

Konowa drehte sich um. Verblüfft bemerkte er, dass der Zwerg, Korporal Arkhorn, mit mehreren Angehörigen seiner Patrouille über das Schlachtfeld kam. Sie trugen einen verwundeten Soldaten in ihrer Mitte. Sie hatten überlebt!

Als sie näher kamen, bemerkte Konowa, dass der Verwundete der junge Soldat war, der Kritton ausgepeitscht hatte. Alwyn, so hieß er, Alwyn Renwar. Es war Konowa aus irgendeinem Grund wichtig, dass er sich an den Namen des Mannes erinnerte, vor allem, als er sah, dass dem Jungen ein Bein fehlte. Der Stumpf war in einen Verband von Blättern und Moos gehüllt.

»Schön, Sie wiederzusehen«, sagte Konowa. Er machte eine kleine Pause, bevor er weitersprach. »Was ist mit den anderen passiert? Wo ist Soldat Kritton?«

Korporal Arkhorn schüttelte den Kopf. »Sie sind tot, vermute ich jedenfalls. Außer Kritton. Er ist weggelaufen, und wir haben ihn seitdem nicht mehr gesehen.«

Konowa wusste nicht, was er davon halten sollte. Kritton mochte alles Mögliche sein, aber ein Feigling?

»Er wird gefangen genommen, bestraft und dann erschossen«, mischte sich der Prinz ein und fuchtelte mit den Händen durch die Luft. »Sie alle tun gut daran, das nicht zu vergessen.«

Statt zu antworten, legte der Zwerg mithilfe seiner Leute Alwyn sanft auf den Boden, stand auf und sah an ihnen vorbei zum Waldrand. Die Geister der Stählernen Elfen standen dort in einer Reihe. Sie hielten ihre Langschwerter vor sich. Hinter ihnen saß eine dunkle Gestalt auf einem Pferd. Die Hellebarde des Geistes loderte von schwarzen Flammen.

»Lorian«, sagte Konowa. Der Schmerz war einfach zu groß. Ihm drehte sich alles im Kopf.

»Der Stern kann das Gelübde brechen, Major«, sagte Alwyn, der bei jedem Wort das Gesicht verzog. Konowa holte tief Luft und sah ihn an. »Er kann ihn für uns alle brechen.«

»Die Macht des Sterns auf diese Weise zu benutzen, solange er noch so jung ist, hätte verheerende Folgen für ihn. Du weißt, wie gefährlich das ist. Es wäre ähnlich wie bei ihrer silbernen Wolfseiche, nur wäre die Wirkung um ein Tausendfaches schrecklicher«, sagte Chayii und deutete auf die Sarka Har um sie herum. »Er muss hierbleiben, um gegen das da zu kämpfen. Wir werden seine Macht brauchen.« Sie sah Alwyn lächelnd an. »Es tut mir leid, Alwyn vom Imperium, aber dieses Land bedarf des Sterns weit mehr.«

»Das ist Meuterei!«, mischte sich Prinz Tykkin ein. »Major, ich erinnere Sie an Ihre Pflicht. Das einzige Bedürfnis, das hier eine Rolle spielt, ist das der Kaiserin, die, wie ich hinzufügen darf, es sehr zu schätzen wüsste, wenn sie diesen Stern bekommt. Sie wären ein ausgesprochen wohlhabender Elf.«

Konowa versuchte, sich Haufen von Gold und Silber vorzustellen, und schüttelte den Kopf.

Der Prinz zog sein Schwert. Das Metall war mattgrau und weder von schwarzen Flammen noch von Frost gezeichnet. »Der Stern gehört mir, und ich nehme ihn jetzt in Besitz. Fahnensergeant ! Bringen Sie mir diesen Schössling!«

Sergeant Aguom riss die Augen auf, trat jedoch trotzdem vor und näherte sich langsam dem jungen Baum. Jir setzte sich lautlos in Bewegung und stellte sich neben den Baum. Sein Schweif fuhr drohend durch die Luft. Konowa sah sich um. Sein Blick fiel auf Soldat Vulhber, dessen hünenhafte Gestalt sich deutlich von den anderen Soldaten abhob. Er sah weder Konowa noch den Prinzen an, sondern schaute hoch in den Himmel so wie alle Stählernen Elfen.

Konowa spürte einen kalten Blick auf seinem Nacken und drehte sich um. Lorian und Zwindarra starrten ihn an. Er sah auch Meri und andere Elfen, die er gekannt und für immer verloren geglaubt hatte. Das hier war seine Chance, sie zu befreien, die Toten und die Lebenden.

»Warten Sie!«, befahl Konowa.

Sergeant Aguom seufzte und blieb stehen, mehrere Schritte von dem Schössling entfernt. Der Prinz schien vortreten zu wollen, aber Konowa hielt ihn mit einem einzigen Blick auf.

Er hatte das Gefühl, als würde sich ein Berg auf seine Schultern legen. Er spürte alle ihre Blicke, kannte alle ihre Bedürfnisse und wusste, dass viele ihn hassen würden, ganz gleich, welche Entscheidung er traf. Seine Gedanken glitten zurück zu der Zeit seiner Verbannung in den Wald, bevor er Jir gefunden hatte.

Er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so allein gefühlt wie jetzt.

Er spürte, wie die Sonne hinter ihm aufging, und wusste, dass es Zeit wurde. Es gab nur eine wirklich mögliche Entscheidung.

Er erinnerte sich an seine Zeit auf der Geburtswiese. Er sah die Schattenherrscherin, wie sie die silberne Wolfseiche in den Armen hielt und sich verzweifelt bemühte, sie zu retten. Er verstand ihr Bedürfnis, und er verstand auch, warum er dem niemals nachgeben durfte.

»Der Stern muss hierbleiben, wo er hingehört.«

Die ersten Strahlen des Sonnenlichts glitten über den Horizont und tauchten die Blätter des Schösslings in ein warmes, pulsierendes Licht. Der Stern am Himmel verblasste und verschwand, noch während der Baum zu glühen begann. Seine Blätter blitzten wie Tausende von Sternschnuppen.

Dann ging er in Flammen auf.

Elfen wie Stahl
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