23

ZEHN ERDHÜGEL MARKIERTEN die Gräber der Soldaten, die bei dem Angriff der Hundespinnen getötet worden waren. Der zehnte Soldat war im Laufe der Nacht seinen Verletzungen erlegen. Es war schwer gewesen, die Gräber auszuheben, denn die Erde war trocken und festgestampft und zudem von Wurzeln durchzogen. Nachdem sich die Soldaten eine Weile daran versucht hatten, wurden schließlich drei Muraphanten abkommandiert, den Bereich mit ihren Stoßzähnen aufzulockern. Selbst mit ihrer Hilfe dauerte es mehrere Stunden, und die Gräber waren gerade fertig, damit die ersten Verluste der Stählernen Elfen zur Ruhe gebettet werden konnten, als dem frisch formierten Regiment eine weitere Premiere bevorstand.

Alwyn sprach ein stummes Gebet für Meri und dann etwas widerwillig noch eines für den ehemaligen Korporal Kritton, als man den Elf an den frischen Gräbern vorbei zu einer Lichtung führte. Das Regiment hatte in Hufeisenform Aufstellung bezogen. Die Kutscher der Elfkynan und Mistress Synjyn standen an der Seite unmittelbar hinter den Truppen. Das Brüllen eines Brindo und das antwortende Trompeten eines Muraphanten brachen die Stille, die über der Lichtung lastete.

Je ein Sergeant führte Kritton an den Ellbogen, aber der Gefangene machte keinerlei Anstalten zu fliehen. Er hatte bereits seine Uniformjacke und den Tschako abgelegt, oder man hatte sie ihm abgenommen, sodass nur noch ein braunes Baumwollunterhemd seinen Oberkörper bedeckte. Sein langes schwarzes Haar hatte er mit einem einfachen Lederriemen zu einem Zopf gebunden, der über seinen Rücken reichte. Er hielt seinen Kopf hoch, stand gerade und ließ sich seine Gedanken nicht anmerken, als er flankiert von den beiden Sergeanten in die Mitte des Hufeisens marschierte, in dem vier Hellebarden zusammengeschnürt worden waren und eine auf den Kopf gestellte Pyramide bildeten. Unter ihren Schritten wirbelte schwarze Asche auf, die Reste der verbrannten Faeraugs. Der widerliche Gestank hing immer noch in der Luft.

Als sie die Hellebarden erreicht hatten, streiften die Sergeanten ihm das Hemd ab und banden die Hände über seinem Kopf an die hölzernen Schäfte. Rasch fesselten sie auch seine Knöchel an die Schäfte und traten zurück. Einer der Sergeanten zog ein Stück Leder aus seiner Tasche und hielt es Kritton hin, damit er darauf beißen konnte. Der Elf warf ihm nur einen finsteren Blick zu. Der Sergeant zuckte mit den Schultern, steckte das Lederband wieder ein und ging weg. Dann verkündete er mit lauter Stimme, dass der Gefangene gebunden und bereit wäre, seine Strafe anzutreten.

Prinz Tykkin trat vor und musterte seine Soldaten. Er trug eine neue Uniform. Seine silbergrüne Jacke war eine leuchtende Ausnahme unter den mit Staub und Asche bedeckten Uniformen des Regiments. Natürlich sollten Offiziere besser aussehen als ihre Leute, und Alwyn vermutete, dass ein Prinz auch besser aussehen sollte als seine Offiziere. Der Major stand ein paar Schritte von ihm entfernt und wirkte noch düsterer und wilder als zu dem Zeitpunkt vor wenigen Tagen, an dem Alwyn ihn im Lager zum ersten Mal gesehen hatte. Der Major richtete immer wieder sein Revers und legte dann die Hand auf den Knauf seines Säbels. Alwyn fragte sich, ob das wohl eine Art von Ritual war.

»Die Stählernen Elfen haben geblutet«, begann der Prinz ohne jede Vorrede. Seine Stimme war ein bisschen hoch, als wüsste er nicht genau, wie laut er sprechen sollte. »Wir haben Tod und Verletzungen erlitten, wie es in einer Schlacht zu erwarten ist. Was jedoch nicht zu erwarten war oder auch nur zu tolerieren ist, ist Ungehorsam angesichts eines direkten Befehles. Ganz gleich, wer oder was Ihr Feind ist, Sie werden Ihre Pflicht jederzeit vollständig erfüllen.« Er hielt inne und musterte erneut die Truppen. »Dieses Regiment wurde einmal zu seiner großen Schande aus den Verzeichnissen der Imperialen Armee gestrichen. Das wird nicht noch einmal geschehen! Jeder Soldat, ganz gleich, welchen Rang er innehat, wird meinen Befehlen gehorchen ebenso wie jenen, die über die Befehlskette weitergegeben werden, und zwar ohne jede Frage. Oder er wird den Preis bezahlen.« Damit drehte er sich auf dem Absatz herum und schritt aus dem Hufeisen, ohne sich auch nur einmal umzudrehen.

Regimentssergeant Lorian trat vor. »Der Gefangene wird jetzt seiner Strafe zugeführt. Ich will niemanden in Ohnmacht fallen sehen, oder der Betreffende wird als Nächster die Peitsche schmecken!«

Die Soldaten versteiften sich bei dieser Drohung. Alwyn schluckte und blickte starr geradeaus.

»Soldat Renwar, vortreten!«

Alwyn konnte sich nicht bewegen. Ein Murmeln durchlief die Reihen, wurde jedoch von dem scharfen Blick des Regimentssergeanten sofort zum Verstummen gebracht.

»Renwar, vortreten!«

Alwyn machte einen zögernden Schritt, dann noch einen.

Lorian trat zu ihm und reichte ihm eine Peitsche aus ungegerbtem Leder. »Lass es locker angehen, Junge«, flüsterte Lorian. »Ziel auf seine Schultern und leg nicht zu viel Kraft hinein.«

Alwyn sah sich nach Yimt um, der hilflos den Kopf schüttelte. Dann nickte Alwyn und ging auf Kritton zu, ohne seine Beine zu spüren. Sein ganzer Körper schien taub geworden zu sein. Sein Herzschlag hämmerte so laut in seinen Ohren wie ein wildgewordener Muraphant, der über einen Steinboden donnerte. Er wusste, dass das Regiment immer noch anwesend war, aber er konnte niemanden erkennen. Es war, als hätte sich sein ganzes Wesen auf diese umgekehrte Peitsche in seiner rechten Hand reduziert und auf die nackte braune Haut von Korporal Krittons Rücken fünf Meter vor ihm.

Alwyn umklammerte den Griff der Peitsche und wusste, dass der grob geflochtene Zopf ein rot-weißes Flickenmuster auf der Haut seiner Hand erzeugte, aber trotzdem spürte er nichts. Er starrte weiterhin Krittons Rücken an, der ihn vollkommen faszinierte. Über den Schulterblättern flossen Muskelstränge, die wie vom Wasser geglättete Felsen wirkten. Er suchte nach der Essenz der Natur und sah im Rücken eines Elfs die schlichte Majestät der Natürlichen Welt, und jetzt musste er sie zerstören. Es spielte keine Rolle, dass Kritton eine verachtenswerte Person war und es vermutlich sogar verdient hatte, ausgepeitscht zu werden, für Tausende anderer Vergehen, wenn schon nicht für dieses. Doch Alwyn würde zum ersten Mal in seinem Leben einer anderen Kreatur absichtlich Schmerz zufügen. Er würde bis zum Tod gegen die Faeraugs kämpfen, aber das hier war anders. Das hier war kaltblütig.

Diese Erkenntnis traf Alwyn wie ein Blitz, und er schwankte einen Moment, bevor er sein Gleichgewicht wiedergewann. Das war die Armee. Es war das Leben. Was sauber war, wurde beschmutzt. Was ganz war, zerbrochen. Es war eine Offenbarung, auf die Alwyn ganz und gar nicht vorbereitet war.

Du wirst toll in einer Uniform aussehen, Junge, hatte der Rekrutierungssergeant gesagt, und Alwyn hatte es geglaubt, hatte es glauben wollen. Alwyns Vater hatte ihm zugestimmt, indem er den Preis in Aussicht stellte, nach dem sich jeder Jüngling sehnt: Das wird einen Mann aus dir machen. Herr Yuimi, der kleine Elfenschuster am anderen Ende der Straße, hatte jedoch nur sehr traurig den Kopf geschüttelt, als Alwyn ihm die Neuigkeit mitgeteilt hatte. Dieses stumme kurze Kopfschütteln hatte mehr geschmerzt als alles andere. Und jetzt erst begann Alwyn zu begreifen, was der kleine Elf bereits gewusst hatte.

Der Regimentssergeant räusperte sich und sah Alwyn an. Der konnte nur nicken. »Auf meinen Befehl, zwanzig Schläge, keinen mehr … Anfangen!«

Als Alwyn die Hand hob, versuchte er sich das Geschäft des kleinen Schuhmachers vorzustellen und die Freude, die seine Besuche sowohl bei dem Schuhmacher als auch bei ihm selbst ausgelöst hatten. Aber irgendwie war das alles aus seinem Gedächtnis verschwunden. Was geblieben war, war die kleine, gebeugte Gestalt eines grauhaarigen Elfs, der traurig den Kopf schüttelte. Alwyn starrte durch einen Tränenschleier auf Krittons Rücken und schlug zu.

Elfen wie Stahl
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