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JAULEN UND SCHREIE ertönten von allen Seiten, als sich Rakkes aus dem Wald auf die Soldaten stürzten.
Der Angriff kam so plötzlich, dass Alwyn nicht einmal mehr Zeit hatte, Angst zu empfinden. Er zog den Korken aus der Mündung seiner Muskete, riss das Öltuch vom Schloss, spannte den Hammer und feuerte, und das alles in einer einzigen flüssigen Bewegung. Zu seiner Verblüffung funktionierte die Muskete. Der Schaft schlug beruhigend gegen seine Schulter. Eine dicke Wolke von Rauch und Funken blühte vor ihm auf, als die Kugel der Muskete vierzig Meter weit flog und direkt im Magen eines Rakke landete. Er hatte keine Zeit, lange zu beobachten, ob das Geschöpf wieder aufstand, während er hastig neu lud. Andere Musketen feuerten ebenfalls, und vor ihm gellten Schreie. Das unverkennbare Dröhnen zweier fast gleichzeitiger Detonationen sagte ihm, dass Yimt seine Armbrust abgeschossen hatte.
»Aufschließen! Aufschließen!«
Inkermon rannte an ihm vorbei zur Front; er hatte seinen Tschako verloren, und seine Augen waren weit aufgerissen. »Das Ende ist da! Das Ende ist da!«
Alwyn riss mit den Zähnen die Kartusche auf und streute das Pulver in die Mündung, wobei er sich fast an dem Bajonett verletzt hätte. Teeter stellte sich ruhig neben ihn. Seine Muskete war bereits neu geladen.
»Warte, bis sie näher kommen; es gibt einfach zu viele Bäume.«
Alwyn blickte hoch und sah, was Teeter meinte. Die Rakkes verständigten sich kreischend miteinander, während sie hinter Baumstämmen Deckung suchten. Die erste Salve hatte sie ganz offensichtlich überrascht. Alwyn hatte seine Muskete geladen und setzte sie jetzt wieder an.
»Was machen die da?«, erkundigte er sich und schwang seine Muskete bei dem Versuch hin und her, den Kopf einer dieser Kreaturen ins Visier zu bekommen. Wie schon das Rakke, das Yimt und er im Lager getötet hatten, trugen auch diese hier Reste von Kleidung. Im Unterschied zum ersten Rakke jedoch schienen diese hier außerdem mit Prügeln bewaffnet zu sein. Statt einfach blindlings voranzustürmen, brüllten sie und hämmerten mit ihren Prügeln gegen die Bäume. Das erzeugte einen schrecklichen Krach und löste dadurch einen Schauer von feuchten Blättern aus, die um sie herum zu Boden fielen.
Buuko, Alik und Scolly kamen über den Pfad zu ihnen gelaufen. Alik umklammerte seinen Stab mit beiden Händen und sah sich hektisch um. Er hatte eindeutig Angst, was Alwyn ihm nicht verdenken konnte. Es wäre jedem, der nur einen Strumpf trug und lediglich mit einem Stock bewaffnet war, schwergefallen, tapfer zu sein.
»Warum greifen sie nicht an?«, erkundigte sich Alik und zuckte zusammen, als ein anderes Rakke schrie und Scolly auf das Wesen feuerte. Es krachte, und Rinde splitterte von dem Baumstamm daneben ab. Das Rakke brüllte, rannte ein paar Schritte vor und fletschte die Reißzähne.
»Da haben wir ihm aber gezeigt, wer der Chef ist, was?«, fragte Buuko triumphierend, während er zielte und dem Rakke in den Mund schoss. Der Hinterkopf der Kreatur verschwand in einem Nebel aus Blut und Knochensplittern; sie brach auf dem Boden zusammen und rührte sich nicht mehr. »Ihr hättet ausgestorben bleiben sollen, ihr Dummköpfe!«
»Schafft eure Ärsche hierher, sofort!«, schrie Yimt ihnen zu und schwenkte seine Armbrust. Der Rest der Patrouille, unter ihnen Ah’kop, hatte sich um den Zwerg gruppiert, dreißig Meter weiter den Pfad entlang.
Alwyn nahm seine Hand vom Abzug und hob Quppys Käfig vom Boden auf. Die Blätter fielen so dicht von den Bäumen, dass er kaum sehen konnte, was die Rakkes taten. Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung und hielt inne, die Hand unmittelbar über dem Käfig. Er sah hoch. Etwas Dunkles glitt rasch hinter einen Baum.
Es war kein Rakke.
»Schnell, Alwyn, wir müssen los!«, sagte Alik und zerrte an seinem Arm, während die anderen bereits über den Pfad zu Yimt liefen. »Beeil …« Ein Zischen und ein dumpfer Aufprall unterbrachen ihn, dann herrschte Stille.
Alwyn blickte beunruhigt hoch. Alik starrte ihn an, die Augen vor Überraschung weit aufgerissen. Ein dünner schwarzer Pfeil ragte aus seinem Hals. Er öffnete und schloss einige Male den Mund, dann sackte er zusammen. Alwyn griff nach ihm, als weitere Pfeile durch die Luft sirrten. Buuko schrie auf. Eine Muskete feuerte, dann noch eine. Etwas flog dicht an Alwyns Gesicht vorbei. Er stolperte, fiel über Quppys Käfig und zertrümmerte das Holz, während der Sreex heulte und heftig mit den Flügeln schlug. Aliks Leichnam fiel auf Alwyn und hielt ihn am Boden fest.
Er hörte Schreie, das Geräusch von schnellen Schritten, das Rascheln von Blättern um ihn herum und selten den Schuss einer Muskete. Alwyn versuchte mit allen Kräften, Aliks Leichnam wegzuschieben und an seine Muskete zu kommen. Er sah einen anderen Soldaten zu Boden stürzen; er blieb liegen und zuckte mit den Beinen. Ein schwarzer Pfeil ragte aus seinem Rücken. Aber Alwyn konnte nicht erkennen, um wen es sich handelte.
Schließlich gelang es ihm, Alik zur Seite zu schieben. Er griff gerade nach seiner Muskete, als ein Rakke sie mit einem großen Holzknüppel in Stücke schlug. Alwyn schrie auf und rollte sich hastig in die andere Richtung, Bruchteile von Sekunden, bevor der Prügel die Stelle traf, an der er eben noch gelegen hatte. Er erhob sich auf Hände und Knie und kroch den Pfad entlang in Richtung der Schüsse. Wenn er es bis zu Yimt schaffte, war er gerettet. Er sah die Muskete neben Buukos Leiche, stürzte sich auf die Waffe, schwang sie herum und zielte auf das Rakke, das auf ihn zuhumpelte. Er drückte ab und betete, dass die Muskete geladen war.
Das Pulver entzündete sich, und das Rakke stürzte lautlos zu Boden. Der Prügel glitt ihm aus den Klauen.
Zwei weitere Rakkes erschienen zwischen den Bäumen und schnitten ihm den Weg zu Yimt und dem Rest der Patrouille ab. Sie schienen zu wittern, dass die Muskete nicht geladen war, und griffen ihn an. Ihre milchig weißen Augen traten hervor.
In dem Moment tauchte Kritton auf, in einer Hand eine Muskete und in der anderen eine Klinge.
»Schießen Sie auf sie!«, schrie Alwyn und deutete auf die Rakkes.
Die Kreaturen hielten inne und drehten sich herum. Kritton stand regungslos da und starrte Alwyn an. Eines der Rakkes machte einen Schritt auf den Elf zu, und Kritton drehte sich einfach herum und rannte davon.
Alwyns lähmende Furcht verwandelte sich schlagartig in glühende Wut. »Du verfluchter Feigling!«, schrie er und erschreckte mit seiner lauten Stimme die Rakkes, die nur ein paar Meter von ihm entfernt standen. Die Kreaturen brüllten und drehten sich wieder zu Alwyn herum. Erst nachdem Kritton verschwunden war, wurde Alwyn klar, dass die Klinge in seiner Hand ein Drukar gewesen war.
Yimt. Eine Schussverletzung hätte nicht mehr schmerzen können.
Jetzt spielte nichts mehr eine Rolle. Alwyn erhob sich, schrie und stürzte sich auf das nächste Rakke, rammte ihm das Bajonett tief in die Brust. Die Kreatur brach zusammen, wobei ihm die Muskete aus den Händen gerissen wurde. Alwyn starrte auf seine bloßen Hände. Jetzt stand er einem Rakke gegenüber, mit nichts anderem bewaffnet als seiner nackten Angst. Da ihm jetzt alles gleichgültig war, stürmte er vor, stellte einen Fuß auf die Brust des sterbenden Rakke, packte die Muskete und zog. Sie glitt mit einem widerwärtigen knirschenden Geräusch heraus. Er richtete sie auf das zweite Rakke und sah, dass das Bajonett verbogen war. Ihm blieb keine Zeit, die Waffe neu zu laden, also drehte er die Muskete herum, packte sie an der Mündung und schwang sie wie einen Prügel.
Das zweite Rakke blieb stehen, drehte sich um und sah über seine Schulter. Alwyn folgte seinem Blick. Er erwartete, einen grinsenden Kritton zu sehen.
Tatsächlich stand ein Elf zwischen zwei Bäumen. Aber sein Gesicht war grau und faltig wie ein vom Wind gezeichneter Felsen. Zuerst dachte Alwyn, auch ihm fehlte die linke Ohrspitze, doch dann sah er, dass sie da war. Sie war einfach nur pechschwarz, so wie die beiden feuchten schwarzen Augen, die ihn anstarrten, ohne zu blinzeln, und die Wärme aus seinem Körper zu ziehen schienen.
Alwyn erschauerte, als ihm klar wurde, dass dieses Wesen keine Augenlider hatte. Die Augen mussten immer offen bleiben.
Die Kreatur wirkte vollkommen verkrüppelt, als hätte eine gigantische Hand sie zerfetzt und dann neu zusammengesetzt. Sie trug ein Gewand aus sich überlappenden Blättern und einem öligen Pelz, das von dünnen stahlfarbenen Schlingpflanzen zusammengehalten wurde, die sich um seine Gliedmaßen schlangen. Knorrige Hände mit Fingern wie schwarze Spinnenbeine hielten einen großen geschwungenen Langbogen, der, was vollkommen unmöglich war, aus Eisen zu bestehen schien.
Der dämonische Elf spannte den Bogen, ohne den Blick von Alwyn zu lösen. Ein Geräusch wie Stahl auf Schiefer drang an seine Ohren, als der Bogen bis an seine Grenze gespannt wurde. Ein dünner schwarzer Pfeil war aufgelegt. Das Wesen drehte leicht den Kopf und zielte über den Schaft des Pfeils auf Alwyn.
Alwyn sprang vor. Er hörte einen metallischen Knall, ein Pfeifen und das Krachen, als der Pfeil den Schaft der Muskete traf. Sie flog Alwyn aus den gefühllosen Händen, als etwas Eiskaltes ihn in die Brust stach. Er stolperte und fiel auf die Knie. Alwyn griff mit einer Hand hoch und umfasste den Teil des Pfeils, der aus seinem Körper herausragte. Es fühlte sich an, als versuchte er, Feuer zu halten. Er begann heftig zu zittern. Seine Hand sank herunter. Ein Streifen Haut blieb an dem Pfeil kleben, aber er spürte keine Schmerzen mehr.
Das Rakke schien zu spüren, dass dies ein günstiger Moment war, stürzte vor und schleuderte Alwyn auf den Rücken. Er blickte hoch in das schwankende, schaukelnde Blätterdach. Immer noch fielen Blätter wie Schneeflocken herunter und zeigten dabei beide Seiten: hell, dunkel, hell, dunkel, hell, dunkel.
Das Rakke stand über ihm und hob den Prügel hoch über den Kopf. Alwyn versuchte sich aufzurappeln, aber er hatte keine Kraft mehr. Ihm war so kalt.
Das Rakke hob den Kopf und schrie. Es war ein grausiger, triumphierender Schrei. Dann senkte es den Kopf, um zuzuschlagen, als Alwyn aus dem Augenwinkel eine schnelle Bewegung bemerkte.
Im nächsten Moment fiel das Rakke in zwei Teile zerhackt auseinander. Ein Schatten stand darüber, ein Langschwert lässig in den Händen. Ein Umhang aus mitternachtsschwarzem Tuch umhüllte diesen so vollständig, dass Alwyn Schwierigkeiten hatte, seinen Blick darauf gerichtet zu halten. Trotzdem wusste er, wer sein Retter war.
»Danke, Meri«, murmelte er, schloss die Augen und überließ sich der Kälte.