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DAS REGIMENT VERLIESS das kleine Dorf mit mehr als nur ein bisschen Bedauern. Die Soldaten hatten festgestellt, dass die Elfkynan sehr gern handelten, vor allem schätzten sie Nähnadeln, Messingknöpfe, Bohnen und Spiegel. Dafür füllten die Soldaten ihre Provianttaschen mit allen Arten von getrockneten Früchten, süßen Nüssen, welche die Dorfbewohner Wumja nannten, und einem sehr fein geflochtenen Netz aus Pflanzenfasern, das man sich über den Kopf zog, um das Ungeziefer fernzuhalten.
Aber die Soldaten blickten nicht nur wegen dieses lebhaften Handels sehnsüchtig zurück, als sie flussaufwärts marschierten, nicht einmal wegen der barbusigen Frauen der Elfkynan, welche die Blicke der Männer nicht im Geringsten zu stören schienen. Nein, sie verließen ein kleines Refugium des Friedens und der Ruhe und marschierten in die Schlacht.
Soldaten reden nicht über ihre Angst. Frauen, Essen, Offiziere und das Wetter waren allgemein akzeptierte und im Laufe der Äonen erprobte Gesprächsthemen. Man redete jedoch nicht darüber, wie man sich fühlte, es sei denn natürlich in Einklang mit dem, was allgemein anerkannt war. Es war nicht so, dass sie etwa keine Angst empfunden hätten, ganz im Gegenteil. Das wurde sehr deutlich durch all die Glücksbringer und Amulette, die sie trugen, und die kleinen Phiolen mit Zaubertränken, von denen angeblich einige mit dem Urin des Bengar gefüllt waren, den das Regiment als sein offizielles Maskottchen adoptiert hatte. Und man merkte es an den verstohlenen Schutzgesten, an dem zu lauten Lachen oder dem vollkommenen Fehlen von Gelächter. Sie setzten von Berufs wegen ihr Leben ständig aufs Spiel, dennoch würde man nie hören, dass sie über die Gefahren sprachen, die sie einfach als Teil ihres Berufs betrachteten.
Selbst jetzt, da etliche ihrer Kameraden gestorben waren, sie stramm auf eine unbekannte Gefahr zumarschierten und ganz gewiss noch mehr von ihnen sterben würden, redeten sie nicht über die Furcht, die sie alle empfinden mussten.
Diesen Widerspruch konnte Visyna nicht verstehen.
Konowa redete auch nicht darüber. Selbst im Wald, wo sie zu zweit gewesen waren, hatte sie sehen können, dass er immer noch Soldat war. Er hätte überall hingehen und alles sein können, doch ohne die Armee hatte er wie ein verlorener kleiner Junge gewirkt. Und nachdem er jetzt sein Regiment wiederhatte, fragte sie sich, ob er jemals etwas anderes würde haben wollen.
Sie, zum Beispiel. Sie wusste, dass er Gefühle für sie hegte; in dieser Hinsicht war Konowa alles andere als subtil. Aber sobald das Gespräch auf das Imperium, die Natürliche Ordnung und die Schattenherrscherin kam, zog er sich zurück, obwohl sie wusste, dass er sehr ähnlich empfand wie sie.
Es ärgerte sie, dass es sie überhaupt beschäftigte. Ihr Volk und ihre Lebensweise wurden vom Imperium und der Schattenherrscherin bedroht, und Konowa diente eindeutig dem einen und lief Gefahr, auch der anderen zu dienen. Bald schon, nur allzu bald, würden Entscheidungen getroffen werden müssen. Etwas tief in ihr sagte Visyna, dass es kein Zurück mehr geben würde, wenn die Zeit gekommen war.
»Es ist verkehrt, Rallie, all das ist falsch«, sagte Visyna und veränderte ihre Haltung ein bisschen.
Sie fuhr mit Rallie in deren Wagen und musste lauter reden, als ihr lieb war, um sich über das ständige Knarren und Ächzen des Holzes verständlich zu machen, das getötet und verformt worden war. Schwache Erinnerungen der Bäume an ihre frühere Existenz waren in dem Holz verblieben, was Visyna traurig stimmte. Warum erzeugten die Menschen nur mit allem, was sie berührten, so viel Schmerz?
Rallie nahm einen langen Zug aus ihrer Zigarre und stieß eine gewaltige blaue Rauchwolke aus. »Wenn junge Männer in die Schlacht marschieren, Liebes, ist das niemals richtig. Die Frage ist: Was muss man tun, um es richtig zu machen?«
»Das Imperium muss aus Elfkyna vertrieben werden«, antwortete Visyna schlicht. Sie spürte plötzlich etwas rechts von sich, drehte sich um und sah, wie Jir aus dem Dickicht sprang und sich auf eine kleine Drachenratte stürzte. Erst ertönte ein Quieken, ein Knacken und dann verschwand die Ratte im Maul des Bengar. Sie lächelte über die Freude und Befriedigung, die der Bengar ausstrahlte. »Das Imperium ist hier ein unnatürlicher Räuber.«
Rallie nickte, als würde sie das begreifen. »Verstehe. Sagen Sie mir, welche Verbündeten die Elfkynan dann für ihren Kampf gegen die Schattenherrscherin hätten? Die Orks vielleicht? Sie haben immer Interesse gezeigt, sich nach Süden auszudehnen. Oder vielleicht die Zwerge, vorausgesetzt, sie würden ihnen Schürfrechte gewähren. Oder wie wäre es mit …?«
Visyna schüttelte den Kopf und hob zum Zeichen ihrer Kapitulation die Hände. »Ich habe schon verstanden. Aber Sie begreifen doch sicher, dass das Imperium unmöglich hierbleiben kann? Das hier ist nicht sein Land. Es unterdrückt mein Volk und beutet unsere Ressourcen aus. Und jetzt schicken Sie dieses Regiment aus, um den heiligsten Talisman der Elfkynan zu stehlen. Wie sollen wir weiter mit ihnen zusammenarbeiten?« Angesichts ihrer eigenen Heuchelei spürte Visyna einen bitteren Geschmack im Mund. Sie selbst diente dem Imperium, das sie hasste, genauso wie Konowa es tat. Warum also hielt sie sich für etwas Besseres?
»Wir alle tun Dinge, auf die wir nicht stolz sind, Liebes … Der Schlüssel zur Lösung ist, wie ich bereits erwähnte, die Frage, was man tut, um es richtig zu machen. Und die Antwort darauf«, Rallie beugte sich vor und tätschelte Visynas Knie, »kennen Sie bereits.«
»Sie haben mehr Vertrauen in mich als ich selbst«, erwiderte sie. Auch wenn sie es nur sehr ungern zugab, wusste sie, dass das Imperium, so böse und herzlos es auch sein mochte, der Schattenherrscherin niemals erlauben würde, Einfluss in Elfkyna oder anderswo auf der Welt zu gewinnen. Ebenso würde Konowa alles in seiner Macht Stehende tun, um die Stählernen Elfen zu beschützen. Und sie. Der Gedanke war gleichzeitig tröstend und verwirrend.
Etwas berührte den Rand ihres Bewusstseins, und sie blickte hoch, ließ ihre Sinne nach außen strömen. Es war ein fliegendes Geschöpf, aber was genau, konnte sie nicht sagen.
»Ach du meine Güte, da kommt Wobbly«, erklärte Rallie und deutete mit ihrer Zigarre zum Himmel.
Visyna blickte hoch. Ein schneeweißer Pelikan flatterte mühsam auf sie zu. Er taumelte, als müsste er gegen einen Seitenwind kämpfen, und nahm dann wieder Kurs auf sie. Jir beobachtete ihn fasziniert und hob sein Maul dabei hoch in die Luft.
»Er ist verletzt!«
Rallie schnalzte mit der Zunge, stand auf und blies eine riesige Rauchwolke in die Luft. »Nein, nicht direkt.« Sie setzte sich wieder hin und zog die Kapuze über ihren Kopf. »Ducken Sie sich.«
Der Vogel hatte den Rauchring gesehen und flog jetzt den Planwagen an. Die Soldaten der Kolonne zeigten auf ihn und spotteten, bis ihre Sergeanten sie wieder zur Ordnung riefen.
Rallie spähte unter ihrer Kapuze nach oben in den Himmel. »Ducken!«
Visyna warf sich auf die Bodenbretter des Wagens, als der Pelikan geradewegs auf sie zuflog, nicht abbremste, in einer Wolke von Federn von dem Segeltuch abprallte, in die Luft schnellte und über einen Flügel gekippt kehrtmachte. Jir kauerte sich in das feuchte Gras, während sein Schweif aufgeregt hin und her zuckte. Der Vogel entdeckte den Bengar im Gras, kreischte und schwang sich zurück zum sicheren Planwagen. Seine großen mit Schwimmhäuten bestückten Füße landeten, als würde er versuchen, in der Luft zu laufen. Schließlich schaffte er es auf den Planwagen und krachte in einer weiteren Wolke weißer Federn auf das Segeltuch.
»Das arme Ding«, sagte Visyna, sprang hoch und kletterte hinauf, um dem sicherlich betäubten Vogel zu helfen. Der richtete sich auf und schüttelte den Kopf. Die Haut unter seinem gewaltigen Schnabel flatterte wie ein zusätzlicher Flügel. Er sah sie und öffnete sofort den Schnabel. Darin befand sich ein kleiner zusammengerollter Lederbeutel. Visyna schob vorsichtig die Hand in den Schnabel und zog den Lederbeutel heraus. In dem Moment bemerkte sie den Geruch.
»Rallie, ich glaube, dieser Vogel wurde vergiftet.«
Rallie warf einen Blick über die Schulter und hielt Visyna eine große hölzerne Flasche hin. »Vergiftet, allerdings. Schnell, geben Sie ihm das Gegenmittel.«
Visyna reichte Rallie den Lederbeutel und nahm die Flasche entgegen. Sie schraubte den Verschluss ab und roch an dem Inhalt.
»Das ist Bier!«
Rallie lachte keckernd und nickte. »Genau das, was der Arzt ihm nach all dem Whisky, den er säuft, verordnet hat. Er ist ein fröhlicher Trunkenbold, aber im nüchternen Zustand ist er ein griesgrämiger Federhaufen.«
Der Pelikan hatte seinen Schnabel immer noch weit aufgerissen und kreischte ein wenig, um Visynas Aufmerksamkeit zu erregen. Zögernd kippte sie den Inhalt der Flasche in seinen Schnabel. Der Beutel darunter füllte sich, dann klappte der Pelikan den Schnabel zu und warf den Kopf zurück. Das Bier verschwand mit einem Schluck in seiner Kehle. Zufrieden watschelte er an den Rand des Planwagens und blickte auf den Bengar herunter, der davor auf und ab lief. Der Pelikan klapperte ein paarmal mit dem Schnabel, ging dann wieder in die Mitte des Planwagens, wo er sich mit ausgebreiteten Schwingen fallen ließ und die Augen schloss. Die Sreex knurrten und jaulten unter ihm, aber er achtete nicht auf sie.
»Ist er tot?«, erkundigte sich Visyna, die den Vogel scharf musterte, um zu überprüfen, ob er noch atmete.
Rallie drehte sich nicht einmal herum, sondern beobachtete stattdessen Jir, der von einer großen Schildkröte am Rand der Straße fasziniert war. »Er schläft nur seinen Rausch aus. Der alte Wobbly ist der gerissenste Kurier, den ich jemals gesehen habe. Er hat eine unglaubliche Fähigkeit, alles und jeden zu finden, nach dem er sucht, ganz gleich, wo es auch sein mag. Aber nur, wenn er vorher einen Schnabelvoll zu trinken bekommt.«
Wobbly öffnete einen Moment den Schnabel, und eine Wolke von Gerüchen quoll hervor, gefolgt von einem tiefen, zufriedenen Seufzer. Visyna schraubte die Flasche wieder zu und kroch zurück zum Kutschbock, wo sie sich neben Rallie setzte. Diese hatte die Zügel in ihren Schoß gelegt und las das Pergament, das sie aus dem Lederbeutel genommen hatte.
»Was steht drin?«, erkundigte sich Visyna und sah sicherheitshalber noch einmal über die Schulter zurück. Der Pelikan schnarchte.
Rallie rollte das Pergament zusammen und nahm nachdenklich ein paar Züge von ihrer Zigarre. »Es kommt von meinem Herausgeber in Celwyn. Wir stecken noch viel ärger in der Klemme, als ich es für möglich gehalten hätte, und ich habe eine wahrhaft ausufernde Fantasie.«