49

»MAJOR, DA! «, SCHRIE Lorian und deutete auf den Spalt.

Eine Gruppe von vier Elfkynan ging gerade hindurch, langsam und gemessenen Schrittes. Sie trugen leuchtend rote Roben und hohe weiße Hüte, die mehr als dreißig Zentimeter über ihren Köpfen spitz zuliefen. In der Mitte jedes Hutes saß ein glänzender blauer Edelstein, der in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne funkelte. Sie alle hatten große Gehstöcke aus einem dunkelbraunen Holz in der Hand, um die sich grüne Schlingpflanzen wanden.

»Schamanen«, sagte Lorian beinahe empört. »Diese armen Schweine haben ihre Leben weggeworfen, weil sie glaubten, dass diese Schamanen sie vor den Musketenkugeln beschützen könnten.«

»Urteilen Sie nicht zu voreilig«, erwiderte Konowa und zitierte das alte Axiom seines Vaters. Er beobachtete die Schamanen, suchte nach irgendwelchen besonderen Gesten oder Beschwörungen, aber ihnen war nicht anzumerken, dass sie sich mitten in einer Schlacht befanden oder auch nur in Gefahr schwebten. Zaubermeister bereiteten Konowa immer Unbehagen.

Den vier Schamanen folgte eine Gruppe von dreißig Elfkynan-Kriegern, die in dunkelblaue Roben gekleidet und mit Speeren bewaffnet waren. Sie traten zwischen die Bäume und bildeten einen Kreis um die Hexer.

Konowa erweiterte seine Sinne und stieß auf etwas unglaublich Vibrierendes und Warmes. Das Gefühl war so natürlich und friedfertig, dass es ihm den Atem nahm. Im selben Moment drehten sich die vier rotgewandeten Gestalten wie ein Mann um und sahen in seine Richtung.

»Magie, das ist richtig … «, stieß er aus und musste sich an Lorian festhalten, damit er nicht umfiel. Das Gefühl erinnerte ihn an die Ruhe, die er gespürt hatte, als Visyna zuvor ihre Magie gewoben hatte. Und jetzt wurden nicht etwa die Stimmen des Lebens zum Verstummen gebracht, sondern er verspürte eine komplexe Harmonie, die einen einfachen, wundervollen Sinn ergab.

»Major, geht es Ihnen gut? Major?«

Konowa wollte antworten, aber er brachte kein einziges Wort über die Lippen. Die vier Schamanen starrten ihn weiterhin an, mit gelassenen Mienen und offenkundig entspannt.

»Sie haben ihn verzaubert«, murmelte Lorian, trat von Konowa weg und schrie sofort Befehle. »Löscht diese Schamanen aus! Erste Reihe, Salve … Feuer!«

Die meisten Soldaten hatten noch nicht die Zeit gehabt nachzuladen, aber zwanzig waren bereits fertig. Über eine Entfernung von weniger als hundert Metern konnten sie ihre Ziele unmöglich verfehlen.

Das Knallen der Musketen klang irgendwie weit entfernt. Konowa wusste, dass er sich eigentlich darum kümmern musste, aber er hatte Schwierigkeiten, das auch zu tun. Er machte Anstalten, auf den Kreis von Elfkynan zuzugehen, stieß dann keuchend die Luft aus und hatte das Gefühl, als wäre er durch das Eis auf einem zugefrorenen See gebrochen. Im selben Moment kam er wieder zur Besinnung und spürte die bitterkalte Eichel an seiner Brust. Die Luft vor dem Kreis aus blau gekleideten Kriegern schimmerte einmal kurz und wurde dann wieder klar. Keiner von ihnen war gefallen. Seine Silberjacken hatten vorbeigeschossen. Von der Festung hallten laute Befehle herunter. Die Haubitze dort oben knallte, und ihre Mündung war beinahe gerade nach oben gerichtet, als die Kanoniere versuchten, eine Granate in den Kreis zu feuern. Das Geschoss stieg hoch in die Luft, sank dann gefährlich dicht vor den Stählernen Elfen am Fluss herab. Es explodierte harmlos auf freiem Gelände und verteilte rot glühende Metallsplitter in der Luft.

Dennoch schienen die Elfkynan der Meinung zu sein, es wäre Zeit, einen sichereren Ort zu suchen, näherten sich dem Schutzring der Schamanen und glitten durch den Ring aus blau gekleideten Kriegern. Als immer mehr Elfkynan in den Kreis traten, weiteten die Krieger ihn aus, bis mehr als eintausend Elfkynan ihre Schamanen umringten. Schließlich befanden sich in dem Kreis alle, die noch laufen konnten. Die Sillra-Sillra-Rufe wurden wieder lauter, als sie den Stern anriefen, sich endlich zu zeigen.

Die Stählernen Elfen sahen zu Konowa hinüber und warteten. So etwas wie dies hier hatten sie noch nie erlebt. Ihre Werkzeuge waren Musketen und Bajonette; sie waren erprobt, hatten sich bewährt, und dennoch hatten sie vor ihren Augen versagt. Dieses Gefühl war besonders beunruhigend, weil die Nacht nahte. Zwei Silberjacken trauten ihren Augen nicht und feuerten ohne Befehl. Beide Male schimmerte die Luft um den Kreis herum auf, und kein einziger Elfkyna wurde verletzt. Einer der Soldaten in der Schlachtreihe lachte; ein Gefühl, dass Konowa nur zu gut nachvollziehen konnte. Noch vor Minuten waren die Elfkynan in Scharen niedergemacht worden, und die Schamanen hatten nichts getan, um es zu verhindern. Jetzt standen sie wie auf dem Silbertablett, waren von den Stählernen Elfen umringt und schienen plötzlich unverletzlich zu sein.

Fackeln und Laternen flammten auf, als die letzten Sonnenstrahlen erloschen. Das Regiment wurde unruhig, und Konowa wusste, dass Prinz Tykkin außer sich vor Wut sein und sich fragen würde, warum Konowa keinen Angriff befohlen hatte, um die Elfkynan auszulöschen. Schimmernde Luft hin oder her, irgendetwas würde das Tableau auflösen müssen.

Die Kälte in Konowa sagte ihm, dass genau das jetzt passieren würde.

Es fing mit den Bäumen an. Als die Sonne hinter dem Horizont versank, hatten die Schatten ihre volle Länge erreicht. Sie wirkten wie dunkle, verzerrte Flecken auf dem Boden. Überall, wo sie die Erde bedeckten, bildete sich Frost. Das Gras verwelkte unter dem Gewicht der schwarzen Kristalle, die im Dämmerlicht funkelten.

Plötzlich brach die Erde zwischen den Bäumen mit einem widerlichen Geräusch auseinander und warf sich auf, als ekelhaft weiße Wurzeln sich gen Himmel reckten und die zahlreichen Leichen der Elfkynan auf dem Schlachtfeld aufspießten. Rotes Blut wurde schwarz, als die Wurzeln rasend schnell zu neuen Bäumen heranwuchsen. Die Äste und Zweige streckten sich aus wie vielfingrige Hände, während sie versuchten, mit den anderen Sarka Har Kontakt herzustellen.

Konowa schwankte im Sattel, als die Gier der Bäume über ihn hinwegspülte. Wut durchfuhr ihn, das unstillbare Bedürfnis, sie alle zu zerstören, damit sie ihn in Frieden ließen. Die Verwirrung der Welt, so wie er sie kannte, dieses anhaltende Summen des Lebens unmittelbar unter der Schwelle des Verstehens, das ihn ständig zu überwältigen drohte, kam ihm jetzt plötzlich einfach und ganz wundervoll vor.

Eine Muskete feuerte, und die Kugel schlug in einem Baum ein, ohne Wirkung zu zeigen. Die Haubitze in der Festung dröhnte ebenfalls, schleuderte eine zischende Kanonenkugel hoch in die Luft, deren Pfad man leicht an dem Funkenschweif verfolgen konnte, den sie am Himmel hinterließ. Die Mannschaft der Kanone zielte besser, denn die Kugel landete links von den Bäumen am Rand des Platzes. Sie detonierte beim Aufprall, und sowohl Bäume als Feinde wurden von der Explosion vernichtet. Aber es waren nicht annähernd genug.

»Feuer einstellen!«, schrie Konowa, während sich seine Gedanken überschlugen. Zwindarra warf den Kopf hoch und scharrte nervös mit einem Huf, reagierte jedoch immer noch auf Konowas Befehle.

Die eingekreisten Elfkynan wurden immer aufgeregter; ihre Sillra-Rufe verstummten allmählich, als sie die Vernichtung ihrer Brüder mit ansahen. Die vier Schamanen in ihrer Mitte standen Rücken an Rücken, hatten die Augen geschlossen, umklammerten ihre Stäbe und sangen leise. Konowa erwartete, ein helles Licht zu sehen, ein Schimmern, irgendetwas, aber obwohl die Zaubermeister weitersangen, schien nichts zu passieren.

»Major, da drüben! «, schrie Lorian und riss sein Pferd am Zügel zurück, als es sich auf bäumte und vor Furcht wieherte.

Konowa fuhr im Sattel herum, aber er musste nicht hinsehen, er hatte es bereits gespürt.

Graue, ungelenke Schatten krochen aus dem Wasser. Die Kreaturen waren etwa mannsgroß, ihre Köpfe stumpfe, augenlose Höcker mit runden Mündern, in denen mehrere Reihen kleiner, spitzer Zähne blitzten. Sie besaßen keinen Hals, aber einen schuppigen röhrenförmigen Körper, der mit Dornen gespickt war, und sie schienen auf vier Beinen zu gehen.

Sie waren die riesigen Vorfahren der Bara Jogg, die in dem Fluss lebten.

Sie kamen langsam voran, denn ihr Wechsel vom Wasser zum Land war nicht einfach. Konowa warf einen Blick auf die Elfkynan, um sich zu überzeugen, dass sie nicht insgeheim einen Angriff vorbereiteten, und trieb Zwindarra dann dichter an den Fluss.

Als er näher herankam, wurde ihm der Grund für den merkwürdigen Gang der Kreaturen klar. Was er für Beine gehalten hatte, waren nur vier große Dornen, die versuchten, Halt auf dem Boden zu finden. Damit krochen sie die Böschung hinauf, auf die Stählernen Elfen zu.

Konowas Gedanken überschlugen sich immer noch, als ihm sich ein vertrauter und höchst unwillkommener Anblick aufdrängte. Rakkes tauchten zwischen den Bäumen auf; ihre hünenhaften Gestalten wurden von den Schatten fast verborgen, bis auf das Glühen ihrer milchig weißen Augen. Sie begannen zu grollen, schlugen sich an die Brust, steigerten sich in eine wahre Blutgier. Konowa vermutete, dass sie noch eine, höchstens zwei Minuten Zeit hatten.

»Major?«

»Es ist sinnlos, jetzt noch zu versuchen, den Fluss zu halten. Wir sollten die Männer so schnell wie möglich zur Festung bringen. Sie müssen sie unter Kontrolle halten; wir ziehen uns langsam und geordnet zurück. Keine Kämpfe, keine Heldentaten, und das meine ich ernst.«

Lorian nickte. Diese Geste war in der Dunkelheit verschwendet. »Aber da sind noch die Elfkynan zwischen uns und der Festung. Wie wollen wir an ihnen vorbeikommen, wenn wir diese Monster in Schach halten müssen?«

»Ich glaube nicht, dass wir uns wegen der Elfkynan in der nächsten Zeit Gedanken machen müssen«, erwiderte Konowa. Die Eingeborenen waren ganz offensichtlich vom Anblick dieser neuen Monster entsetzt, die zum Leben erweckt worden waren, und machten keinerlei Anstalten, einen Angriff zu versuchen. Die Stählernen Elfen waren zweifellos von diesem Spektakel ebenfalls beunruhigt, aber ihre Disziplin würde sie zusammenhalten, während andere längst weggelaufen wären. Disziplin und ein Gelübde.

»Sehr gut, Sir«, antwortete Lorian und setzte sich in dem elfkynischen Sattel zurecht, der ihm ein bisschen zu klein zu sein schien.

Die Haubitze in der Festung feuerte erneut, und die Granate landete nur ein paar Meter von der Stelle entfernt, an der die vorige eingeschlagen war. Statt zu explodieren, prallte dieses Geschoss jedoch vom Boden ab, da die Erde innerhalb des Ringes von Bäumen steinhart gefroren war; die Zündschnur brannte noch. Ein Soldat sprang aus der Reihe heraus und rannte darauf zu. Er bückte sich, machte sich an der Zündschnur zu schaffen und versuchte offensichtlich, sie herausziehen. Nach zwei gescheiterten Versuchen hob der Soldat die Granate einfach auf und schleuderte sie zwischen die Bäume, wo sie eine Sekunde später explodierte. Konowa musste nicht das Gesicht des Soldaten sehen, um zu wissen, wer es war. Nur einer war in der Lage, eine Kanonenkugel überhaupt hochzuheben, geschweige denn, sie zu werfen.

»Wenn er ein bisschen kleiner wäre, würde Soldat Vulhber einen großartigen Kavalleristen abgeben«, meinte Lorian. Seine Stimme klang erleichtert und stolz.

»Regiment, Musketen laden!«, schrie Konowa und galoppierte mit Zwindarra zur vordersten Schlachtreihe der Soldaten am Ufer des Flusses. Die Soldaten gehorchten und luden ihre Musketen gleichzeitig. Die Ladestöcke klapperten.

»Regiment, Bajonette aufpflanzen!« Der scharfe Klang von Stahl auf Stahl hallte durch die kalte Luft, und Konowa lächelte, als er dieses vertraute Lied hörte. Er würde diese Männer in die Sicherheit der Festung bringen, ganz gleich, welcher schwarze Schrecken sich ihnen in den Weg stellte.

»Was ist mit den Kanonen?«, erkundigte sich Lorian und deutete mit seiner Hellebarde auf die Geschütze an den beiden Enden der Schlachtreihe.

Konowa spie aus. »Wir müssen sie zurücklassen. Die Kanoniere sollen Kartätschen auf diese Dinger feuern, die aus dem Wasser kriechen, und dann noch ein paar Schuss in die Bäume jagen. Dann sollen sie verschwinden. Die Haubitze in der Festung muss genügen.«

Lorian galoppierte davon, um den Befehl weiterzugeben. Konowa sah ihm nach und überlegte rasch. Sie mussten fast dreihundert Meter zurücklegen, um die Festung zu erreichen. Normalerweise war das ein Marsch von etwa drei Minuten.

Konowa stellte sich mit den Fußballen in die Steigbügel. »Die Kanonen feuern auf meinen Befehl … Feuer!«

Ein Blitz erhellte die Nacht, als Funken aus den Mündungen der beiden Fünfpfünder sprühten und zweihundert Musketenkugeln über die Uferböschung verteilten. Die riesigen Bara Jogg wurden zerfetzt; ihre Schuppen hatten der Wucht der Kartätschen nichts entgegenzusetzen. Die anderen Bara Jogg, die dabei waren, aus dem Wasser zu kriechen, machten sich über die Reste ihrer Artgenossen her. Konowa war davon überzeugt, dass niemand trödeln würde, nachdem er das gesehen hatte.

Die Kanoniere drehten ihre Kanonen bereits herum, um auf die Bäume zu zielen, die dem Regiment am nächsten waren. Feuchte Schwämme löschten zischend die restlichen Funken in dem Rohr, bevor die nächste Pulverladung hineingerammt wurde. Das hörte sich in der kühlen Nachtluft überraschend laut an, ebenso wie das Geheul der Rakkes, von denen sich einige taumelnd in Marsch setzen.

»Die Kanonen feuern auf meinen Befehl … Feuer!«

Die Kanoniere hielten mit einem Metallstock die brennende Lunte an das Pulverloch am Ende der Kanonen. Die Flammen entzündeten die Ladung. Die Wucht der Explosion war so groß, dass die Kanonen auf ihren Rädern zurückrollten. Jede feuerte eine Kanonenkugel in die Bäume.

Die Wucht des Aufpralls riss verschiedene Bäume aus dem Boden und jagte stählerne Splitter in die Rakkes, die in der Nähe waren. Diese Splitter töteten sie ebenso wirkungsvoll wie eine Musketenkugel, und die Wirkung reichte, um die anderen einen Augenblick zurückzutreiben. Genau darauf hatte Konowa gewartet.

»Auf meinen Befehl bildet das Regiment ein Karree und bereitet sich auf den Marsch vor. Regiment … Karree bilden!«

Auf einem Exerzierplatz bei Tageslicht konnte ein gut ausgebildetes Regiment dieses Manöver spielend leicht durchführen. Aber dies hier war kein Exerzierplatz, es war Nacht, und zudem hatten die Stählernen Elfen fast keine Zeit gehabt zu exerzieren. Zu allem Überfluss brüllten um sie herum Kreaturen, die Albträumen entsprungen zu sein schienen.

Lorians Stimme übertönte den Lärm, und seine Befehle wurden ebenso laut von Sergeanten und Korporalen weitergegeben, die ihre Männer antrieben. Konowa lenkte Zwindarra zu den Kanonieren an dem Geschütz in der Nähe des Spaltes, während Lorian zu den anderen ritt. Sie brüllten die Soldaten an, sich zu beeilen. Einen Augenblick später rannten die Geschützbesatzungen auf sie zu; jeder von ihnen rollte ein Rad der Lafetten vor sich her. Konowa drehte sich im Sattel herum, als er versuchte, sowohl die Bäume als auch den Fluss im Auge zu behalten.

Wohin er auch blickte, sah er Bedrohungen. Wohin seine Sinne sich auch vortasteten, fühlte er die Bösartigkeit und die Gier; er wusste, dass es keine Verhandlungen geben würde, keine Möglichkeit zum Rückzug, es gab nur Leben oder Sterben.

Als schließlich der letzte Mann seinen Platz in dem Karree eingenommen hatte, ritten Konowa und Lorian hinein, und die Stählernen Elfen umringten sie.

Ein Karree wurde normalerweise als Verteidigung gegen eine angreifende Kavallerieschwadron gebildet. Es erlaubte der Infanterie letztlich, eine winzige Festung mit einer Rundumverteidigung zu bilden. Ihre Bajonette waren eine blinkende Blockade, ihre Musketen tödliche Geschütze; das Wichtigste aber war das Gefühl von Sicherheit, das dadurch entstand, Schulter an Schulter mit anderen Kameraden zu stehen. Ein Karree war nur so lange stark, wie alle vier Seiten hielten. Eine einzige Bresche konnte eine Katastrophe herbeiführen.

Die großen Bara Jogg hatten ihren unerwarteten Imbiss beendet und krochen jetzt zuckend die Uferböschung herauf. Ihre mit Zähnen gespickten Mäuler öffneten und schlossen sich in Erwartung von noch mehr Fleisch. Die Rakkes heulten und bewegten sich wieder vorwärts, als sie spürten, dass diese Veränderung zu ihrem Vorteil war.

»Dreihundert Meter bis zur Festung, Leute! «, übertönte Konowa den Lärm. Er konnte seinen Atem sehen, als er sprach, obwohl ihm nicht sonderlich kalt war. »Nur dreihundert Meter. Das ist leichter als ein Spaziergang im Park.«

Ein paar Männer lachten, aber längst nicht so viele, wie Konowa gehofft hatte. Er sah Lorian an. Der Regimentssergeant saß aufrecht auf seinem Pferd, die Zügel in der linken Hand, die Hellebarde gegen seine rechte Schulter gelehnt. Er nickte, zufrieden mit dem, was er sah. Jetzt oder nie.

»Bleibt dicht zusammen und lauft nicht! Und jetzt lasst uns hier verschwinden. Regiment – vorwärts Marsch!«

Das Karree setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Konowa wusste, dass die Nachhut das Problem sein würde. Sie war gezwungen, rückwärts zu marschieren. Lorian war bereits bei ihnen, schrie den Männern Ermutigungen zu und tippte diejenigen mit dem Stumpf seiner Hellebarde an, die mehr als das brauchten.

Sie hängten die Bara Jogg mit Leichtigkeit ab, die gezwungen waren, sich kriechend vorwärtszubewegen. Die ersten von ihnen krochen erst jetzt über die aufgegebenen Schützenpositionen. Mit den Rakkes war es jedoch eine andere Sache. Sie heulten vor Wut und stürmten gemeinsam vor, stürzten sich gleichzeitig auf die Stählernen Elfen und die Elfkynan.

Viele Rakkes hielten grobe hölzerne Waffen in ihren Händen, Äste, die von den Sarka Har abgebrochen waren. Eine schwarze Flüssigkeit tropfte von ihnen herunter, und der Frost, der den Boden bedeckte, zischte, wenn ein Tropfen dort landete. Konowa war bereit gewesen, die Rakkes bis auf fünfundsiebzig Meter herankommen zu lassen, bevor er den Befehl zu schießen gab. Doch dann schrie ein Rakke auf und warf seinen Ast in Richtung des Karrees. Die Soldaten, die zu den Rakkes blickten, sahen das Geschoss kommen und duckten sich. Die anderen jedoch sahen es nicht.

Das Holz traf einen Soldaten hoch oben im Rücken, durchbohrte ihn und nagelte seinen Leichnam auf den Boden. Schwarzer Frost bildete sich auf dem Holz und bedeckte nach kurzer Zeit die Leiche des Mannes. Das Karree stockte, als Soldaten sich umsahen.

»Halt! Augen nach vorne! Haltet eure Position! Auf mein Kommando feuert die äußere Reihe eine Salve … Feuer!« Die Musketen dröhnten, als würde dickes Eis brechen. Die kalte Luft verstärkte die Geräusche in all ihrer Brutalität. Funken sprühten, und grauer Rauch quoll in alle vier Himmelsrichtungen empor. Dumpfe, klatschende Geräusche markierten die Treffer der Musketenkugeln, und Scharen von Rakkes stürzten zu Boden. Der Rest der Kreaturen zog sich auf eine sichere Entfernung zurück und heulte vor Wut.

Der Angriff gegen den Kreis der Elfkynan dagegen machte bessere Fortschritte. Die Disziplin der Eingeborenen war längst nicht so groß wie die der Stählernen Elfen, und ein Pfeilhagel war nicht so tödlich wie eine Musketensalve. Als die Rakkes angriffen und ihre hölzernen Wurfgeschosse schleuderten, wichen viele Elfkynan aus und zerstörten so die Integrität des Kreises. Diejenigen, die sich bewegt hatten oder sich außerhalb des Kreises befanden, wurden rasch von Reißzähnen, Klauen und scharfen Holzpfählen überwältigt. Aber ihre Leichen wurden nicht vom Frostfeuer verzehrt; stattdessen schossen Wurzeln der nächstgelegenen Sarka Har aus dem Boden und pfählten die Toten. Nur Augenblicke später begann dort ein neuer Blutbaum zu wachsen.

»Sir, wir müssen in Bewegung bleiben!«, schrie Lorian, der alle Mühe hatte, sein Pferd unter Kontrolle zu behalten. Es verdrehte die Augen, sodass das Weiß zu sehen war, und Schaum stand vor seinem Maul, als es auf der Kandare herumkaute.

Konowa wusste, dass der Regimentssergeant recht hatte, aber ihnen erwuchs im wörtlichen Sinne ein neues Problem. »Zwischen uns und der Festung stehen eine Menge Bäume – ich kann sie nicht alle allein zerstören.«

Lorian warf einen Blick auf den Leichnam des gefallenen Soldaten. Es war nichts mehr von ihm zu sehen, außer einem matten schwarzen Fleck auf dem Boden, wo er gelegen hatte. »Bringen wir es hinter uns.« Das Geräusch von Stacheln und Schuppen wurde lauter, als die riesigen Bara Jogg sich näherten. Die Stählernen Elfen hatten keine andere Wahl, als weiterzumarschieren.

Konowa rief nach Soldat Vulhber. Der Hüne trat aus der Reihe in die Mitte des Karrees. Konowa stieg ab und hielt ihm Zwindarras Zügel hin. »Passen Sie für mich auf ihn auf; der Regimentssergeant und ich haben etwas zu erledigen.« Dieses Geschenk hätte jeder Soldat hoch geschätzt; es war die Chance, innerhalb des schützenden Karrees zu bleiben. Nachdem Konowa gesehen hatte, wie heldenhaft Vulhber kämpfte, fand er, dass der Soldat es verdient hatte.

Hrem warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Zügel, schüttelte dann jedoch den Kopf. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Major, würde ich das lieber nicht tun. Ich habe eine Ahnung, was Sie beide vorhaben, und könnte mir denken, dass ein drittes paar Hände ganz erwünscht sein könnte.«

»Können Sie die Macht denn gut genug kontrollieren?«, erkundigte sich Lorian, während er abstieg.

»Besser als die meisten anderen. Es scheint, dass nur ein paar Jungs sie wirklich einsetzen können, und ich bin einer von ihnen.« Seine Stimme klang weder stolz noch freudig. Es war eine schlichte Feststellung. »Deshalb bin ich noch hier. Ich habe den Frost benutzt, um das Glimmen der Zündschnur an dieser Granate zu verlangsamen. Ich weiß zwar noch nicht ganz, worum es geht, aber ich habe gesehen, was der Major mit den Bäumen am Außenposten gemacht hat. Ich würde Ihnen lieber helfen, damit wir die Angelegenheit endlich zu Ende bringen können.«

»Gut gesagt«, erwiderte Konowa und winkte zwei Soldaten zu sich, damit sie die Zügel der Pferde nahmen. Einer von ihnen war der wieselgesichtige Soldat, der den einarmigen Elfkyna von hinten abgestochen hatte. Konowa war versucht, ihn wieder in die Schlachtreihe zurückzuschicken, aber in dem Moment wurde er von einem schwarzen Holzstück abgelenkt, das durch die Luft trudelte und eine Furche in der Mitte des Karrees grub.

»Soldat Vulhber und ich werden uns der Bäume annehmen, Lorian. Sie bleiben hier und übernehmen den Befehl«, erklärte Konowa.

Lorian sah ihn überrascht an. »Ich kann diese verdammten Bäume verbrennen, Sir. Ich habe keine Angst vor ihnen.«

Konowa lächelte. »Das weiß ich, aber irgendjemand muss die Jungs auf Trab halten.«

»Dann sollten Sie bleiben, und ich sollte mit Vulhber gehen. Sie sind ein Offizier, Sir. Sie sollten in der Mitte bleiben und das Kommando führen. Das ist Ihr angestammter Platz«, setzte er hinzu.

»Ich bin kein Prinz, Regimentssergeant. Ich führe die Soldaten durch die Bäume hindurch; Sie führen das Kommando im Karree. Setzen Sie sich auf Zwindarra, dann haben Sie einen besseren Überblick«, riet er dem Regimentssergeanten, nahm dem wieselgesichtigen Soldaten die Zügel aus der Hand und gab sie Lorian. Dann salutierte Konowa und zwang damit Lorian, den Gruß zu erwidern.

»Gehen wir, Soldat«, sagte Konowa, schob seinen Säbel in die Scheide und ging zu der Seite des Karrees, die zur Festung hin lag. »Sie kommen mit«, erklärte er und deutete auf Wieselgesicht.

»Ich, Sir?«, erkundigte sich Zwitty schockiert.

»Sie sind unser Kundschafter. Wenn Sie Schwierigkeiten sehen, lassen Sie es uns wissen.«

Soldat Vulhber schlang die Muskete über seine breite Schulter, packte Zwitty am Arm und schob ihn unsanft durch die Lücke im Karree.

»Ich habe mich nicht freiwillig gemeldet!«, schrie Zwitty. Er quiekte fast vor Panik.

Konowa packte ihn am Revers seiner Uniformjacke und riss ihn in die Höhe. Wo seine Hand den Stoff berührte, breitete sich schwarzer Frost bis zum Kragen der Jacke aus. »Oh doch, das haben Sie. In dem Moment, als ich gesehen habe, wie Sie diesen Verwundeten mit Ihrem Bajonett hinterrücks niedergestochen haben, wusste ich, dass Sie der richtige Mann für diese Aufgabe sind. Und jetzt sperren Sie die Augen auf, und halten Sie uns den Rücken frei, sonst bekommen Sie nie wieder eine Chance, sich für irgendetwas freiwillig zu melden.«

Konowa ließ den Mann los, und der Frost verpuffte in einer dünnen Nebelwolke. Dann drehte er sich herum und gab Soldat Vulhber ein Zeichen. »Sie werden Schreie hören; packen Sie dann umso fester zu.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, warf er einen Blick zurück zu Lorian, der jetzt auf Zwindarra saß. Konowa winkte, drehte sich um und marschierte zum ersten Baum.

Die Rakkes heulten, als sie drei Stählerne Elfen außerhalb der Wand aus spitzen Bajonetten sahen. Konowa ignorierte sie und konzentrierte seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf den Baum vor sich. Zum ersten Mal ertönte Musketenfeuer von der Festung, das aber rasch vom Lärm der Nacht verschluckt wurde. Ein Pfeil von einem Bogenschützen der Elfkynan zischte an Konowas Kopf vorbei, aber die Eichel an seiner Brust hatte zu diesem Thema offenbar nichts zu sagen.

»Regiment … Marsch!«

Stiefel knirschten auf dem gefrorenen Boden, als das Karree sich erneut vorwärtsbewegte. Konowa griff nach dem ersten Baum. Dessen Zweige peitschten die Luft, als sie versuchten, ihn abzuwehren. Er fühlte viele Blicke auf sich, kümmerte sich jedoch nicht darum. Und er würde die Stählernen Elfen gesund nach Hause bringen.

Er packte den Sarka Har am Stamm und zog. Der Baum gab nicht nach. Kalte Wut durchströmte ihn, eine Wut, die weit größer war, als die Größe des Baumes hätte vermuten lassen. Der Baum versuchte, ihn zu überwältigen, und Konowa spürte nicht nur zwei Seelen, sondern viele. Er drückte zu, zwang seine Macht in seine Hände, aber anders als zuvor absorbierte der Baum sie mit Leichtigkeit. Versagte etwa die Macht der Eichel dieser Wolfseiche?

Diesmal sickerte die Kälte weit tiefer in sein Blut ein, und er fühlte etwas Neues, Unerwartetes. Die Schreie wurden leiser, verlockender, baten darum, dass er ihnen Gesellschaft leistete. Eine gewaltige Leere öffnete sich irgendwo tief in seinem Verstand, ein Becken, gefüllt mit absolutem Nichts. Kein Chaos, keine Empfindungen … nichts. Die Verlockung hineinzutauchen lastete auf ihm wie ein Berg, und seine Hände glitten von dem Baumstamm. Er hätte ihn beinahe losgelassen, doch dann verschwand die Leere in einem Sturm aus Licht und Lärm. Konowa blinzelte und warf einen Blick auf Soldat Vulhber, der einen Baum gepackt hatte.

Konowa konzentrierte sich und begriff, dass sie jetzt nicht nur einen einzelnen Baum angriffen, sondern die Macht des gesamten Forstes um sie herum. Alle Bäume waren miteinander verbunden.

»Major, passen Sie auf!«, schrie Zwitty, als er herumwirbelte und zurück zum Karree rannte.

Der Tschako auf Konowas Kopf wurde zerfetzt, als ein Holzstück, das ein Rakke geworfen hatte, haarscharf an seinen Schädel vorbeifegte. Er ließ den Baum nicht los, weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte. Zwischen dem Regiment und der Festung befanden sich noch Dutzende von Bäumen. Wenn das Karree nicht auseinanderbrechen sollte, musste Konowa einen Weg finden, die Bäume beiseitezuräumen.

Laute Schritte ließen den Boden erzittern. Bei jedem Schritt spürte Konowa, wie seine Kraft wuchs. Je näher das Regiment ihm kam, desto stärker wurde die Macht in ihm, vervielfältigt durch ihre Anzahl und ihre Gelübde. Er spürte die Gegenwart von Stählernen Elfen um sich herum, was ihm eine ungeheuerliche Stärke verlieh. Mit einem Schrei, fast einem Grollen, riss er den Baum aus der Erde und verbrannte ihn triumphierend mit einer schwarzen Flamme.

Plötzlich tauchte ein Rakke vor ihm auf, von dessen gelben Reißzähnen Geifer troff. Konowa griff nicht einmal nach seinem Säbel. Er trat einen Schritt vor und rammte der Kreatur seine rechte Faust in die Brust. Er spürte, wie die Rippen gefroren, spröde wurden und in mehrere Stücke zerbrachen, die er dem Wesen ins Herz jagte. Es zuckte und hörte dann auf zu schlagen.

Weitere Rakkes griffen an.

»Major, Soldat! Deckung!«

Konowa schüttelte den Kopf und trat auf die Rakkes zu. In diesem Moment fiel eine Hand wie ein Amboss auf seine Schulter und stieß ihn zu Boden.

»Feuer!«

Musketen knallten unmittelbar über ihm. Der bittere Pulverrauch brannte in seinen Nasenlöchern und trieb ihm die Tränen in die Augen. Er schüttelte die Hand ab, die ihn unten hielt, und stand auf. Überall lagen Rakkes, die Bäume wanden sich, schlugen mit ihren verkrüppelten Zweigen um sich, und irgendwo läuteten Glocken.

»… vorsichtiger! Diese Salve hätte …?«

Konowa sah, dass sich Vulhbers Lippen bewegten, verstand jedoch nur ein paar Worte. Dann begriff er, dass das Klingeln in seinen Ohren von dieser letzten Salve stammte. Langsam kehrte seine Hörkraft zurück.

»… in Ordnung?«

Konowa nickte und ging auf den nächsten Baum zu. »Bleiben Sie dicht bei mir; benutzen Sie Ihre Macht«, sagte er und deutete auf das Regiment hinter ihnen.

Soldat Vulhber schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig, Sir.«

»Lassen Sie mich jetzt nicht hängen! «, schnarrte Konowa.

Vulhber deutete auf die Bäume. »Sehen Sie!«

Konowa drehte sich um. Dunkle Gestalten glitten zwischen den Bäumen umher. Sie hielten lange glänzende Langschwerter in den Händen, die über dem Boden tanzten. Sie verblassten, wurden dann wieder sichtbar, mehr Schatten als Substanz, und erschwerten es ihm, sie im Auge zu behalten. Ihre Schwerter jedoch tanzten mit unermüdlicher Brutalität. Schwarzer Frost loderte in schwarzen Flammen auf, wo immer ihre Schwerter trafen und die Sarka Har vernichteten, begleitet von einem Chor aus Schreien, die in Konowas Kopf widerhallten. Eine der Gestalten hielt inne, während sie die Klinge hoch über ihren Kopf hielt. Dann drehte sie sich langsam herum, und ihr Blick glitt wie ein Wintersturm über Konowa hinweg.

Eine Stimme von einem unendlich weit entfernten Ort kroch in seinen Schädel. »Sie kommen«, sagte der Geist von Meri. »Lauft um euer Leben!«

Elfen wie Stahl
cover.html
e9783641129088_cov01.html
e9783641129088_toc01.html
e9783641129088_ded01.html
e9783641129088_c01.html
e9783641129088_c02.html
e9783641129088_c03.html
e9783641129088_c04.html
e9783641129088_c05.html
e9783641129088_c06.html
e9783641129088_c07.html
e9783641129088_c08.html
e9783641129088_c09.html
e9783641129088_c10.html
e9783641129088_c11.html
e9783641129088_c12.html
e9783641129088_c13.html
e9783641129088_c14.html
e9783641129088_c15.html
e9783641129088_c16.html
e9783641129088_c17.html
e9783641129088_c18.html
e9783641129088_c19.html
e9783641129088_c20.html
e9783641129088_c21.html
e9783641129088_c22.html
e9783641129088_c23.html
e9783641129088_c24.html
e9783641129088_c25.html
e9783641129088_c26.html
e9783641129088_c27.html
e9783641129088_c28.html
e9783641129088_c29.html
e9783641129088_c30.html
e9783641129088_c31.html
e9783641129088_c32.html
e9783641129088_c33.html
e9783641129088_c34.html
e9783641129088_c35.html
e9783641129088_c36.html
e9783641129088_c37.html
e9783641129088_c38.html
e9783641129088_c39.html
e9783641129088_c40.html
e9783641129088_c41.html
e9783641129088_c42.html
e9783641129088_c43.html
e9783641129088_c44.html
e9783641129088_c45.html
e9783641129088_c46.html
e9783641129088_c47.html
e9783641129088_c48.html
e9783641129088_c49.html
e9783641129088_c50.html
e9783641129088_c51.html
e9783641129088_c52.html
e9783641129088_c53.html
e9783641129088_c54.html
e9783641129088_c55.html
e9783641129088_c56.html
e9783641129088_ack01.html
e9783641129088_cop01.html