19
DAS REGIMENT MARSCHIERTE weiter, immer nach Osten, und das in der erstickenden, glühenden Hitze. Nach dem schwülfeuchten Wald fühlte sich Konowa im Freien vollkommen exponiert und suchte die Ebene ständig nach irgendwelchen Anzeichen von Gefahr ab. Von Zwindarras Rücken herunter war der Ausblick zwar besser, aber seine Beine schmerzten, weil er sich ständig in die Steigbügel stellte, um die strapazierten Muskeln seines Hinterteils zu schonen. Er hatte sich gerade entschlossen, einen neuen Versuch zu unternehmen, sich wieder zu setzen, als er eine Staubwolke erblickte, die sich der Kolonne von Westen rasch näherte.
»Prinz Tykkin!« Konowa deutete auf die Wolke.
»Sicher sind es weitere Vorräte«, erwiderte der Prinz und ritt weiter, die Augen fest auf den Boden vor sich gerichtet. Wahrscheinlich sucht er nach irgendwelchen verfluchten Insekten, dachte Konowa.
»Ich überprüfe das kurz, Sir.« Konowa salutierte und galoppierte mit Zwindarra ans Ende der Kolonne, dem herannahenden Besucher entgegen. »Ihr vier«, er deutete auf eine Gruppe von Soldaten, die an ihm vorbeimarschierte. »Heraustreten und mir folgen.« Es freute ihn, als er sah, dass sie ihre Musketen luden, ohne dass er sie dazu aufgefordert hatte.
Konowa versuchte Kritton zu erspähen, während der Rest der Kolonne an ihm vorbeimarschierte. Aber der Staub und das Schaukeln des Pferdes erschwerten es ihm, und er gab schon bald auf. Er sah immerhin Visynas Muraphanten und nickte ihr zu, war jedoch an dem Tier vorbei, bevor er sehen konnte, ob sie seinen Gruß erwiderte.
Als er das Ende der Kolonne erreicht hatte, erkannte er in dem wirbelnden Staub einen Planwagen, der von einer Gestalt in einem grauen Umhang gelenkt wurde und den vier der hässlichsten Pferde zogen, die Konowa jemals gesehen hatte.
»Ich bin froh, dass ich euch endlich eingeholt habe.« Der Fremde zügelte die Pferde.
Zwei faltige Hände schoben die Kapuze des Umhangs zurück, unter dem das Gesicht einer alten Menschenfrau zum Vorschein kam.
Konowa bedeutete den Soldaten, die ihn begleitet hatten, sich wieder in die Kolonne einzureihen. Dann drehte er sich zu der Frau herum, zog seinen Tschako vom Kopf und verbeugte sich. Er verlor kurzfristig sein Gleichgewicht auf dem Pferd, bevor er sich hastig wieder aufrichtete.
»Major Konowa Ul-Osveen, Stellvertretender Kommandeur, Leichte Infanterie der Hynta«, sagte er und versuchte vergeblich, Zwindarra näher an den Planwagen heranzutreiben.
»Die Stählernen Elfen«, erwiderte sie, nahm eine große Zigarre und schob sie sich zwischen außergewöhnlich gelbe Zähne. »Kommandiert von Seiner Königlichen Arschigkeit dem Prinzen.« Ihr Gesicht legte sich in Falten, und sie lächelte ihn durch eine Wolke dunkelblauen Rauchs an. »Aber ich vermute aufgrund der höflich begriffsstutzigen Miene auf Ihrem Gesicht, dass Sie nicht den Schimmer einer Ahnung haben, wer ich bin.«
Konowa war es zu heiß, sein Hintern fühlte sich abwechselnd taub an oder schien zu brennen, und dieser verfluchte hohe Kragen seiner Uniformjacke rieb ihm den Hals wund. Auf ein Ratespiel hatte er wirklich keine Lust, aber er unterdrückte eine beleidigende Erwiderung. Immerhin war sie seit längerer Zeit die erste unbekannte Person, die ihn nicht sofort umbringen wollte.
»Ich muss zugeben, teure Lady, dass Sie mir gegenüber da im Vorteil sind.«
Ihr Lachen klang wie das Krächzen eines erschreckten Schwarms Krähen, und Zwindarra riss überrascht den Kopf hoch.
»Was für ein Charmeur! Mein Name ist Rallie Synjyn.«
Konowa beugte sich im Sattel vor und betrachtete die Frau genauer. »Verzeihung, Sie meinen die Rallie Synjyn?« Die Schreiberin Ihrer Majestät, die für den Imperialen Wöchentlichen Herald arbeitete, war im ganzen Imperium berühmt, und das nur teilweise wegen ihres unglaublichen Talents, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Es waren fast genauso viele Geschichten über Rallie in Umlauf, wie sie selbst geschrieben hatte, und die meisten waren so ausgefallen, beschrieben derartig merkwürdige Erscheinungen und bizarre Ereignisse, dass niemand, am wenigsten Konowa, wusste, was er glauben sollte.
»Ebendieselbe«, erwiderte sie. »Gewiss, eigentlich hieß ich Rallina, aber niemand will über Schlachten und Abenteuer aus der Feder einer Person lesen, die einen so mädchenhaften Namen hat. Und Sie wissen ja, es dreht sich alles darum, Geld zu verdienen. Glücklicherweise versteht die Kaiserin das besser als die meisten anderen Leute, und außerdem«, sie zwinkerte ihm zu, »erkennt das alte Mädchen eine spitze Feder, wenn es eine sieht.«
Konowa kam zu dem Schluss, dass er Rallie Synjyn mochte. »Was führt Sie hierher?«, fragte er. Er hielt es für besser, nichts zu verraten, was er nicht eine Woche später aus der Kehle eines Nachrichtenschreiers hören wollte.
Rallie lachte und schlug sich mit der Hand aufs Knie. Eine Staubwolke stieg auf, die sich mit dem Zigarrenrauch vermischte und sie einhüllte. Es dauerte einen Moment, bis sie daraus wieder auftauchte. »Ganz sicher will ich nicht die Irrwege von Prinz Pingelig dokumentieren. Die Neuformierung der Stählernen Elfen ist ein Knüller, Major, ein dicker Knüller. Es war eine Schande, was Ihnen und Ihren Jungs zugestoßen ist, eine echte Schande. Diesen Mistkerl an die Wand zu nageln war ein Dienst an der ganzen Welt. Er führte nichts Gutes im Schilde. Ich bin froh, Sie wieder im Sattel zu sehen, obwohl ich mir nur sehr schwer vorstellen kann, wie es sich anfühlen muss, Ihre Elfen nicht bei sich zu haben.«
Konowa hatte plötzlich Probleme, etwas zu erkennen. Rallie war so freundlich, hinter ihrer Sitzbank herumzufummeln, und gab ihm damit ein wenig Zeit, sich wieder zu fassen.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Imperiale Armee besonders erfreut über Ihr Auftauchen sein wird«, erwiderte er schließlich, »was immer die Kaiserin auch denken mag.«
Als Rallie sich wieder zu ihm herumdrehte, bebten ihre Schultern vor Lachen. »Der Generalstab hält mich für eine größere Bedrohung als eine Herde Drachen, aber der Kaiserin gefällt die Vorstellung, ihre Generäle zur Ehrlichkeit zu zwingen, indem sie wenigstens einen Molch in der Suppe lässt.« Sie zog an ihrer Zigarre, atmete langsam den Rauch aus und betrachtete Konowa von Kopf bis Fuß. »Das heißt … zwei Molche.«
Konowa versuchte, unschuldig auszusehen. »Ich? Ich bin ein Muster an Tugend. Ich befolge nur Befehle.«
Rallie lachte so sehr, dass winzige Rauchringe aus ihrer Nase drangen. Nachdem sie sich wieder gefasst hatte, schüttelte sie den Kopf und sah ihn scharf an. »Aber nicht zu verbissen, hoffe ich. Ich glaube, schon bald kommt die Zeit, in der Sie die Angelegenheiten in Ihre eigenen Hände nehmen müssen.«
Er stellte sich vor, wie er seine Hände um den Hals des Prinzen legte – eine sehr verlockende Vorstellung. »Meine Aufgabe besteht darin, dieses Regiment zurückzubringen, und zwar gesund und munter. Das werde ich tun, komme, was da wolle.«
»Dann sollten Sie dafür sorgen, dass der Prinz glaubt, er hätte etwas damit zu tun.« Sie deutete auf die Spitze der Kolonne, schnalzte mit der Zunge und trieb ihre Pferde in Richtung Schlingpflanzen. »Er glaubt, ich wäre hier, um schillernde Geschichten über ihn für den Hof zu schreiben. Sie wissen schon: Er führt das Regiment in eine entlegene, finstere Ecke des Imperiums, schlachtet ein paar Eingeborene ab, erbeutet ein paar hübsche Klunker und magische Artefakte, verstaucht sich den Zeh, als er von seinem Pferd absteigt, und kehrt als Held nach Hause zurück. Mit dem Verwundetenabzeichen an seinem Ärmel und genügend Kriegsgeschichten, um die Kurtisanen aus ihren Reifröcken zu quatschen.«
»Aber die Kaiserin wird doch nicht zulassen, dass Sie so etwas schreiben?« Konowa gab seinem Wallach die Sporen, um der Schreiberin zu folgen.
Rallie legte einen Finger an ihre Nase und zwinkerte. Ihre Augen verschwanden in gebräunten ledrigen Hautfalten. »Der Tag, an dem Sie annehmen, dass Sie den Verstand eines Monarchen kennen würden, ganz gleich welches Monarchen, ist der Tag, an dem Sie sehr wahrscheinlich Ihren Verstand verlieren, zusammen mit dem Kopf, der ihn beherbergt. Da steckt mehr dahinter, als man auf den ersten Blick sehen kann, Major, darauf können Sie sich verlassen.«
»Sie sind nicht die erste Person, die das sagt.«
»Ihr Vater ist ein raffinierter alter Mistkerl«, antwortete Rallie. »Sie sollten auf ihn hören. Seltsame Dinge stehen uns bevor. Deshalb bin ich hier. Es wird eine Geschichte geben, die wie ein Stern vom Himmel fällt. Entscheidend ist, nicht direkt darunter zu stehen, wenn sie landet.«
Konowa konnte seine Überraschung nicht verbergen.
»Ich habe vielleicht keine Elfenohren, aber meine sind auch nicht schlecht«, antwortete sie. Sie schüttelte fröhlich den Kopf und zog noch einmal an ihrer Zigarre, deren Glut orangefarben aufglühte.
»Es stimmt also? Es gibt da wirklich einen Stern? Und was ist mit dem Vizekönig?«, erkundigte sich Konowa.
Rallie schüttelte den Kopf. »Ich vermute eine Menge, kann im Moment aber nur sehr wenig beweisen. Ich unke nicht gerne, aber ich habe ein merkwürdiges Gefühl in den Knochen, als würde etwas ganz schrecklich Falsches in der Welt passieren. Es ist, als würde alles langsam verzerrt werden.« Sie wirkte plötzlich verlegen. »Es gibt viele Fragen. Und ich glaube, dass wir die Antworten in Luuguth Jor finden werden.«
Konowa tippte grüßend an seinen Tschako und ritt eine Weile schweigend neben ihr her, während er nachdachte.
Der erste Elfen-Vizekönig des Calahrischen Imperiums entpuppte sich als Verräter im Dienste der Schattenherrscherin, und Konowa hatte ihn als kommandierender Offizier des einzigen Elfenregiments der Imperialen Armee getötet. Ganz einfach. Nur war der Vizekönig nicht gestorben, vielmehr, er war gestorben und nun als ihr Emissär zurückgekehrt, und er suchte nach etwas, was eigentlich ein Kindermärchen hätte sein sollen: nach einer roten Sternschnuppe. Das war nicht mehr einfach. Mythen wurden Realität, und die Toten wurden … weniger tot. So wie die Rakkes, die angeblich seit Hunderten von Jahren ausgelöscht waren, wieder auftauchten und seinen Namen kannten. Das war kein Zufall, dessen war er sich sicher. Die Schattenherrscherin suchte nach ihm. Konowa packte die Zügel unwillkürlich fester. Sie würde nicht mehr lange suchen müssen. Wenn ihr Emissär um diese elende kleine Festung bei Luuguth Jor herumschlich, dann würde sie bald sehr genau wissen, wo Konowa Flinkdrache sich aufhielt und wozu er fähig war.
Weit vor ihm trompetete ein Muraphant und löste einen Chor von tiefen, rollenden Trompetenstößen aus. Die Tiere vor Rallies Planwagen wollten sich das nicht gefallen lassen, hoben die Köpfe und stießen ein tiefes bellendes Geräusch aus, das Konowa an den Nachhall von Kanonenfeuer erinnerte. Eine deutlich vernehmliche Stimme aus der Kolonne, die verdächtig nach der des Zwergs klang, schlug in unmissverständlichen Ausdrücken vor, dass sie entweder ihre Klappe halten sollten oder als Steak enden würden.
Konowa lachte und drängte Zwindarra näher an den Planwagen, um sich die Tiere, die ihn zogen, genauer anzusehen. Was er für besonders monströse Pferde gehalten hatte, waren in Wirklichkeit Brindos, eine einheimische Spezies, die aussah wie das Ergebnis einer perversen Vereinigung von Rhinozeros und Pferd.
»Den Großen da nenne ich Baby, aber eigentlich sind sie alle meine Babys«, meinte Rallie und lächelte ihre Tiere wohlwollend an.
Baby war weder klein noch süß, hatte in etwa die gleiche Größe wie Zwindarra, aber seine mattschwarze Haut bestand aus ineinandergreifenden Hornplatten. Es sah aus wie ein Puzzle, das sich bewegte. Die Hufe des Tieres waren gespalten, sein Schwanz stummelig und dürr. Er peitschte heftig durch die Luft, ohne jedoch eine Wirkung zu erzielen, soweit Konowa das feststellen konnte. Sein Kopf wirkte wie ein keilförmiger Block mit zwei enorm schlappen Ohren und zwei kleinen, boshaft wirkenden grünen Augen. Als es den Muraphanten antwortete, gewährte es Konowa einen ausführlichen Blick auf seine Zähne. Er sah überrascht, dass es große flache Mahlzähne waren. Er wusste nicht warum, aber irgendwie hatte er erwartet, dass Brindos ebensolche Reißzähne hätten wie Jir.
Dabei fiel Konowa ein, dass er den Bengar seit einiger Zeit nicht mehr gesehen hatte. Er hätte es niemandem gegenüber zugegeben, aber Jir hatte ihm da draußen im Wald das Leben gerettet, und zwar nicht nur bei der Konfrontation mit den Rakkes. Ohne die Gesellschaft dieses pelzigen, sein Territorium permanent markierenden Raubtiers wäre Konowa verrückt geworden. Die Unterströmungen des Lebens des Waldes waren durch seine Träume geflossen und hatten sirrende Nachklänge von etwas hinterlassen, das er nicht verstand. Er fragte sich, was die Elfen von der Langen Wacht ertragen mussten, und war fast dankbar dafür, dass er damals auf der Geburtswiese zurückgewiesen worden war.
»Ein Goldstück für Ihre Gedanken.« Rallies Stimme riss Konowa wieder in die Gegenwart zurück.
»Da würden Sie eine Menge Wechselgeld bekommen«, erwiderte Konowa und lächelte, um sein plötzliches Unbehagen zu verbergen. Besaß Rallie vielleicht die unheimliche Fähigkeit seines Vaters, die Gedanken eines anderen lesen zu können?
»Das bezweifle ich sehr, Konowa Flinkdrache«, antwortete Rallie über das ganze Gesicht grinsend. »Jedenfalls nicht, wenn Sie mir Ihre wahren Gedanken verraten haben.«
Konowa zwang sich zu einem Lächeln und ritt schweigend weiter. Darauf kannst du lange warten, dachte er.