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DAS REGIMENT MARSCHIERTE, weil man es ihm befahl, aber es war von Anfang an klar, dass die Soldaten nicht weit kommen würden.
Sie waren geistig und körperlich erschöpft, ein zerfranstes Tau, das sich auflöste, während ein Sturm heraufzog.
Die Soldaten sahen in jedem Schatten Hundespinnen lauern. Es wurden so viele Blätter und Schlingpflanzen von Bajonetten durchbohrt, dass jemand, vermutlich der Zwerg, vorschlug, ihr neuer Spitzname sollte »Die Stählernen Gärtner« lauten. Wütende Rufe antworteten diesem Vorschlag. »Stutzt den Mistkerl!«, schallte es die ganze Kolonne entlang. Die Elfkynan auf den Muraphanten hatten alle Hände voll zu tun, die Tiere unter Kontrolle zu halten, und fuchtelten wie verrückt mit ihren Federn herum. Zweifellos wünschten sie sich, sie hätten etwas Solideres, zum Beispiel ein Stück Holz. Die Soldaten wichen vor den eindeutig aufgeregten Tieren zurück, und die Kolonne kam allmählich zum Stehen. Trotzdem glaubte Konowa, dass sich die Lage bald beruhigen würde, bis er sah, wie Jir ein im Wind flatterndes Blatt angriff. Seine Nackenhaare waren gesträubt, und er grollte drohend.
»Wir werden noch mehr Männer verlieren, wenn wir so weitermachen, Sir«, sagte Konowa schließlich und wartete darauf, dass der Prinz vor Wut explodierte. Zu seiner Überraschung nickte der Prinz jedoch nur. Er war mit seinen Gedanken offensichtlich ganz woanders.
Konowa befahl dem Regiment, ein Lager aufzuschlagen. Der Rest des Nachmittags verging damit, dass die Männer Schlingpflanzen auf einer Fläche von einhundert Metern im Durchmesser zerhackten und sie anschließend in der Mitte des Lagers auf einem großen Scheiterhaufen verbrannten. Als die Dunkelheit hereinbrach, flammten auch am Rand des Lagers mehrere kleine Feuer auf. Heute würde sich kein Faeraug an sie heranschleichen, nicht heute Nacht.
Nachdem sich Konowa überzeugt hatte, dass alles zu seiner Zufriedenheit war, ging er zu dem Zelt, das einige Soldaten für ihn aufgebaut hatten, und kroch hinein. Er nahm den Tschako ab, öffnete den obersten Knopf seiner Uniformjacke und schlief erschöpft ein.
Konowa stand vor einer einzelnen silbernen Wolfseiche in einem Wald. Der Baum erhob sich so hoch über die anderen Bäume, dass er den Kopf in den Nacken legen musste, um seine Spitze sehen zu können. Die Blätter des Baumes schwankten sanft in einer kühlen Brise, während ein runder glühender Mond seine Rinde schimmern ließ.
Zum Teufel!, dachte er. Schon wieder ein verdammter Traum.
Diesmal war er nicht auf der Geburtswiese, sondern befand sich irgendwo mitten im Großwald, und es war Nacht. Er spannte sich an, weil er wusste, dass es von jetzt an nur noch schlimmer werden würde.
Es war nicht einfach gewesen, ein Jahr allein im Wald zu verbringen, nur mit einem Bengar als Gesprächspartner. Ein weniger gefestigter Elf wäre sicher verrückt geworden, wenn er all die Schrecknisse erlebt hätte, denen er sich Nacht um Nacht hatte stellen müssen, sowohl den realen als auch den eingebildeten. Allerdings hätte ein weniger kräftiger Elf vermutlich auch nicht angefangen, die Jäger zu jagen, und sie, während er schlief, abzuschlachten, und das mit einer solchen Macht, dass er morgens oft aufwachte und seine Kehle rau war, weil er seinen Schlachtruf so häufig gebrüllt hatte.
Der Donner ließ die Blätter erzittern, und das Licht des Mondes zuckte über den Waldboden. Ein Lichtstrahl strich über den nächtlichen Himmel und kündigte den heraufziehenden Sturm an. Furcht durchflutete den Wald. Die Bäume schrien auf und erfüllten seinen Verstand mit ihrem Entsetzen. Es war das reine Chaos, so viele laute Stimmen auf einmal zu hören, sodass er voller Verzweiflung jeden Versuch aufgab und sich bemühte, sie auszuschließen.
Dann drang eine neue Stimme in seinen Verstand ein, aber im Unterschied zu den anderen war sie ruhig. Blitze zuckten durch die Dunkelheit, aber die Stimme besänftigte den Strom der anderen Stimmen. Konowa entspannte sich. Erneut betrachtete er die große silberne Wolfseiche vor sich und wusste, dass sie der kleine Schössling von der Geburtswiese war. Wie ist das möglich?, staunte er. Noch während er zusah, breitete sie ihre Zweige wie ein großes Netz über den gesamten Wald aus und beschützte so die kleineren Bäume vor der Wut des Sturms.
Blitze zuckten vom Himmel. Knisternde Schauer von Funken stoben auf, wo ein Blitz eingeschlagen hatte und große Brocken aus der Wolfseiche riss. Sie schwankte, ihre Stimme stockte einen Moment vor Schmerz, doch dann rief sie erneut den Wald um sich herum. Die Bäume antworteten, liehen ihr ihre Kraft, und die Wolfseiche wurde größer und noch stärker, während der Sturm in fruchtloser Wut heulte, als er sich an dem Beschützer des Großwaldes abmühte.
Der Mond erschien wieder, nachdem die letzten Sturmwolken weggezogen waren, und tauchte die silberne Wolfseiche vor Konowa in sein kaltes Licht. Sie stand groß und gerade da, unberührt vom Sturm. Es überlief ihn eiskalt. Das war nicht richtig. Eine Elfe trat hinter dem Baum hervor und streckte ihm ihre Hände entgegen.
»Ist sie nicht wunderschön?«, fragte die Schattenherrscherin. Ihre Augen glühten in schwarzem eisigem Feuer.
Konowa stolperte zurück und riss seinen Blick von ihr los, um die silberne Wolfseiche zu betrachten. Der Baum begann sich zu krümmen, seine silberne Rinde schälte sich ab und enthüllte den zähen schwarzen Eiter darunter. Zweige verdrehten sich, während ihre Blätter raschelten und ihre Ränder sich in rasiermesserscharfe Schneiden verwandelten. Ihre Stimme rief erneut den Wald, aber jetzt klang sie nicht mehr besonnen und sorgend.
»Warum widerstehst du?«, fragte sie und sah liebevoll zu dem verkümmerten Baum zurück. »Ich habe ihn gerettet, und ich kann dich retten.«
Konowa brachte kaum ein Wort heraus. »Begreifst du denn nicht, was du getan hast? Es ist eine Missbildung. Sie sollte zerstört werden.« Er ging weiter zurück, aber ganz gleich, wie schnell er auch lief, die Szenerie vor ihm veränderte sich nicht. Sein Atem bildete Wolken vor seinen Augen, und er begann zu zittern. Die Schattenherrscherin ging langsam auf ihn zu, streckte die Hände nach ihm aus, und an ihren Fingerspitzen loderten kalte, schwarze Flammen.
Ihre Hände kamen näher, und die Flammen loderten bei jedem Schritt höher auf. Konowa griff nach seinem Säbel, stellte jedoch fest, dass seine Hände zu kalt waren, als dass er sie hätte öffnen können. Er blickte wieder zu ihr, als sie sich vorbeugte, um ihn zu berühren …
Er flog hoch über den Baumwipfeln. Es war ein glorreiches, wundervolles Gefühl. Er breitete die Schwingen aus und ließ sich von einem warmen Aufwind höher tragen. Der Wind summte über seinen Federn und verlieh ihm ein luxuriöses Gefühl von Freiheit, als ihm klar wurde, dass er ein Sreex war.
Martimis. Er war Martimis. Es war eine so freudige Überraschung, dass er diese plötzliche Transformation akzeptierte und sich einfach dem Genuss hingab.
Er war frei. Er sah hinunter zum Wald, der bereits zu einem kleinen Punkt zusammenschmolz. Der Wind erfüllte ihn mit einer unvergleichlichen Energie, und er wusste, dass er bis zum Dach des Himmels hätte fliegen können, wenn er es gewollt hätte, und dort zwischen den Sternen seine Bahnen hätte ziehen können. Doch noch während er dies erwog, wurde ihm klar, dass er es nicht tun würde.
Die Antwort steckte im wahrsten Sinne des Wortes in seinem Hals – er brachte die Nachricht von Rallie zu ihrem Herausgeber nach Calahr. Das Bedürfnis, dies zu tun, rief die Frage in ihm wach, ob man ihn dazu zwang. Doch alles, was er spürte, war eine ständige Traurigkeit. Konowa hatte mit diesem Problem ständig zu kämpfen … Aber ein Sreex? Einen solchen Traum hatte er noch nie erlebt. Es kam ihm vor, als würde er tatsächlich fliegen, obwohl er sich vage bewusst war, dass er Hunderte von Meilen entfernt auf dem Boden schlief.
Die Traurigkeit, die Martimis empfand, war sehr stark. Der Instinkt sagte ihm, dass sich die Dinge veränderten. Beutetiere liefen verlockend hinaus ins Freie, als er über sie hinwegflog, aber er würde nicht jagen. Jetzt akzeptierte er nur noch Nahrung von ihr. So war es sicherer.
Dunkle Wolken ballten sich im Osten zusammen, und er schwenkte ab. Er stürzte in einem vollendeten freien Fall durch die Luft, bevor er sich wieder aufrichtete und erneut den warmen Aufwind nutzte, der ihm half, Energie zu sparen. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr und drehte sich um, um hinter sich zu blicken. Ein kalter Schmerz brannte in seiner Brust, der ihm etwas hätte bedeuten sollen, aber er war ein Sreex, und der Schmerz behinderte ihn nicht beim Fliegen, also ignorierte er ihn.
Er schlug mit den Flügeln, hob den Kopf und heulte, ließ das Geräusch durch die Luft hallen. Das war Freiheit. Dieses Gefühl von Leben, das den Wald durchzogen hatte, konnte ihn hier oben nicht erreichen. Er spreizte kurz seine Federn, um den Klang seines eigenen Rufs über seine Haut laufen zu lassen. Er hätte unterwegs Beute finden können, selbst wenn sie so klein wie eine Schwalbe gewesen wäre, aber es gab nichts zu finden. Er war gütiger- und barmherzigerweise allein.
Er nahm wieder seinen alten Kurs auf und flog weiter. Seine Gedanken waren einfach und klar. Rallie sorgte für ihn, beschützte ihn und erlaubte ihm, wenn auch viel zu selten, seine Schwingen auszubreiten und zu fliegen. Also flog er zu dem Ort, zu dem er fliegen musste, öffnete seine Schnauze und ließ den Wind in seiner Kehle heulen. Und sah den Schatten nicht, der sich ihm näherte, einen Schatten aus Klauen, Zähnen und Gier, einen Schatten aus einer kalten, fernen Vergangenheit.
Er war nicht tot, aber manchmal wünschte er, er wäre es, und wenn auch nur, um etwas Ruhe zu finden.
Es rief ihn jede Nacht in seinen Träumen, und obwohl Vizekönig Faltinald Gwyn wusste, dass das nicht möglich war, passierte es.
Es hatte keinen Mund und kein Herz, nicht einmal ein Hirn, und dennoch hörte er die Schreie, und, was wichtiger war, er verstand sie. Nacht um Nacht schrie es, und es gab keine Möglichkeit für ihn, dem zu entkommen, es sei denn, er vernichtete es. Und das würde er niemals tun, denn es war Macht, ungezügelte Macht, und dafür hatte er Verwendung.
Zuerst hatte er die klagenden Rufe ignoriert, nicht geglaubt, dass sie real wären. Dann hatte er den Leichnam eines seiner Lakaien vor seinen Füßen liegen sehen und begriffen, dass es sehr real war. Es zu ignorieren bedeutete, das Unheil in diesem Palast der Hauptstadt von Elfkyna zu beschwören, und es war nicht so leicht, gute Diener zu finden. Also wälzte sich der Vizekönig im Schlaf, gequält von einer Stimme, die nicht existieren sollte.
Die seidenen Laken seines Himmelbettes wickelten sich um seinen Körper. Er sank tiefer in den Schlaf hinab, griff zu einem Trick, den er einmal von einem blinden Wahrsager aufgeschnappt hatte. Er imaginierte eine schwarze Träne vor sich in der Luft und trat hindurch. Dabei bemerkte er, wie sein Herzschlag langsamer wurde. Aber es half nicht. Die Schreie verfolgten ihn gnadenlos. Er schuf Träne um Träne, jede kleiner und dunkler als die davor, bis sein Herz kaum noch schlug, seine Atmung kaum noch wahrzunehmen war; und dennoch folgten ihm die Rufe auf die andere Seite. Er hatte sich noch nie so tief in den Abgrund seines Verstandes gestürzt, was ihn gleichzeitig begeisterte und ihm Furcht einflößte, noch während die klagenden Schreie, die durch das Labyrinth seines Unbewussten hallten, ihn zurückriefen.
Schließlich beugte sich der Vizekönig dem Unausweichlichen und schwamm durch die Dunkelheit seines Verstandes nach oben. Es war ein langsamer, zäher Prozess, aber er war stark, und die Stimme führte ihn wie ein Leuchtfeuer mit unerschütterlicher Zielstrebigkeit. Schließlich wurde er sich seines Körpers bewusst, fühlte, wie sein Herz regelmäßig schlug, wie die Luft durch seine Kehle in seine Lungen strömte, und fand sich wieder in seinem Schlafgemach in seinem Palast. Er setzte sich sofort auf, strich die Laken von seinem nackten Körper und stellte angewidert fest, dass er schweißüberströmt war. Er warf einen vernichtenden Blick durch das Gemach, registrierte das kühle blaue Leuchten etlicher strahlender Edelsteine, die in handgeschmiedete Silberleuchter eingearbeitet waren. Abgesehen davon, dass sie Licht spendeten, sollten sie auch die Temperatur in dem Raum senken, die Luft kühler halten als der stickige Wind, der dieses Land plagte. Der Vizekönig bemerkte erst nach einem Moment, dass sie genau das auch taten. Der Schweiß auf seinem kahlen Schädel und seiner blassen Haut wurde von einer Magie erzeugt, die jenen einfachen Zauber der Edelsteine bei Weitem übertraf.
Es rief ihn schon wieder.
Es war hungrig.
Gwyn glitt aus dem Bett und ging rasch über den kühlen Marmorboden seines Schlafgemachs zu der roten Eichentür in der Steinwand am gegenüberliegenden Ende des Raumes. Er legte die Rechte auf den Messingtürknauf und spürte die Vibrationen der Energie, die im nächsten Raum pulsierte.
Er drehte den Knopf erst nach einigen Sekunden. Dann schritt er in den Raum, als würde er hundert gekrönte Häupter kleinerer Staaten begrüßen, obwohl er nichts weiter trug als den Panzer des selbstgefälligen Glaubens an seine eigene Macht.
Die Luft in dem Raum traf ihn mit fast physischer Wucht. Sie war schwer vor Kälte, und darin verbarg sich etwas noch Eisigeres. In diesem Zimmer gab es keine Laternen oder auch nur schimmernde Edelsteine, und das einzige Fenster war mit eisernen Stangen verrammelt. Dennoch sah er alles ganz klar. Das einzige Objekt, das in der Mitte des Raumes stand, leuchtete in einem silbernen Licht, das es selbst ausstrahlte. Es war das Ding, das ihn in seinen Träumen gejagt hatte und gehört werden wollte.
Der Drachentisch.
Während seiner Laufbahn im diplomatischen Dienst für das Calahrische Imperium hatte der Vizekönig ein gewaltiges Vermögen an Edelsteinen, Gemälden, Schmuck und jeder Art von Wertgegenständen der Eingeborenen angehäuft. Aber dies hier war etwas vollkommen anderes. Dass er den letzten Vizekönig überhaupt gehört hatte, sprach bereits Bände, vor allem jetzt, nachdem dieser Elf von den Toten auferstanden und zu ihrem Emissär berufen worden war. Dieser Tisch war eindeutig weit mehr als einfach nur gedrechseltes Holz.
Er beobachtete ihn vorsichtig. Der Tisch stand stumm da, wie alle Tische das sollten, doch in seinem Verstand rief er ihn mit einer ungeheuerlichen Macht. Das Drachenhaupt aus Blättern schimmerte, und die Klauen seiner geschnitzten Füße krallten sich in den Stein, als wäre dieser eine Beute aus Fleisch und Blut. Den Vizekönig beschlich das beunruhigende Gefühl, als wäre er die Beute, die verfolgt würde.
»Genug!«, schrie er, und die Stimme in seinem Kopf verstummte. Er ging um den Tisch herum, strich mit der Hand über seinen Rand und spürte das Ausmaß seines Verlangens. Wissen. Es sehnte sich nach Information, so wie er nach Macht gierte.
»Wissen ist Macht«, zischte ihr Emissär.
Man musste dem Vizekönig zugutehalten, dass er nur halb so heftig zusammenzuckte wie beim letzten Mal, als ihm ihr Büttel einen Besuch abgestattet hatte. Er riss sich zusammen, so gut er konnte, bedauerte einen Moment, dass er nackt war, drehte sich herum und blickte den schattenhaften Geist seines Besuchers an.
»Eure Salontricks werden allmählich ermüdend«, sagte der Vizekönig und starrte den sich windenden Schatten am anderen Ende des Raumes verächtlich an. »Vielleicht versucht Ihr es demnächst einmal damit anzuklopfen.«
»Sie wird ungeduldig«, antwortete ihr Emissär.
Der Vizekönig spürte, wie er errötete, und stellte überrascht fest, dass seine Furcht dem Ärger wich. »Ich bin kein Ochse, der an einem Nasenring herumgeführt wird. Ich bin der Vizekönig des Großprotektorats von Elfkyna.«
»Das war ich auch.«
Die Schatten, aus denen ihr Emissär bestand, schwebten zum Tisch, glitten darüber hinweg und darum herum. Eine Stimme im Kopf des Vizekönigs kreischte auf, und er taumelte gegen die kalte Steinwand.
»Hört damit auf!«, brüllte er und presste seine Fäuste gegen seine Schläfen, als der Schrei plötzlich zu einem Crescendo anstieg und dann zu einem zufriedenen Murmeln abebbte. Er ließ die Hände sinken und schüttelte den Kopf. Die Schatten zogen sich zu etwas zusammen, das entfernt einem Elf glich, und eines der schwarzen Gliedmaßen streichelte sanft den Rand des Tisches. Es war immer noch kalt, und Gwyn hatte immer noch Angst, aber etwas hatte sich verändert.
»Du wirst sehr bald wieder gefüttert, mein Ryk Faur«, sagte ihr Emissär.
Die Stimme klang wie scharfer Stahl in seinen Ohren, aber dahinter verbarg sich auch der Anflug von etwas anderem. Eine schwächere Person hätte es sofort verstanden, doch der Vizekönig rühmte sich, über dem Bedürfnis nach Zuneigung und anderen Schwächen zu stehen.
»Ihr Ryk Faur?«, fragte er. »Ihr wart ein Elf der Langen Wacht?«
»Narr! Ich bin Dyskara! Ich bin einer der ihren!«
Dem Vizekönig war bis zu diesem Moment nicht klar gewesen, dass die Adlaten der Schattenherrscherin sich ebenfalls mit Wolfseichen verbanden. Das war interessant …
»Ich verstehe nicht. Was ist geschehen?«
Die Schattengestalt antwortete nicht; der Vizekönig fragte sich gerade, ob sie ihn nicht verstanden hatte, und wollte die Frage wiederholen, als sie ihren Kopf zu ihm herumdrehte.
»Sie verlangt Opfer zum Wohle aller …«
Der Vizekönig selbst hatte bei seinen zahllosen Verhandlungen für die Kaiserin des Imperiums, die Königin von Calahr, so etwas Ähnliches gesagt, aber erst jetzt dämmerte ihm, wie eiskalt diese Worte klingen konnten.
Einen Moment lang erwog er, sich von diesem Pfad abzuwenden, als ihm bewusst wurde, dass er Hochverrat begehen würde, sollte er ihn weiter beschreiten. Doch war es wirklich Hochverrat? Als Herrscher des Calahrischen Imperiums würde er eine mächtige Allianz mit der Schattenherrscherin bilden und eine unbesiegbare Macht auf der Welt schaffen. Was er mit dieser Macht bewerkstelligen konnte …
»Sie hat von der Imperialen Armee nichts zu befürchten. Während Eurer Arbeit dort wird keine Hilfe nach Luuguth Jor kommen.«
»Ihr seid rasch mit Behauptungen zur Hand, Vizekönig.«
Die Schatten, aus denen ihr Emissär bestand, glitten über den Tisch. Die Temperatur im Raum sank noch weiter, und schon bald zitterte der Vizekönig heftig.
»Im Unterschied zu Euch habe ich dafür gesorgt, dass sich meinen Plänen nichts in den Weg stellt.«
»Wie zuvor schon ich, habt auch Ihr versäumt, mit ihm zu rechnen.«
»Da irrt Ihr Euch«, erwiderte der Vizekönig und schüttelte den Kopf. »Der Herzog von Harkenhalm wurde bestochen.«
Es war kein Lachen, aber das Geräusch, das durch den Raum hallte, hörte sich so an, vorausgesetzt, Gelächter wäre so scharf wie ein Wurfmesser.
»Füttert es und seht.«
Der Vizekönig war verstimmt. »Was denn, soll ich anfangen, Elfkynan heranzuschleppen, damit es sie töten kann? Welchen Nutzen hätte das?«
»Ihr versteht seine Bedürfnisse nicht.« Plötzlich kratzte etwas an den verrammelten Fenstern. Ihr Emissär hob einen pechschwarzen Arm und deutete darauf. Die eisernen Stangen rissen aus ihren Halterungen und flogen wie Schrapnelle durch den Raum. Das Metall prallte mit schrecklicher Wucht von den Steinwänden ab. Einen Moment später hüpfte etwas Braunes, Haariges in den Raum, das seine großen ledernen Schwingen gefaltet hatte, damit es durch das Fenster passte.
Es war ein Drache, wie ihn der Vizekönig noch nie gesehen hatte. Sein Körper war zu dick, sein Hals zu kurz, seine Schwingen viel zu weit, als dass es eine der Spezies hätte sein können, die dieses Land bevölkerten. Dann verstand er. Der Drache war nicht am falschen Ort, sondern in der falschen Zeit. Er hatte gelebt, als brutale, primitive Wildheit regiert hatte.
Diese Zeit war erneut angebrochen.
Ihr Emissär winkte die geflügelte Kreatur zu sich. Sie gehorchte und sprang auf den Tisch. Der Vizekönig zuckte zusammen, weil er erwartete, dass der Tisch unter dem Gewicht dieses Wesens zusammenbrechen würde. Aber er hielt. Der Drache öffnete sein Maul und ließ einen kleinen Vogel auf den Tisch fallen. Ledrige Federn verteilten sich auf der Platte.
»So füttert Ihr es?«, fragte er und näherte sich verstohlen dem Fenster, durch das wärmere Luft in das Zimmer drang.
»Seht hin!« Ihr Emissär streckte zwei pechschwarze Arme aus, die sich um den Sreex wanden und anfingen, die leblose Gestalt auseinanderzureißen. Widerliches Krachen erfüllte den Raum, während Blut und Fleischbrocken sich über den Tisch verteilten. Der Drache beobachtete den Prozess sehr aufmerksam. Nach einigen Augenblicken lag ein kleiner Zylinder in einer Blutpfütze auf dem Tisch, direkt über dem Maul des Drachen, das dort dargestellt war.
»Was ist das?«, flüsterte der Vizekönig.
Ihr Emissär ignorierte ihn und fegte stattdessen den Kadaver des Sreex auf den Boden. Der Drache stürzte sich sofort auf das blutige Durcheinander, packte die Fleischbrocken mit seinem Maul, warf den Kopf in den Nacken und schluckte sie mit kurzen, ruckartigen Bewegungen. Mit jedem Bissen färbten sich die Decke und die Wände in der Nähe des fressenden Drachen stärker rot.
Der Vizekönig rang nach Luft und kehrte dem Tisch den Rücken zu. Die Röhre war mittlerweile geöffnet und enthüllte im Inneren einen dünnen Streifen Pergament.
»Eine Botschaft?«, erkundigte er sich. Er war dankbar, dass es wenigstens einen Grund für diesen blutigen Albtraum gab, in dem er sich befand.
Statt einer Antwort entrollten pechschwarze Tentakel das Pergament und legten es flach auf den Tisch. Während der Drache weiterfraß, trat der Vizekönig an den Tisch und blickte darauf. Die Schrift auf dem Pergament bestand nur aus Strichen und Punkten.
»Sie ist verschlüsselt«, sagte er. Zum ersten Mal in dieser Nacht hatte er das Gefühl, die Situation zu kontrollieren. »Ich habe eine Zeit im Schwarzen Raum verbracht, als ich meine Karriere im Diplomatischen Korps begonnen habe«, erklärte er. Dieses Schattending vor ihm hatte ebenfalls einmal für den Königlichen Kryptologischen Dienst Codes geknackt. Er beugte sich vor, um das Pergament genauer zu betrachten. »Ich erkenne das Muster – es ist ein Liniencode, der eigentlich ganz einfach zu entschlüsseln ist. Es überrascht mich, dass Ihr meine Hilfe dafür braucht.«
Ihr Emissär fauchte. Der Drache hob den Kopf und starrte den Vizekönig mit einem blutunterlaufenen Auge an, bevor er seine Mahlzeit fortsetzte.
»Die Botschaft interessiert Uns nicht.« Die Temperatur in dem Raum sank noch weiter.
Der Vizekönig gab seine Verstellung auf und schlang die Arme um seinen Körper. Jetzt half nicht einmal mehr die warme Luft, die durch das Fenster hereinwehte. Sein Atem bildete vor ihm Wolken, und er wusste, dass er den Raum bald verlassen musste oder auf die absurdeste Weise in diesem schwülen, erstickend heißen Land sterben würde, nämlich durch Erfrieren. Er hatte sich gerade entschlossen, zur Tür zu rennen, als die Platte des Drachentisches zu schimmern begann und das Pergament in seiner Oberfläche verschwand. Der Vizekönig blinzelte und starrte erneut dorthin. Das solide Holz veränderte sich vor seinen Augen, und er blickte plötzlich in einen klaren blauen Himmel.
Er vergaß die Kälte und beugte sich über den Tisch. Es fühlte sich an, als würde er sich über den Rand einer Klippe neigen.
Sein Blickwinkel war der eines geflügelten Wesens. Er erkannte sofort die Ebene von Qundi, wo die verfilzte Masse von Schlingpflanzen in einer Hitze schimmerte, die er sich in diesem Moment nicht vorstellen konnte. Während er hinabsah, bemerkte er ein Regiment, das über die Ebene marschierte. Es bildete eine schwarze Linie durch die grüne Vegetation. Der Anblick verblasste und wurde von einem nächtlichen Bild ersetzt, das das gleiche Regiment jetzt in einem Lager zeigte. Die Bilder erschienen in dem Holz, und der Vizekönig sah den Angriff von Faeraugs, den verzweifelten Kampf und sogar den Streifen Pergament, der in den Rachen des Sreex geworfen wurde, dessen Leib jetzt im Magen des Drachen ruhte, kaum zwei Meter von ihm entfernt.
Er sah alles.
»Benutzt es gut, und beschützt es vor Schaden«, sagte ihr Emissär. Eine kalte Brise pfiff durch den Raum, dann war das Wesen verschwunden.
Doch der Vizekönig bemerkte es kaum. Er umklammerte den Rand des Tisches und nahm das eisige Brennen in seinen Handflächen in Kauf.
»Zeig mir mehr!«