30

EIN RIESIGER SCHATTEN beugte sich über Alwyn. Er sah hoch und erkannte Soldat Hrem Vulhber, der neben ihm hockte. »Ist Korporal Arkhorn in der Nähe? Ich habe die letzte Wache, und er sagte, er würde mir einen seiner Jungs an die Seite stellen.«

»Dann leiste ich dir ein bisschen Gesellschaft, Hrem«, sagte Alwyn, stand auf und warf einen Blick zu Yimt hinüber, der an einem der interessanteren Reliefs lehnte.

Yimt öffnete ein Auge. »Eigentlich hatte ich gedacht, dass Inkermon ein bisschen frische Luft gebrauchen könnte. Aber da du dich schon freiwillig gemeldet hast, kann es wohl nicht schaden. Tu mir nur einen Gefallen und halte dich von Schwierigkeiten fern. Hrem, lass nicht zu, dass er einen Offizier erschießt, der die Wachen überprüft … außer natürlich, es geht nicht anders.«

Hrem nickte lächelnd. »Solange du hier unten bleibst, können die Offiziere wohl da oben sicher herumlaufen.«

»Was für eine Unverschämtheit«, meinte Yimt, gähnte und reckte sich. Dann bedeutete er den beiden mit einem Winken, zu gehen. »Verschwindet und tut uns den Gefallen, nicht direkt über unseren Köpfen herumzutrampeln; hier unten versuchen einige Leute zu schlafen.«

Alwyn schnappte sich Tschako und Muskete und folgte Hrem durch die Tunnel hinaus ins Freie.

Es standen keine Sterne am Himmel, und ein warmer Nebel stieg vom Boden auf, der die Sicht auf wenige Meter reduzierte. Sein Bedürfnis, sich die Beine zu vertreten, reduzierte sich ebenfalls schlagartig, aber natürlich würde er jetzt nicht kneifen.

Die beiden gingen hinaus und trafen auf einen verschlagen aussehenden Soldaten. Hrem räusperte sich kurz und ging weiter. Es war ganz offensichtlich, dass er ihn Alwyn absichtlich nicht vorstellte.

»Angenehme Wache, Mädels!«, rief der Soldat ihnen nach.

»Wer war das denn?«, erkundigte sich Alwyn und beschleunigte seinen Gang, um mit Hrems ausgreifenden Schritten mitzukommen.

»Ärger. Einige Leute werden schon mies geboren, andere werden dazu gemacht. Auf Soldat Zwitty trifft beides zu.«

»Oh.«

Hrem sah ihn an und schlug ihm mit seiner großen Hand auf die Schulter, woraufhin Alwyn fast die Balance verlor.

»Mach dir keine Sorgen; hör du schön auf den Kleinen Verrückten, dann wird dir nichts passieren. Wahrscheinlich hat er es dir schon geraten, aber ich wiederhole es gern: Wenn du ein Problem hast, dann nimm es frontal in Angriff. Einem Kerl wie Zwitty oder auch Kritton muss man immer in die Augen sehen, ohne zu blinzeln.«

»Es muss schön sein, wenn man so groß ist wie du«, erwiderte Alwyn und sah zu dem Hünen von Mann neben sich auf.

Hrem lachte. Es war ein leises, ironisches Lachen, über das Alwyn lächeln musste. Er war froh, dass Hrem es in der Dunkelheit nicht sehen konnte.

»Der Korporal misst vielleicht nur einen Meter zwanzig, aber du wirst keinen Soldaten in diesem Regiment finden, zum Teufel, nicht einmal in dieser Armee, der genug Mumm hat, es mit ihm aufzunehmen. Es ist nicht nur die Körpergröße, die zählt, Alwyn, sondern auch das, was drinsteckt.«

Sie gingen einige Minuten schweigend weiter, marschierten durch das Lager und über den Hang zu dem Fluss hinab, den Alwyn bis jetzt immer noch nicht gesehen hatte. Er konnte ihn freilich riechen; der stechende Geruch nach modrigem Wasser wurde bei jedem Schritt stärker. Er machte sich bereits Sorgen, ob Hrem ihn vielleicht mitten hineinführen würde, als eine Stimme sie anrief.

»Wer ist da?«

»Ich bin’s, Kess. Ich komme, um dich abzulösen«, sagte Hrem und gähnte herzhaft.

»Das wird aber auch Zeit. Ich habe schon gedacht, ihr hättet mich hier unten vergessen«, entgegnete Kess und tauchte vor ihnen auf. In der Dunkelheit und im Dunst des Flusses war er kaum mehr als ein Schatten. »Und wer ist das?«

»Alwyn Renar von der A-Kompanie«, erwiderte Alwyn und streckte die Hand aus. Eine andere Hand tauchte aus dem Nebel auf, und als sie die seine schüttelte, spürte Alwyn erleichtert reale warme Haut. »Ich konnte nicht schlafen, deshalb dachte ich, ein bisschen frische Luft könnte nicht schaden.«

Kess trat vor, und Alwyn konnte nur einen mächtigen Backenbart und eine sehr krumme Nase erkennen.

»Jedem das Seine, sage ich immer. Kester Harkon, nett dich kennenzulernen.« Er zog seine Hand zurück und deutete auf den Fluss. »Passt auf, wo ihr hintretet; es ist sehr schlammig dort.«

»Das machen wir, danke, Kess«, antwortete Hrem und ging zum Fluss.

Kess knurrte und ging in die entgegengesetzte Richtung davon. Alwyn folgte Hrem durch den Nebel.

»Wir werden nicht einmal die Hand vor den Augen sehen«, meinte Hrem einen Augenblick später. Er war stehen geblieben, und Alwyn prallte gegen ihn.

Er sah sich um. In der Dunkelheit war außer dem grauen wabernden Nebel nichts zu erkennen. »Wahrscheinlich nicht«, stimmte er Hrem zu. Die Frage war, ob etwas anderes sie sehen konnte.

Hrem gähnte erneut. »Der Morgen kommt bald, und ich habe noch keine Sekunde geschlafen.«

»Ich könnte ein bisschen Wache halten«, schlug Alwyn vor, bevor ihm aufging, was er da gerade angeboten hatte.

»Du hast doch auch nicht geschlafen.«

»Das kann ich auch nicht, jedenfalls im Moment noch nicht. Sag mir nur, was ich tun soll, wenn ein Korporal kommt und die Wachen kontrolliert.«

Es plumpste, und ein tiefer Seufzer ertönte, als sich Hrem auf dem Boden ausstreckte. »Mach dir keine Sorgen, Alwyn. Der Einzige, den du nicht hören wirst, wenn er sich anschleicht, ist Kritton. Aber der ist kein Problem mehr. Der teuflische Mistkerl hatte das wirklich verdient, wenn du mich fragst.«

»Wahrscheinlich«, antwortete Alwyn und hoffte, dass seine Stimme nicht so besorgt klang, wie er sich plötzlich fühlte.

»Du bist ein guter Kerl, Alwyn, ganz gleich, was man über dich sagt«, meinte Hrem, während er ausgiebig gähnte.

»Wer sagt was über mich?«

»… denk nicht dran … Bist ein feiner Bursche, ein bisschen schwächlich, aber zäh genug … Du wirst noch ein guter Soldat …«

Alwyn wusste nicht, ob das ein Kompliment oder eine Beleidigung war. Oder beides. Dann ertönte ein lautes Schnarchen von dort, wo Hrem sich hingelegt hatte, und verkündete, dass das Gespräch beendet war.

Es platschte.

Alwyn erstarrte und versuchte herauszufinden, woher das Geräusch gekommen war. Doch dann war alles wieder ruhig. Er beugte sich etwas vor und hielt sein linkes Ohr in Richtung des Flusses, den er immer noch nicht gesehen hatte. Eine Nebelschwade segelte vorbei und nahm die bedrohlichen Formen an, die seine Fantasie in ihr sah. Er packte seine Muskete etwas fester und spähte angestrengt in den Dunst, während er betete, dass sich die Sonne beeilen und aufgehen möge. Dieses unterirdische Dorf mit seinen schmalen Gängen und Kammern, das eher für große Ziesel oder Zwerge geeignet war als für Menschen, kam ihm jetzt wie der wundervollste Ort auf der Welt vor.

Du bist albern, sagte er sich, während er merkte, dass er sich immer weiter vorgebeugt hatte, um etwas zu hören. »Ich bin ein Stählerner Elf«, flüsterte er. Er glaubte es zwar eigentlich nicht, aber er richtete sich wieder auf und nahm alle Willenskraft zusammen, um dem Fluss den Rücken zuzukehren.

Wieder platschte es.

Schlingpflanzen und Hundespinnen lagen hinter ihnen, das Regiment war im Großen und Ganzen unversehrt, und Hrem, einer der größten Soldaten im Regiment, schlief nur ein paar Meter von ihm entfernt. Zur Hölle, sie hatten sogar eine elfkynische Hexe dabei, selbst wenn sie ein bisschen zickig zu sein schien. Warum also spannte das Geräusch eines Fisches oder eines Frosches – wie er hoffte – seine Nerven bis zum Zerreißen an?

Wieder schwebte Nebel an ihm vorbei, und einen ganz kurzen Augenblick erschien darin eine Gestalt, die Alwyn kannte.

Meri.

Alwyn starrte auf den Nebel, bis er das Gefühl hatte, dass sich seine Augen in Wackelpudding verwandelten. Dann schüttelte er den Kopf. Er hätte schwören können, dass der einäugige Soldat eben an ihm vorbeigeschwebt war, aber Meri war tot.

Ich werde verrückt, dachte er, obwohl er sich klarer fühlte als je zuvor in seinem Leben. Seine Fantasie musste ihm einen Streich gespielt haben. Alwyn würde es weder Yimt noch dem Major erzählen. Nach dem, was Hrem eben entschlüpft war, hielten die anderen Soldaten Alwyn ohnehin für ein bisschen merkwürdig. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, was sie von ihm halten würden, wenn sie erfuhren, dass er sich Dinge einbildete.

Erneut ertönte das Geräusch.

Vermutlich war das nur eine Ente, die Schnecken von Wasserlilien fraß. Er überlegte, ob er Hrem wecken sollte. Wenn da draußen etwas war, wäre das sicherlich klug.

Er hörte ein schabendes und knackendes Geräusch.

Eine Schildkröte, die über einen kleinen Zweig krabbelte? Oder ein Wassergreif, der eine Schildkröte fraß? Alwyn ließ die Schultern kreisen, um sich zu entspannen. Es funktionierte nicht.

Das reicht, ich wecke Hrem, dachte er und drehte sich um, um den schlafenden Soldaten zu suchen.

In dem Moment sah er es. Den ersten rosa-orangefarbenen Strich am Horizont.

Es war Magie. Alles erschien anders beim Anblick dieser ersten Morgendämmerung. Die Anspannung wich aus seinen Muskeln, bis er glaubte, er würde in einem schlaffen Haufen auf dem Boden zusammensacken. Es war Morgen, der Anfang eines brandneuen Tages, und die Schlingpflanzen lagen hinter ihnen.

Es platschte und knisterte erneut. Alwyn drehte sich herum und sah zum ersten Mal den Fluss. Große Schilfrohre mit mächtigen Blütenkolben raschelten am Rand des Wassers, als Enten – tatsächlich Enten, wie er erlöst feststellte – an ihren Stängeln knabberten und nach Samen tauchten, die aus ihren Kolben gefallen waren. Es war ein wundervoller Anblick.

Er blickte an den Enten vorbei auf den Fluss selbst, der kaum einen Musketenschuss entfernt war. Allmählich nahm durch den Nebel hindurch die andere Uferseite Form an. Der Geruch, an den er sich allmählich gewöhnte, schien vom Fluss selbst zu kommen. Es wurde allmählich heller, und er konnte die ölige Oberfläche des braunen Wassers erkennen. Wie konnten die Enten darin nur überleben? Vielleicht trinken sie woanders, dachte er, und ging ein paar Schritte dichter an das Schilf.

Nicht weit von ihm entfernt spritzte Wasser hoch. Alwyn zuckte zusammen und schwang die Muskete in die Richtung. Der Nebel war immer noch so dicht, dass große Teile des Flusses und des Ufers davon verhüllt wurden. Alwyn spannte den Hammer und hielt den Atem an. Sein Herz hämmerte so laut, dass er sich fragte, ob man es im Lager hören konnte. Der Nebel wurde wegen der langsamen Erwärmung der Luft wieder dichter, und er hing an seiner Haut wie eine dünne Schleimschicht.

Ein schrecklicher Gedanke durchfuhr ihn. Wenn jetzt das Pulver in der Pfanne feucht geworden war und sich nicht entzündete? Er sah die Muskete an, als hätte sie ihn gerade betrogen.

Mit der einen Hand hielt er die Waffe, und mit der anderen tastete er nach einer Pulverkartusche in seinem Munitionsbeutel. Seine Finger strichen über das gewachste Papier der Kartuschen, und er spürte, dass sie alle feucht waren. Er zog die Hand aus dem Beutel, klappte ihn zu und entschied, sein Glück mit dem zu versuchen, was in der Pfanne war. Erneut platschte es.

»Hrem!«, rief Alwyn. Aber es hörte sich so leise an, dass er nicht einmal sicher war, ob er den Namen überhaupt laut ausgesprochen hatte. Er versuchte es erneut und zuckte zusammen, weil seine Stimme plötzlich so laut klang.

»Nein … Kitzel mich da, Dabina, das ist die richtige Stelle …«

Alwyn schüttelte den Kopf. Während er glaubte, dass er nie wieder normal schlafen konnte, schienen Soldaten wie Yimt und Hrem einfach überall schlafen zu können, und zwar jederzeit.

Noch mehr Enten planschten jetzt quakend herum, und die Sonne ging offensichtlich auf, obwohl das Gebiet, in dem Alwyn sich befand, immer noch in Schatten getaucht war. Vermutlich konnte er mit einigen dieser Samenstände des Schilfgrases, die aussahen wie die handgroßen Feuerbälle, die Grenadiere benutzten, Hrems Aufmerksamkeit erregen. Er legte die Muskete über die Schulter und trat an den Rand des Flusses, um welche zu pflücken.

Wieder stieg ihm der Geruch in die Nase, diesmal noch stärker.

Er war erdig und alt, ein Geruch von etwas, das noch nie das Licht der Sonne gesehen hatte. Und es war auch nicht der Geruch des Flusses. Es näherte sich Alwyn aus dem Nebel.

»Hrem!«, schrie Alwyn, allerdings klang seine Stimme nur wie ein heiseres Krächzen, während seine Zunge an seinem Glauben klebte.

Etwas Großes, Polterndes kam aus dem Nebel auf ihn zu … Es war dunkel und verschwommen, aber Alwyn wusste, was es war.

»R… Ra… Rakke!«, schrie er krächzend und umklammerte die Muskete so fest, dass die Muskeln seiner Hand schmerzten.

»… nimm die Feder; nein, die rote«, sagte Hrem und seufzte zufrieden.

»HREMMMM!«, schrie Alwyn, so laut er konnte, während er den Hammer zurückzog und abdrückte. Er hörte, wie der Feuerstein auf Metall schlug, dann zischte es, und dann passierte … nichts.

Das Pulver entzündete sich nicht.

Das Rakke tauchte aus dem Nebel auf und fuchtelte wild mit den Armen. Alwyn schloss die Augen, hielt die Muskete vor sich, sprang vor und wartete auf den Aufprall.

Ein eiskalter Wind erhob sich aus dem Nichts. Alwyn öffnete die Augen. Meri stand vor ihm, ein langes Breitschwert locker in beiden Händen. Der Leichnam des Rakke rollte das Ufer herunter, landete platschend im Wasser und versank.

»Was ist los?«

Alwyn drehte sich herum, als er Hrems Stimme hörte. Der hünenhafte Soldat stand ein paar Schritte entfernt, die Muskete schussbereit in der Hand.

»Da war ein … «, begann Alwyn, drehte sich herum und deutete auf Meri.

Es war niemand da. Weder Meri noch ein Rakke.

»Ein was?«, erkundigte sich Hrem, machte ein paar Schritte zum Fluss und drehte sich dann um.

Alwyn schüttelte den Kopf. »Nichts. Gar nichts.«

Sonnenstrahlen glitten über das Land und vertrieben die letzten Reste der Nacht. Alwyn beobachtete, wie die Wärme den Nebel auflöste, und fragte sich, ob sein Verstand sich ebenfalls bald in Nichts auflösen würde.

Elfen wie Stahl
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