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»ES STINKT NACH den Eingeweiden von allem, was unheilig ist«, erklärte Inkermon und hielt sich die Nase zu, als er im Haupteingang des Höhlensystems stand.
»Der Geruch ist ein wenig stechend, das gebe ich zu.« Yimt hielt eine brennende Fackel hoch und blickte prüfend in einen Gang. »Trotzdem immer noch besser, als über der Erde herumzulaufen, finde ich jedenfalls. Also, gehen wir rein und schlagen unsere Zelte auf, bevor einer von den anderen auf die Idee kommt.«
Alwyn bemühte sich, möglichst durch den Mund zu atmen, als er mit dem Rest des Halbzuges Yimt durch den Tunnel und tiefer in den Erdhügel folgte. Er bezweifelte, dass irgendeiner der anderen Soldaten es eilig haben würde, dieses Tunnelsystem als Zufluchtsstätte für sich zu beanspruchen.
Als sie langsam tiefer hinabgingen, enthüllte der Fackelschein eine Reihe von wundervoll gestalteten magischen Sprüchen an den Wänden. Alwyn verstand zwar die Sprache nicht, spürte jedoch, dass sie als irgendeine Art von Schutzzauber dienen sollten. Die Worte verliefen in Mustern, und schon bald waren die Wände von wundervollen Reliefs bedeckt.
Menschenähnliche Figuren von majestätischen Proportionen tollten in einer großen, erotischen Orgie von Gliedmaßen und anderen Körperteilen herum, sodass es unmöglich war zu sagen, wo ein Körper endete und der nächste begann. Im Gegensatz zu der Statue der Gottheit vor der Anhöhe waren diese Reliefs nicht bemalt. Alwyn betrachtete die Kunstwerke fasziniert und entsetzt zugleich, als sie eine große Kammer betraten, die vermutlich als Schlafgemach gedient hatte, obwohl es keinerlei Möbel mehr gab. Erneut wallten Gefühle in ihm auf, über die er bis jetzt noch nicht hatte nachdenken können. Er atmete schneller und trank einen großen Schluck Wasser, während er überallhin blickte außer auf die Wände.
Im Unterschied zu Alwyn wirkte Yimt gelassen und gleichzeitig kampfbereit. Er hatte eine starke Ausstrahlung und eine beeindruckende Präsenz, was den anderen Männern Respekt abnötigte, vielleicht sogar Furcht einflößte, obwohl sie nicht sagen konnten, warum. Alwyn dagegen kannte einen der Gründe, weil er gesehen hatte, wie der Zwerg kämpfte.
Yimt kämmte sich den Bart mit dem Ende seines kleinen hölzernen Dolches. Ab und an flatterte ein Insekt aus den zerzausten Haaren hervor und in eine der brennenden Fackeln hinein, die jetzt ihr vorübergehendes Heim beleuchteten.
Der Geruch dieses Höhlensystems war jetzt, nachdem sie tiefer eingedrungen waren, nicht mehr so entsetzlich. Vielleicht aber hatten sie sich auch einfach nur an den Gestank gewöhnt. Jedenfalls sagte Alwyn sich, dass es vielleicht doch nicht so schlecht wäre, die Nacht hier zu verbringen.
»Hier.« Yimt hielt Inkermon eine seiner Feldflaschen hin. »Trink einen Schluck und gewöhne dich an den Gedanken, einen Haufen Geld zu verlieren.«
Inkermon wich zurück und schüttelte heftig den Kopf. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dieses widerliche Getränk von mir fernhalten und mich nicht mit Ihren sündigen Glücksspielen in Versuchung bringen würden.« Er sah die anderen an. »Besitzt ihr denn kein Schamgefühl? Ihr wollt hier in diesem Raum voller dekadentem, lüsternem Dreck herumhocken? Ich nicht. Ich bin ein Mann des Glaubens.«
Bei diesen Worten hob der Zwerg eine buschige Augenbraue, was umso spektakulärer aussah, als sie unter dem Rand seines Tschakos verschwand. »Tatsächlich? Wie bist du denn dann in diese fröhliche Truppe geraten? Meine traurige Geschichte ist viel zu lang, als dass ich sie hier erzählen könnte. Der arme Alwyn hier neben mir leidet unter der Dummheit der Jugend – nimm es nicht persönlich, mein Junge. Und der Rest dieser zerlumpten Aaskrähen«, er deutete mit einer Handbewegung auf die Männer des Halbzuges, die im Raum verteilt saßen, »sind Straßenräuber, Banditen und Diebe – natürlich allesamt fälschlicherweise verurteilt und zum Dienst in der Armee gezwungen. Aber was ist mit dir, eh? Vielleicht wird es Zeit, dass wir uns etwas besser kennenlernen, da wir jetzt ja alle eine große Familie sind.«
Inkermon sog verächtlich die Luft durch die Nase ein und spie aus, aber nicht in die Nähe von Yimt. Dann wirbelte er auf dem Absatz herum, bückte sich und verschwand in einem Tunnel.
»Ein andermal?«, rief Yimt ihm nach. Die anderen Soldaten lachten und riefen dem Bauern spöttische Bemerkungen hinterher. Yimt bedeutete ihnen, sich wieder zu beruhigen. »Schon gut, lasst ihn nur. Jedermann hat das Recht zu denken, was er will, und das gilt für euch alle. Aber mit dem Recht geht auch Verantwortung einher, unter anderem die, einen großen Teil von dem, was ihr glaubt, für euch selbst zu behalten.«
Diese Bemerkung brachte ihm verwirrte Blicke ein, auch von Alwyn. Yimt schüttelte den Kopf und seufzte übertrieben gereizt. »Benutzt den armseligen Rest eurer Intelligenz, Jungs, den ihr noch nicht versoffen habt. In dieser Armee dienen mehr Rassen, als ein Drache Schuppen hat, und jede einzelne sieht die Welt anders als die anderen. Nehmt zum Beispiel unseren Major da oben. Er ist nicht nur ein Elf, sondern er kommt auch von jenseits des Ozeans. Und ihr wisst ja, wer da drüben lebt, diese Elfenhexe, die Schatten…«
»Sprechen Sie ihren Namen nicht aus!« Alle in der Kammer zuckten zusammen, als Inkermon aus einem anderen Tunnel in den Raum kroch. Er hielt ein kleines weißes Buch in der Hand, das er an seine Brust presste. »Sie beansprucht den Thron des Großen Vaters, des Schöpfers der Welt. Ihren Namen auszusprechen bedeutet, sie zu rufen. Wie könnt ihr nur tatenlos herumsitzen, während ihre Missgestalten erneut die Welt verseuchen! Begreift ihr es denn nicht? Das Ende ist nah!«
Unwilliges Gemurmel breitete sich in der Kammer aus. Alwyn sah Yimt an, der vollkommen reglos dasaß. Als der Zwerg schließlich sprach, hallte sein Flüstern scharf durch den Raum.
»Das einzige Ende, das nahe ist, ist deines, wenn du so weiterredest. Dein sogenannter Großer Vater ist ein großer menschlicher Vater, der die Menschheit nach seinem Abbild geformt hat, nicht uns andere!«
Yimt erhob sich langsam. Alwyn stieß die Luft aus, als der Zwerg langsam seinen Drukar aus der Scheide zog. Inkermon sah das ebenfalls und hielt das kleine weiße Buch vor sich, als könnte es einen Hieb dieser Waffe abwehren.
»Du bist einer von diesen Gläubigen des Reinen Ordens.« Yimts Stimme wurde lauter, als er einen Schritt vortrat. »Ich hatte dich eigentlich für einen puritanischen Besserwisser gehalten, aber da steckt mehr dahinter, habe ich recht?«
»Ich glaube an den Einen Schöpfer und Seine Vision einer reinen, geordneten Welt für die Menschen, die darin leben«, antwortete der Bauer. Seine Stimme bebte, aber in seinen Augen glühte eine Intensität, die an Wahnsinn grenzte. »Es ist völlig klar, dass Sein Orden herausgefordert wird, während wir hier sprechen. Es ist Aufgabe Seiner wahren Gläubigen, die Dinge richtigzustellen.«
»Tatsächlich? Und werden in deinem kleinen Buch Zwerge, Orks und andere Kreaturen auch als wahre Gläubige erwähnt?«
Inkermon schnaubte verächtlich. »Es gab keinen Grund, die niederen Rassen zu erwähnen, denn sie wurden nicht von Ihm erschaffen. Aus diesem Grund ist die Welt heute von Magie, Kulten und dem Bösen verseucht. Nur Er sollte eine solche Macht besitzen, so steht es geschrieben!«
Alwyn glaubte einen Augenblick, dass Yimt Inkermon auf der Stelle enthaupten würde, doch stattdessen lächelte der Zwerg.
»Du gibst also zu, dass dein Schöpfer nichts weiter war als ein dilettierender Hexer? Soweit ich es verstehe, haben er und ein paar seiner Zauberkumpane eines Nachts in einem Bordell gehockt und gesoffen und sich die ganze Angelegenheit ausgedacht, um die Huren zu beeindrucken!«
Inkermon stammelte vor Wut. »Blasphemie! Du niederträchtiger Mistkerl! Wie kannst du es wagen, Ihn zu beleidigen!«
Der Drukar zischte durch die Luft und hielt einen Zentimeter vor Inkermons Hals an.
Die anderen Soldaten erstarrten. Es war Alwyn klar, dass keiner von ihnen versuchen würde, Yimt aufzuhalten. Er sprang auf und trat neben den Zwerg, bevor er es sich versah.
»Ich glaube, du solltest den Drukar einstecken, Yimt«, sagte er. Die Klinge rührte sich keinen Zentimeter, ein schwarzer Schatten über Inkermons Schulter. Eine Ader am Hals des Bauern pulsierte, und Alwyn stellte sich vor, wie das Blut bis an die Decke spritzen würde.
»Die Welt wäre ein besserer Ort ohne Leute wie ihn.« Yimts Knöchel wurden weiß, so fest umklammerte er den Griff des Drukar.
»Und du würdest dafür gehängt, und wer sollte dann unseren Halbzug anführen? Außerdem hast du gesagt, dass jeder das Recht auf eine Meinung hat, und das hier ist eben seine. Womit ich nicht sagen will, dass ich mit ihr übereinstimme, aber wenn jeder anfängt, Leute umzubringen, mit denen er nicht einer Meinung ist, wären am Ende wohl nur sehr wenig Leute übrig, meinst du nicht?«
Yimt blinzelte, drehte dann leicht den Kopf und sah ihm in die Augen. Einige Sekunden lang herrschte vollständiges Schweigen. Inkermons Blick zuckte zwischen Alwyn und Yimt hin und her und glitt dann zu der Klinge, die dicht neben seinem Hals schwebte. Schließlich nickte Yimt und ließ den Drukar sinken, ohne Inkermon auch nur anzusehen.
»Geh und bete zu deinem Schöpfer«, murmelte Yimt und drehte dem Bauern den Rücken zu. Der verschwand sofort im Tunnel.
Yimt sah alle Soldaten der Reihe nach an, bis sein Blick an Alwyn hängen blieb. Er streckte die Hand aus und klopfte ihm auf den Arm.
»Ally, nicht dass ich vorhabe abzutreten, aber wenn doch, kann ich mir keinen besseren Mann vorstellen, der diesen Halbzug anführt, als dich.« Mit diesen Worten setzte sich der Zwerg wieder hin, lehnte den Rücken an zwei beeindruckend gemeißelte Brüste und machte sich daran, seine Armbrust auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen, während die anderen Soldaten Alwyn spöttisch als den nächsten König von Calahr feierten.
»Lasst den armen Jungen in Ruhe«, meinte Yimt, kniff seine Augen zusammen und blickte durch den rechten Lauf seiner Waffe. »Ihr wisst doch ganz genau, dass er mehr Grips hat als ihr alle zusammen.«
»Und was ist mit mir?«, fragte ein anderer Soldat, dessen Wangen ein enormer brauner Backenbart zierte.
Yimt blickte den Mann über den Lauf hinweg mit einem Auge an, während seine Augenbraue erneut drohte, unter dem Rand seines Tschakos zu verschwinden. »Buuko, du könntest nicht mal Mist aus einem Stiefel kippen, wenn die Instruktion auf den Absatz geschrieben wäre.«
»Ich kann ganz gut lesen«, erwiderte Buuko, warf sich stolz in die Brust und hakte die Daumen in die Hosenträger.
Die Männer lachten, und Alwyn stimmte unwillkürlich ein. Buuko, der nicht viel größer war als Yimt, dafür aber so hager wie ein Winterküken, öffnete und schloss offensichtlich ergrimmt den Mund, zuckte dann jedoch mit den Schultern und machte sich daran, seine Muskete zu säubern.
»Sorgt dafür, dass ihr es richtig macht«, sagte Yimt, an den gesamten Halbzug gewandt. »In einem solchen Klima verrostet eure Muskete in einer Woche zu Staub, wenn ihr sie nicht jeden Tag sauber macht. Wie meine Großmutter zu sagen pflegte: ›Halte deine Muskete und deinen Schwanz sauber, dann erreichst du ganz bestimmt ein hohes Alter.‹«
»Das hat sie gesagt?«, erkundigte sich Alwyn, der sich zwischen Teeter, der gelassen an seiner Pfeife sog, und Alik gesetzt hatte, der Schwierigkeiten zu haben schien, seine Muskete zu halten und zu säubern. Alwyn beugte sich vor und half ihm, sie ruhig zu halten. Dafür bekam er ein dankbares Lächeln.
»Allerdings, das hat sie. Sie war eine weise Frau und wusste mehr über diese Welt als ihr alle zusammen. Das erinnert mich an früher, als wir noch auf Sandstein und Scherben von Töpferwaren herumgekaut haben. Da gab es einmal einen jungen Bergarbeiter, der …«
Alwyn lächelte und machte sich daran, seine Muskete zu säubern, während Yimt weiterplapperte. Es war eine gemütliche Atmosphäre. Er ließ seinen Blick durch die Kammer schweifen und stellte verblüfft fest, dass die Wirkung der Reliefs auf ihn nachließ. Allerdings nur, bis er eines sah, in dem offenbar eine Ziege eine Rolle spielte. Rasch nahm er die Nadel, die an einer Kordel von seiner Uniformjacke herunterhing, beugte sich über die Muskete und kratzte mit der dünnen Stahlnadel Schmutz aus dem Zündschloss. Wenn das Loch verstopft war, konnte der Funke von der Pfanne nicht in den Lauf gelangen und das Pulver dort entzünden. Es erstaunte ihn, dass etwas so Kleines so bedeutsam sein konnte. Dann blickte er zu Yimt hinüber und dachte erfreut, dass dies auch für Lebewesen galt.
»Also, wer möchte gern gefährlich leben?«
Alwyn sah den Zwerg an, als er mehr als nur eine Spur von Mutwilligkeit in seiner Stimme registrierte.
Yimt streckte die Hand in seinen umgekehrt auf dem Boden liegenden Tschako und holte ein abgegriffenes Kartenspiel heraus. »Erhöhen wir den Einsatz, Mädels. Elfkynische Siaster stehen bei zwölf zu einem Imperialen Sovereign oder vier zu einem Kolonialen Heller – Nickelsilber, versteht sich, denn ihr finsteren Typen habt die Taschen bestimmt nur voller Kupferstücke.«