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ALS HIZU SCHLIESSLICH unter dem Vizekönig zusammenbrach, war Faltinald Gwyn immer noch einen Tagesritt von Luuguth Jor entfernt. Angewidert riss er seine Füße aus den Steigbügeln und richtete sich ungelenk auf. Dann zog er den langen dünnen Umhang, den er angelegt hatte, fester um sich. Der Frost, der das Futter überzog, knisterte und fühlte sich wundervoll auf seiner neuen Haut an.
Er trat zum Kopf des Pferdes und stieß ihn mit seiner Stiefelspitze an. Rosafarbene schaumige Blasen quollen aus den Nüstern, und das Auge, das der Vizekönig sehen konnte, war vollkommen verdreht. Das Weiß des Augapfels war mit Blut durchzogen. Der Vizekönig zwang sich, die Knie zu beugen, etwas, was er immer noch erlernen musste, während er versuchte, die Gelenke zu benutzen, an denen sein Fleisch und seine Haut durch ihr Wohlwollen neu geboren wurden. Er hockte sich über das sterbende Tier, legte beide Hände auf seinen Leib und befahl ihm, sich zu erheben. Auf die gleiche Weise hatte er ihren Streitkräften befohlen zu töten.
Schwarzer Frost breitete sich über den Pferdekörper aus, als hätte jemand Tinte aus einem Fass vergossen. Hizu wieherte einmal, dann noch einmal, und stieß dunkle Blutströme aus seinen Nüstern und aus seinem Maul. Der Vizekönig erhob sich und wartete; beobachtete, wie das Pferdeauge milchig weiß wurde, als sich das Blut des Tieres vor seinem Maul von Rot über Grau zu Schwarz verfärbte. Erheblich schneller, als er selbst sich erholt hatte, sprang das Pferd wieder auf die Beine und ließ dabei Hautfetzen auf der gefrorenen Erde zurück, wo es eben noch gelegen hatte. Dann wandte er ihm den Kopf zu, öffnete weit das Maul und wieherte. Das unheimliche Geräusch drang jetzt aus frostverbrannten Lungen tief in seinem Körper.
Das, dachte der Vizekönig, nenne ich ein Pferd.
Warmes Wasser tropfte in ihren Mund und lief ihr die Kehle hinunter. Inja erinnerte sich, öffnete den Mund und schrie. Das harsche, heisere Geräusch hallte in ihren Ohren.
»Immer mit der Ruhe, Mädchen, so schlecht sehe ich gar nicht aus.«
Inja schloss den Mund und öffnete die Augen. Zunächst konnte sie im Licht der Lampen nur glänzendes Metall und rote Locken erkennen. Sie war immer noch im Stall, lag jetzt jedoch auf einer der strohgefüllten Matratzen, die die Helfer benutzten, und unter einer Decke. Sie fröstelte und zog sie fest um sich. Ihre Sehkraft wurde klar, und sie konnte einen Mann ausmachen, der einen Helm aus glänzendem Metall und einen Kürass trug, ein Kavallerieoffizier. Es standen noch weitere Männer um ihre Liege herum. Ihre Mienen zeigten eine Mischung aus Trauer und Ekel. Seltsamerweise hockte auch ein weißer Vogel am Fußende ihres Bettes, den Schnabel unter einen Flügel gesteckt. Er schien zu schlafen.
»Wer … seid … Ihr?«, fragte sie. Jedes Wort klang trotzig.
»Ah, selbstverständlich, wir wurden uns noch nicht ordentlich vorgestellt.« Der Offizier stand auf und nahm seinen Helm ab. Der lange Federbusch aus Pferdehaar streifte ihren nackten Arm, der auf der Decke lag. »Ich bin der Herzog von Harkenhalm, Oberst Jaal Edrahar, Lordkommandeur der Kavallerie Ihrer Majestät in Elfkyna. Und diese Herren hier sind mein Stab.« Er deutete mit einer behandschuhten Hand auf die kleine Gruppe. Die Männer verbeugten sich und nickten ihr zu. »Wir bekamen die Nachricht, dass wir so rasch wie möglich dem Vizekönig einen Besuch abstatten sollten, und fanden Sie hier auf dem Boden vor, verletzt.«
Seine tiefe Stimme klang rau, aber seine Freundlichkeit verlieh ihr etwas Sanftes, Beruhigendes. Und sein Lächeln strahlte sogar heller als das Licht der Laternen, trotz der vielen Narben auf seinem Gesicht. Inja hob die Hand und betastete die Haut an ihrem Hals. Sie war vernarbt und fühlte sich unter ihren Fingerspitzen kalt an. »Ich bin Inja, Mylord. Ich arbeite in den Stallungen. Ich war hier, als der Vizekönig kam«, fuhr sie fort. Sie verstand jetzt, warum sich einige der Offiziere abwandten. »Er hat Hizu genommen und ist verschwunden. Ich wusste, was passieren würde, aber ich konnte ihn nicht aufhalten.« Als Inja an Hizu dachte, begann sie zu schluchzen.
»Aber nein, Kleine, tun Sie das nicht. Sie sind ganz bestimmt noch nicht so weit gekommen. Wir werden diesen Mistkerl aufspüren und Hizu zurückholen«, sagte der Herzog und sah seine Offiziere an.
»Hizu ist tot; schlimmer als tot. Der Vizekönig hat ihn verändert, so wie er selbst verändert worden ist.« Sie setzte nicht hinzu: so wie ich verändert wurde, tastete jedoch erneut mit ihrer Hand zu ihrem Hals. Sie konnte nicht aufhören zu zittern. Der Herzog nahm sanft ihre Hand und legte sie auf die Decke. Einer seiner Offiziere legte eine Schabracke über sie. Die dicke, warme Lammwolle war sehr schwer.
»Ich verstehe nicht«, antwortete der Herzog, der sie nach wie vor anlächelte.
»Dann werde ich es Euch zeigen«, sagte sie, packte die Hand des Herzogs und zog sich daran hoch. Die Schabracke legte sie sich wie einen Schal um die Schultern und stand auf. Diese Bewegung weckte den Vogel, einen Pelikan, wie sie jetzt sah. Er schlug ein paarmal mit seinen Flügeln, rülpste dann und schob anschließend seinen Schnabel wieder unter eine Schwinge.
Inja ging einige Schritte und wäre gefallen, hätte der Herzog nicht seine Hand um ihre Taille gelegt.
»Immer mit der Ruhe, Inja. Ich glaube, Sie sollten sich ausruhen.« Er versuchte, sie zum Bett zurückzuführen. »Wir müssen ein Feuer machen, um Sie aufzuwärmen.«
Inja schüttelte den Kopf. »Nein, Ihr müsst es erst sehen. Er wird noch viel mehr Menschen töten. Es ist der Tisch«, sagte sie und deutete zum Palast.
Der Herzog gab seinen Versuch auf, sie zum Hinsetzen zu bewegen. »Vielleicht sollten Sie sich doch lieber hinlegen. Tische können Ihnen nichts tun, es sei denn natürlich, man wirft damit nach Ihnen.« Er versuchte, sie zum Lachen zu bringen.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Ihr irrt Euch. Es ist nicht nur ein Tisch. Die Seele von etwas Dunklem ruht darin. Es erinnert sich … Es erinnert sich, dass es ein Baum gewesen ist, und es ist wütend.«
»Oh, ich weiß ein paar Dinge über Wolfseichen und die Lange Wacht und dergleichen und über diese Bündnisse, die sie schließen, aber ich habe noch nie gehört, dass jemand einen Bund mit einem Möbelstück geschlossen hätte.«
»Ihr verspottet mich!«
Der Herzog lächelte und senkte den Kopf. »Ich entschuldige mich, aber sind Sie wirklich sicher, dass Sie nicht eine Kristallkugel oder vielleicht ein Buch mit Zaubersprüchen meinen, das auf dem Tisch liegt? Ich glaube, ich kenne den Tisch, von dem Sie sprechen. Er sieht aus wie ein Drache, stimmt’s? Er ist ein bisschen gruselig, aber kaum böse.«
»Ich weiß, wovon ich rede! Er ist böse! Der Vizekönig benutzt ihn, oben in seinem Raum. Könnt Ihr es nicht spüren?«
In diesem Moment blickte der Pelikan hoch und schien sich plötzlich für seine Umgebung zu interessieren. Der Herzog sah seine Offiziere an, die mit den Schultern zuckten. Sie waren ganz offensichtlich nicht in der Lage, die Kräfte zu spüren, die um sie herum am Werke waren. »Wir sind fast drei Wochen durchgeritten; im Moment spüre ich so gut wie gar nichts.«
»Dann muss ich es Euch zeigen, und zwar jetzt.« Ohne auf eine Antwort zu warten, befreite sie sich von seinem Arm und stolperte aus dem Stall. Der Herzog war mit wenigen Schritten neben ihr und hielt ihr seinen Arm hin, damit sie sich darauf stützen konnte. Sie hörte das Klappern der Sporen auf den Pflastersteinen, als seine Männer ihnen folgten.
Inja führte sie in den Palast und die Treppen zum Schlafgemach des Vizekönigs hinauf. Der Herzog musste sie die letzten Stufen fast tragen, denn ihre Kraft verließ sie, je näher sie dem Raum kam. Die Kälte drang ihr bis in die Knochen. Es war eine tiefe, unersättliche Kälte, die ihr Blickfeld einengte, noch während der Herzog die äußere Tür zu dem Gemach mit einem Tritt aufstieß.
»Hier drin ist es ja eisig!«
Säbel fuhren schabend aus ihren Scheiden, als die Männer des Herzogs zur inneren Tür gingen, deren Holz von schwarzem Frost überzogen war. Mit Schultern und Stiefeln bearbeiteten sie die Tür, die stöhnte und schließlich aus den Angeln fiel. Eine Welle eiskalter Luft schlug ihnen entgegen.
Der Herzog übergab Inja sanft der Obhut eines anderen Offiziers, während er die innere Kammer betrat. Vorsichtig trat er zu den verrammelten Fenstern und machte dabei einen großen Bogen um den rußigen Tisch in der Mitte des Raumes. Er öffnete die Riegel, stieß die Läden auf und ließ die warme Luft herein. Der Pelikan landete auf dem Fensterbrett und starrte neugierig auf den Tisch. Etwas Silbernes glitzerte, und der Schatten von etwas viel Größerem flog an dem Fenster vorbei, aber der Pelikan ließ sich davon nicht stören.
Der Herzog drehte sich zum Tisch herum, der zu schimmern schien, als die Luft noch kälter wurde. Er trat dichter heran, beugte sich vor und betrachtete die Oberfläche. Dann richtete er sich unvermittelt auf und zog zischend den Säbel aus der Scheide.
»Dieser heimtückische Mistkerl! Dieses Ding ist eine riesige Kristallkugel.« Er bedeutete seinen Männern, nicht näher zu kommen. »Sie hat recht, es ist magisch. Hätte ich das gewusst, hätte ich meine Sporen hineingerammt.«
Der Herzog blickte erneut auf die Oberfläche. »Was zum Teufel … ?«, rief er. Sein Gesicht wurde weiß vor Wut.
»Was denn, Sir?«, rief ein Offizier und hob seinen Säbel.
Der Herzog deutete auf die Oberfläche des Tisches. »Es zeigt den Vizekönig, der nach Luuguth Jor reitet. Verdammt! Wir können auf keinen Fall rechtzeitig dort eintreffen.« Er sah wieder auf die Tischplatte, und seine Miene wurde grimmig. »Konowa und seine Jungs kämpfen allein dagegen, und ich kann nichts tun.«
Inja trat unsicher in den Raum und stellte sich auf die andere Seite des Tisches, dem Herzog gegenüber. Der Pelikan verfolgte ihre Schritte sehr aufmerksam. »Es ist sehr kalt hier, Mylord. Wenn wir etwas Brennbares fänden, könnten wir den Raum vielleicht ein bisschen aufheizen.«
Der Herzog von Harkenhalm hob den Kopf und sah sie von der anderen Tischseite aus an. Um seinen Mund spielte das schönste und gefährlichste Lächeln, das sie je gesehen hatte.