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NORMALERWEISE WUCHSEN KEINE Bäume aus Leichen.

Fünf Soldaten der 35. Infanterie lagen in und um die Lehmziegelhütte, die sie als Außenposten am westlichen Flussufer requiriert hatten, um den Weg nach Luuguth Jor zu bewachen. Aus jedem wuchs ein schwarzer Schössling eines Baumes, den Konowa bisher nur aus großer Entfernung gesehen hatte.

Es war später Nachmittag, und die Stählernen Elfen waren immer noch gute zwei Stunden von dem Dorf und der winzigen Festung entfernt. Konowa vermutete jedoch, dass es auch keinen Unterschied machen würde, wenn sie es in zwanzig Minuten schaffen könnten. Luuguth Jor würde ein Wald des Todes sein.

Gewitterwolken zogen sich am Himmel zusammen, aber noch gab sich die Sonne große Mühe, alles darunter zu verbrennen. Entsprechend schlimm war der Gestank der Leichen. Eigenartigerweise jedoch summten keine Fliegen um sie herum.

Konowa beugte sich im Sattel vor. Die Bäume sonderten eine schwarze Flüssigkeit ab, die über die deformierten Pflanzen sickerte und von stahlfarbenen Blättern tropfte.

»Was ist das?«, fragte Lorian, kniete sich neben einen der toten Soldaten und streckte seine behandschuhte Rechte nach dem schwarzen Schössling aus, der aus der Brust der Leiche wuchs.

»Einer ihrer neuen Wälder«, antwortete Konowa.

Lorians Hand erstarrte unmittelbar vor dem Baum. »Dann steckt also tatsächlich die Schattenherrscherin hinter alledem.« Er sah zu Konowa hoch, und dann glitt sein Blick zu dem verunstalteten Ohr des Elfs.

Konowa ignorierte das Starren seines Sergeanten. Er glitt aus den Steigbügeln und sprang von Zwindarra herunter. Die Zügel warf er über den Hals des Pferdes, dem er aufmunternd auf den Widerrist klopfte und befahl, stehen zu bleiben. Dann trat er neben Lorian, der die Leiche untersuchte.

Es war ein Korporal; die silbernen Streifen auf seinem Uniformärmel waren unter dem Schmutz und dem Blut gerade noch zu erkennen. Konowa hockte sich neben den Leichnam und fluchte leise, als sein Knie unter ihm nachzugeben drohte.

»Das ist ein Sarka Har«, erklärte er. »Ein Blutbaum.« Sein Vater hatte ihm häufig von dem Hohen Forst und der grausamen Magie erzählt, welche die Bäume pflegte, die sich von Lebendem ernährten.

»Glauben Sie, dass das auch den Kundschaftern zugestoßen ist?« Lorian äußerte eine Furcht, die sich in Konowa geregt hatte, seit sie diesen Ort erreicht hatten.

»Wenn sie dem Fluss gefolgt sind und angegriffen wurden, hätten wir das hier gesehen«, antwortete er und deutete auf den Baum. »Entweder sind sie immer noch vor uns, oder sie haben eine andere Strecke genommen. Der Zwerg ist gerissen; ich würde sie noch nicht abschreiben.« Doch Konowa bezweifelte insgeheim, dass Arkhorn seinen Halbzug vor etwas so Bösem schützen konnte.

»Ich habe sie ausgesucht«, meinte Lorian und stand unvermittelt auf. Seine Stimme zitterte. »Damit habe ich sie diesem Schicksal überantwortet.«

»Sie haben schon mehr als eine Schlacht geschlagen; also haben Sie auch Befehle gegeben, die Männer das Leben gekostet haben.«

»Aber nicht auf so eine Art und Weise! Was ist mit denen hier passiert?«

Konowa betrachtete den Leichnam des Korporals etwas genauer. Die Hauptschlagader in seinem Hals pulsierte langsam, als würde das Herz noch schlagen, aber er wusste es besser. »Der Baum ernährt sich vom Blut seines Opfers und saugt es vollkommen aus. Ob er auch die Seele verschlingt, weiß ich nicht.«

Das war zu viel für Lorian. »Die Seele! Wir müssen dem ein Ende machen!« Er beugte sich vor, um den Schössling zu packen, aber Konowa hielt ihn am Arm fest und zog ihn zurück. Als Lorian zurücktrat, ließ Konowa den Sergeanten los, streckte dann beide Hände aus und packte den jungen Baum. Alle Albträume, alle mitternächtlichen Ängste, jede schreckliche Geschichte, die man ihm als Kind erzählt hatte, pulsierte durch seine Adern, als die kühle schwarze Flüssigkeit zwischen seinen Fingern hindurchquoll. Dann kam die Wut.

Konowas Zurückweisung auf der Geburtswiese der Wolfseichen zuckte durch seinen Kopf, und er packte den jungen Baum fester. Die Eichel an seiner Brust brannte in kalter Wut und durchtränkte seinen Körper mit ihrer Energie. Das ständige Murmeln des Lebens erlosch, wurde ersetzt von den quälenden Schreien des toten Soldaten und dem unersättlichen Hunger des Schösslings. Beide schienen seine Gegenwart zu bemerken und gruben ihre Bedürfnisse in seinen Verstand. Konowa knurrte und riss den Schössling aus dem Boden. Der Leichnam zuckte heftig zusammen wie eine Marionette, die man von ihren Fäden abgeschnitten hatte. Schwarze, klumpige Erde klebte an den Wurzeln, die vergeblich herumzuckten auf der Suche nach etwas, woran sie sich festhalten konnten. Der Geruch des Todes wurde stärker. Die Stimmen in seinem Kopf wurden lauter. Das Feuer in ihm brannte noch kälter.

Konowa packte den Schössling noch fester und zwang das eisige Feuer hinein. Die Schreie des Soldaten verstummten, als der junge Baum die brennende Kälte wie ein Schwamm aufsog. Doch schon bald funkelte Frost auf seinen Blättern, und dann begann auch die Pflanze zu schreien. Weiß-blaue Flammen tanzten über ihren Stamm, sprangen von den Zweigen zu den Blättern, verzehrten alles.

Schließlich hatte Konowa nur noch Asche in den Händen. Er ließ sie zu Boden fallen und rang nach Luft. Dann blickte er auf seine Finger. Die schwarze Flüssigkeit war weggewaschen und hatte seine Hände unglaublich sauber hinterlassen. Die Stimmen waren ebenfalls verschwunden, und das unendliche Murmeln des Lebens drang in die Leere.

»Major, geht es Ihnen gut?« Lorian legte eine Hand auf Konowas Schulter, zog sie jedoch sofort mit einem Schrei zurück. Sein Handschuh war von Raureif überzogen.

Konowa kam wieder zu Atem und blickte hoch. »Mir geht es gut. Vermutlich war er doch verflucht«, log er und warf einen Blick auf den Aschehaufen. Die Hitze wärmte bereits langsam wieder seine Haut, und er wischte sich mit einem Ärmel über die Stirn.

»Was ist passiert? Was bedeutet das?«, wollte Lorian wissen, der fasziniert den rauchenden Aschehaufen betrachtete.

»Es hat nichts zu bedeuten!«, rief der Prinz, der sich ihnen im Galopp näherte. Sein Pferd scheute plötzlich nervös, und er brachte es mit einem kräftigen Ruck der Zügel zum Stehen. Aber das Pferd tänzelte herum und ließ sich nicht beruhigen. Es verdrehte die Augen, bis man das Weiße sah; der Prinz musste ständig an den Zügeln zerren, damit es nicht durchging. »Ich werde nicht zulassen, dass die Soldaten des Imperiums von solchen Dingen erschreckt werden wie dumme Pferde!«, rief er, während er sich vorbeugte und seinem Pferd die Zügel zwischen die Ohren schlug. »Diese Männer wurden von Rebellen getötet. Welche Magie dabei benutzt wurde, ist nebensächlich und hat nichts zu bedeuten; mehr müssen die Soldaten nicht wissen. Unser oberstes Ziel ist die Beschaffung des Sterns.« Der Prinz blickte zu der Kolonne von Soldaten zurück, die auf sie zumarschierten.

Konowa stand auf und streckte unauffällig sein Bein. Das Gefühl von Frostfeuer in seinen Händen ließ diese zittern, deshalb drückte er sie fest an seine Oberschenkel.

»Bei allem gebotenen Respekt, Sir«, widersprach er, »die Männer sind nicht so dumm. Sie wissen ziemlich gut, was wir vorhaben und auch, was uns erwartet. Ich fand es immer besser, offen mit ihnen zu sein. Sie kämpfen besser, wenn sie wissen, warum.« Auch wenn er ihnen nicht alles erzählen würde.

Das Pferd tänzelte im Kreis herum, bevor der Prinz es wieder unter Kontrolle bekam. Er trieb es zu Konowa und beugte sich so weit aus dem Sattel, dass es aussah, als würde er gleich herunterfallen. »Sie müssen nur wissen, dass ich der Oberst dieses Regiments und der Prinz von Calahr bin. Sie gehorchen meinen Befehlen oder sie werden gehängt.« Er richtete sich im Sattel auf. »Dafür werden die Rebellen bezahlen!«, rief er so laut, dass die vorbeimarschierenden Soldaten es hören konnten. Dann senkte er die Stimme. »Wir haben keine Zeit, die Leichen zu begraben. Reißen Sie die Bäume heraus, schaffen Sie alles in die Hütte, und verbrennen sie es. Sofort!«

Konowa verfluchte Marschall Ruwl und seinen Vater, weil sie ihn zwangen, das Kindermädchen für diesen Narren zu spielen. Der Drang, den Prinzen zu packen, ihn aus dem Sattel zu reißen und ihn in der Hütte zu verbrennen, durchzuckte Konowa, aber er beherrschte sich. Mit Mühe.

»Jawohl, Sir, sofort.« Er salutierte und sah dem Prinzen nach, der davongaloppierte, weil sein Pferd diesen makaberen Ort so schnell wie möglich verlassen wollte.

»Sie haben Seine Hoheit gehört.« Konowa gab sich keine Mühe, die Wut und Verachtung in seiner Stimme zu verbergen. Er bedeutete Lorian, sich der Leiche des Korporals anzunehmen, während er sich um den nächsten Schössling kümmerte.

Es verlief jedes Mal auf dieselbe Art. Die Kälte wallte in Konowa auf, der junge Baum versuchte, sie zu absorbieren, während die Seele des toten Soldaten vor Furcht und Qual schrie. Doch Konowa vernichtete sie beide jedes Mal, und es fiel ihm zunehmend leichter, seine Energie zu fokussieren. Er wollte gerade die Hütte auf dieselbe Art und Weise verbrennen, als er Lorian hinter sich spürte. Er empfand keine Bedrohung, aber dennoch wuchs die Kälte in Konowa, als das Frostfeuer durch seine Adern raste. Es fühlte sich an, als wäre die Welt ein loderndes weißes Laken aus Schnee mit roten Flecken von Leben darin. Der Drang, es zu reinigen, alles zu reinigen, wurde so übermächtig, dass Konowa an nichts anderes mehr denken konnte. Er drehte sich um.

Lorian starrte ihn mit aufgerissenen Augen und offenem Mund an. Er hielt eines der rasiermesserscharfen Blätter in seiner bloßen Hand. Frost funkelte auf der Oberfläche des Blattes wie schwarze Diamanten. Dann loderten dieselben Flammen auf, welche die Schösslinge verzehrt hatten, und einen Moment später war das Blatt zu Asche verbrannt. Lorians Hand zeigte, genau wie die von Konowa, keinerlei Verletzungen.

»Was haben Sie uns angetan?«, flüsterte Lorian und bog seine Finger, als sähe er seine Hand zum ersten Mal.

Konowa hatte das Gefühl, als würde ein Damm brechen. Als die Empfindung von Macht und Schwindel nachließ, taumelte er.

Was hatte er getan?

Was hatte sein Vater ihm da gegeben? Er blickte auf die Leichen in der Hütte und sah einen Moment die Leichen der Elfen, die er einst gekannt hatte.

Das war nicht sein Geburtsrecht – dies hier war sein Fluch.

Die Schritte der Soldaten, die an der Hütte vorbeimarschierten, brachten ihn wieder in die Gegenwart zurück. Konowa richtete sich auf und zupfte seine Uniform zurecht. »Holen Sie ein Pfund Pulver und eine Zündschnur, und zerstören Sie das hier!« Er wartete nicht auf Lorians Antwort, sondern trat aus der Hütte, als Rallies Planwagen vorbeifuhr. Visyna saß neben ihr auf dem Bock, und die beiden Frauen blickten ihn an, als der Wagen vorbeirumpelte.

Konowa hatte Ärger erwartet, vielleicht sogar Drohungen. Doch als der Wagen knarrend an ihm vorbeifuhr, die Brindos schrien und mit ihren kurzen dicken Schweifen die Luft peitschten und Jir neben dem Wagen entlanglief, ohne den suchenden Blick von dem Segeltuchdach zu nehmen, auf dem er den Pelikan vermutete, musste sich Konowa abwenden. Denn er sah keine Wut in ihren Augen, sondern Mitleid … und Furcht.

Elfen wie Stahl
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