60
»Wir können ihn
nicht hier liegen lassen.«
»Das ist mir auch
klar, Liebling.«
»Wir müssen jetzt
positiv denken.«
»Das wäre
hilfreich.«
»Du weißt ja, was
die Polizei tun wird.«
»Eine Menge Fragen
stellen.«
»Mich in den Knast
stecken.«
»Und das wollen wir
nicht.«
Eddie und Della
saßen am Tisch im Küchenbereich, tranken Pulverkaffee und pafften
eine nach der anderen. Della rauchte Camel ohne Filter, denn ihre
waren alle, schon seit einigen Tagen, und sie hatte gedacht, sie
hätte aufgehört, ohne das allerdings jemandem zu erzählen. Eddie
hatte es gar nicht mitbekommen, bis sie sich eine von seinen
ansteckte.
»Du hast die ganze
Zeit nicht geraucht«, hatte er gesagt.
»Jetzt hör dir das
an«, hatte sie erwidert, »dass du das auch schon
merkst.«
»Tja, ich wusste
nur, dass irgendwas anders war.«
»Gut, dass ich mir
nicht die Haare gefärbt habe.«
»Das wär mir
aufgefallen.«
»Oder hab schneiden
lassen.«
»Wär schön, wenn du
das nicht tust. Ich mag’s, wenn du sie lang trägst.«
Sie betrieben ein
wenig Small Talk, bevor sie auf das eigentliche Thema zu sprechen
kamen: was zu tun war.
»Nicht dass ich
jemand Nettes umgebracht habe«, hatte sie gesagt.
Worauf er erwidert
hatte: »Du hast nie die guten Seiten an ihm gesehen.«
»Ich werde jetzt
nicht damit anfangen, anderes Thema.«
»Tja, schätze, dafür
ist es jetzt sowieso zu spät.«
Da sie immer noch
nicht bereit waren, das Thema aufs Tapet zu bringen, zündeten sie
sich immer wieder neue Zigaretten an, tranken lauwarmen
Pulverkaffee und redeten um den heißen Brei herum.
Schließlich riss
Eddie sich zusammen. »Okay, wir müssen seine Leiche
entsorgen.«
Mannomann, es war
echt komisch, Ray Bob als Leiche zu bezeichnen. Doch das war alles,
was er noch war. In einem Moment noch Ray Bob, und im nächsten dann
eine Leiche. Gerade noch hier, und dann plötzlich fort. Tot, Mann.
Fort. Einfach so.
»So weit war ich auch schon, Eddie«, sagte Della.
»Fragt sich nur, wie.«
Er verzog das
Gesicht.
»Was
denn?«
»Mann, das klingt
schrecklich.«
»Was
denn?«
»Alligatoren. Oder
Haie. Allerdings haben wir kein Boot.«
Della verzog jetzt
ebenfalls das Gesicht. Mein Gott, so etwas hatte sie nicht im Sinn
gehabt. »Ich dachte, wir bringen ihn einfach irgendwohin und lassen
ihn dort liegen«, sagte sie.
»Na ja, das wäre
eine Möglichkeit.«
Sie tranken noch
mehr lauwarmen Kaffee und rauchten, während sie weiter überlegten.
Die beiden Jungs schliefen friedlich, an den Welpen geschmiegt.
Della hatte sich gewundert, wie schnell sie wieder eingeschlummert
waren. Junge, sie würde die ganze nächste Woche kein Auge zutun, so
vollgepumpt war sie mit Adrenalin. Eddie hingegen wirkte ziemlich
entspannt. Oder benommen.
»Das mit deiner
Gitarre tut mir leid«, sagte sie.
Doch das hörte er
gar nicht. »Okay, ich hab’s, mir ist gerade was eingefallen. Oben
hinter High Island gibt es dieses Naturschutzgebiet, wenn man von
der Küstenstraße abbiegt, unterhalb des Sabine Pass, kurz vor Port
Arthur. Dort führen mehrere Holzstege in den Sumpf, damit man die
Alligatoren und Biberratten beobachten kann, meistens werden sie
allerdings von Vogelfreunden benutzt. Die Ecke heißt Sea Rim State
Park. Ein Typ, der dort illegal ein paar Ottern gefangen hat, hat
mir davon erzählt.«
Della nickte und
wartete.
»Es ist zwar so,
dass die Küstenstraße oberhalb von High Island wegen der Hurrikans
und so weiter gesperrt ist, weil sie voller Risse ist. Doch dieser
Typ meinte, dass man die Sperren mit einem Truck umfahren kann. Wir
könnten ihn dort hinbringen, auf dem Steg in den Sumpf schleppen
und in ein Alligatornest werfen.«
Ihr lief ein Schauer
über den Rücken. »Warum lassen wir ihn nicht einfach auf dem
Parkplatz irgendeiner Bar? Vom Shipwreck oder so. Das wär
einfacher.«
»Ja, einfacher für
die Cops.« Er schüttelte den Kopf. »Dann dauert es nicht lange, und
sie stehen bei uns auf der Matte und stellen Fragen. Außerdem liegt
der Park in einem anderen Bezirk, falls sie die Leiche doch finden.
Also würden sie in Port Arthur mit ihren Ermittlungen beginnen. Und
diese Stadt versinkt in einer Flut aus Verbrechen, meinte Bubba
Bear.«
»Tja, wenn du das
wirklich für das Beste hältst.«
»Ja.«
»Geht klar, du hast
mit so was mehr Erfahrung als ich.«
»Aber wir müssen
trotzdem beide Trucks nehmen.«
Sie ließ sich die
Sache durch den Kopf gehen. Mein Gott, sie hoffte nur, dass Bubba
Bears Schrottkarre keine Panne hatte.
Eddie rollte die
Leiche in einen zerfransten Kunststoffteppich, den LD und Ruby im
Wohnzimmer liegen hatten. Während er den Körper keuchend die Treppe
hinunterschleifte, wäre er beinahe gestolpert und gestürzt. Draußen
hievte er ihn auf die Ladefläche des roten Dodge Pick-up, kehrte
wieder zurück und wickelte die zwei Pistolen in ein Handtuch,
nachdem er die.22er abgewischt hatte. Unten legte er sie ins
Führerhaus und starrte einen Moment auf all die Waffen darin. Mann,
Ray Bob war wirklich bis an die Zähne bewaffnet gewesen. Dazu ein
Computer, ein Funkgerät und weitere Ausrüstungsgegenstände. Das
Ding sah aus wie der Wagen eines Cops, vielleicht hatte er dem
Ranger gehört. Gott allein wusste, was Ray Bob vorgehabt hatte. Er
selbst wollte es gar nicht wissen.
Oben wickelte Della
jeden der Jungs in eine Decke, und er half ihr, sie zum Chevy
Silverado zu tragen, wo er sie im Fußbodenbereich jeweils auf ein
Kissen bettete. »Was ist mit dem Welpen?«, fragte sie.
Eddie zögerte. »Ich
glaub wirklich nicht, dass ich das schaffe, Della.«
»Was?«
»Ihn an die
Alligatoren zu verfüttern.«
»Um Himmels willen,
ich meine, willst du ihn hierlassen oder mitnehmen?«
»Oh.«
Er verschwand nach
oben, kehrte mit dem Welpen zurück und legte ihn zwischen die
Jungs. Er rührte sich kaum. Als er Della die Schlüssel des
Silverado reichte, zögerte sie und verdrehte die
Augen.
»Was, wenn ich eine
Panne habe?«
»Dann bring ich das
wieder in Ordnung. Oder willst du etwa Ray Bob durch die Gegend
kutschieren?«
Sie nahm die
Schlüssel und stieg sofort in den Wagen. Er sah, dass sie die Bibel
eingepackt hatte. Sie platzierte sie neben sich auf dem
Beifahrersitz. Er ermahnte sie, sich direkt hinter ihm zu halten,
und erklärte, er werde langsam fahren, sodass er sie im Rückspiegel
sehen konnte. Als sie zweifelnd dreinblickte, sagte er, dass sie
sich keine Sorgen machen sollte.
»Warum sollte ich
mir denn Sorgen machen? Nur weil ich mit einer schrottreifen Mühle
jemandem hinterherfahre, der mitten in der Nacht eine Leiche
transportiert?«
»Ganz mein Mädchen«,
sagte Eddie.
Die Straßensperren
auf dem Küsten-Highway bei High Island lagen fünfundzwanzig
Kilometer in nördlicher Richtung, und von dort aus waren es weitere
dreißig zum Naturschutzgebiet. Für die zweite Strecke brauchten sie
gut eine Stunde.
Abgesehen von einem
kurzen Abschnitt, wo der Asphalt kaum Schlaglöcher und Risse
aufwies, war die Straße ein wüstes Wirrwarr aus zerbröselten
Asphaltbrocken über losem Sand, aus Muschelschalen, angespültem
Seetang, Plastikflaschen, Abfall und den aufgeweichten, verkratzten
Fußbodendielen der Bohrinseln und Arbeitsboote. Im schlimmsten Fall
verschwand die Straße, zusammen mit dem Strand, ganz unter den
ansteigenden Fluten des Golfes. Dann konnte man im schwachen Licht
der Scheinwerfer nur noch erahnen, wo sich der Weg zwischen den
plätschernden Wellen und dem Sumpfland entlangschlängelte, ein
schmaler Streifen von mit Gras bewachsenem Sand, in dem die Trucks
immer wieder durchdrehten und ins Schleudern geriet.
Er steuerte
vorsichtig durch die Dunkelheit, die Lichter des anderen Trucks
direkt hinter sich. Ein kräftiger Wind wehte vom Golf her durchs
Beifahrerfenster, warm und feucht; er roch nach Salzwasser, toten
Fischen und Dieselbenzin. In der Ferne, Richtung Steuerbord,
funkelten die Arbeitsscheinwerfer der Bohrinseln unter den Sternen.
Er fragte sich, wie er es bloß geschafft hatte, ihnen zu entkommen.
Fast jeder, mit dem er aufgewachsen war, arbeitete auf den
Ölfeldern, vor der Küste oder landeinwärts. Als Bohrarbeiter,
Bohrgeräteführer oder Deckarbeiter. Er hatte sie gesehen: ohne
Hände, mit verdrehter, zerschmetterter Wirbelsäule, wie sie auf
ihren verkrüppelten Beinen durch die Gegend humpelten und langsam
ausgeschlachtet wurden. Ein hartes Leben. Anders als in den
Raffinerien und Fabriken. Wahrscheinlich bekam man davon keinen
Krebs, doch die Bohrinseln zehrten einen langsam, Stück für Stück,
auf.
Nach der Hälfte der
Strecke verschwanden die Scheinwerfer hinter ihm plötzlich, also
bremste er und lief mit der Taschenlampe, die er unter dem Sitz des
Führerhäuschens gefunden hatte, zu der Stelle zurück, wo der
Silverado liegen geblieben war. Er brauchte fünfzehn Minuten, um
herauszufinden, dass sich ein Kabel gelöst hatte. Während er die
umherschwirrenden Mücken verscheuchte, verband er die beiden Enden
miteinander, dann fuhren sie weiter, vorbei an ausgedienten
Waschmaschinen und Kühlschränken, die zu beiden Seiten der Straße
lagen, vorbei an einem Berg ausrangierter Autoreifen und einer
Lkw-Ladung alter Dachschindeln.
Er zählte drei
Beutelratten und vierzehn Waldkaninchen, sowie ein Dutzend
Augenpaare, die in den Scheinwerfern rot aufleuchteten und wieder
in der Dunkel heit des Sumpfs verschwanden, bevor er sie zuordnen
konnte.
Dann tauchte nach
und nach die Fahrbahn wieder auf, bis sie sanft geradeaus verlief,
hinaus in die feuchte, sternenklare Nacht, und dann waren sie
da.
Das
Naturschutzgebiet war in zwei Bereiche unterteilt. Auf der zum Golf
gelegenen Seite, hinter dem Besucherzentrum und dem
Verwaltungskomplex, erstreckte es sich mehrere Kilometer entlang
eines flachen, windgepeitschten Strandes. Landeinwärts ragte es
klauenartig ins Schwemmland, wo sich der Schlick der
Brandungsströmung gesammelt hatte, Nährboden für Meereslebewesen
und umherziehende Wasservögel. Dort lebten auch die meisten wilden
Tiere. Und die Alligatoren.
Sie parkten auf dem
leeren Besucherparkplatz, und er stieg aus und lief zum Chevy
zurück.
»Du wartest hier so
lange«, sagte er.
»Keine
Sorge.«
»Du kannst ruhig
sitzen bleiben.«
»Ich steig’ nicht
aus.«
»Gut.«
Er lief zurück zum
Dodge Pick-up, als er auf halber Strecke zögerte und noch einmal
zurückkam. »Ich bin gleich zurück.«
»Tja, besser
wär’s.«
»Versprochen.«
»Wo soll ich schon
hinfahren?«
Er atmete tief durch
und starrte über den Weg hinweg in die unermessliche Dunkelheit der
Feuchtgebiete, dort, wo sich der Steg befinden musste. »Das wird
nicht leicht.«
»Du hast gemeint, so
wär es am besten.«
»Ja, das
stimmt.«
»Also
dann.«
»Ich komme
wieder.«
Er öffnete die
Heckklappe des Pick-Uup, zerrte den zusammengerollten Teppich mit
der Leiche herunter und wuchtete ihn sich auf die Schulter, während
er mit der anderen Hand die Taschenlampe auf den Bereich hinter der
Straße richtete. Der schmale gelbe Lichtstrahl tänzelte auf der
anderen Seite hin und her, bis er auf einem bestimmten Punkt
verharrte und vorwärtswanderte. Nach einer Minute verschwand er
schließlich ganz.
Die Mücken waren
wirklich lästig, also kurbelte sie die Fenster hoch und zog es vor
zu schwitzen. Während sie mit der Bibel in den Händen dahockte,
fragte sie sich, wie es möglich war, dass jemand, der so darum
bemüht war, das Richtige zu tun, schließlich, ohne es zu wollen,
zwei Menschen auf dem Gewissen hatte. Das Leben steckte voller
Überraschungen, und einige davon waren nicht sehr angenehm. Das war
keine besonders neue Erkenntnis, aber es war eine Lektion, die man
immer wieder am eigenen Leib erfahren musste.
Dann sah sie erneut
die Taschenlampe, und wie er mit dem leeren Teppich die Straße
überquerte, mehrere Gegenstände aus dem roten Truck holte und
wieder zurücklief. Sie wartete. Es war schon was anderes, sich so
etwas im Fernsehen anzuschauen oder es selbst zu
erleben.
Als er das zweite
Mal zurückkehrte, beobachtete sie, wie er das Lenkrad des roten
Trucks mit einem Handtuch abwischte. Dann kam er mit dem Teppich
und dem Handtuch herüber und legte beides auf die Ladefläche des
Silverado. Als er zu ihr in den Wagen stieg, rutschte sie auf den
Beifahrersitz, und sie wendeten und fuhren die kaputte Straße
zurück.
Die meiste Zeit
schwiegen sie. Einmal hielt er kurz an, neben einem Berg schwarzer
Plastikmüllbeutel voll wer weiß was und einem kaputten Sofa mit
rostigen Sprungfedern ohne Polster, und warf den Teppich und das
Handtuch ins hohe Gras dahinter. Dann fuhren sie
weiter.
»Haben wir auch an
alles gedacht?«, fragte sie.
»Ich hoffe doch«,
sagte er.
»Sonst fällt mir
nichts ein.«
»Mir auch
nicht.«
»Gut, dann ist es
vorbei.«
Er warf ihr einen
seltsamen Blick zu.
Als sie die
Straßensperren bei High Island umkurvten und auf den befahrbaren
Straßenabschnitt bogen, der entlang der Halbinsel verlief, fragte
sie: »Glaubst du, dass sie ihn finden?«
»Würd mich
wundern.«
»Ich hoffe,
nicht.«
»Es ist ziemlich
unwahrscheinlich.«
Für eine Weile
fuhren sie schweigend weiter; der leere Highway erstreckte sich
zwischen grasbewachsenen Dünen auf der Strandseite und den
sumpfigen Feuchtgebieten, die sich weiter in die Dunkelheit
Richtung Intracoastal Canal und East Galveston Bay ausdehnten. Sie
musterte die Bibel in ihren Händen. »Ich schätze, wir hätten ein
paar Worte sagen sollen oder so, das wäre angemessen
gewesen.«
Das habe er,
erwiderte Eddie.
»Was
denn?«
Er steckte sich eine
Zigarette an und starrte durch die Windschutzscheibe auf die
Straße. »Mir sind keine passenden Bibelverse eingefallen, darum hab
ich einen Song zitiert, den ich kenne.«
»Willst du’s mir
erzählen?«
»Wenn du
möchtest.«
»Hab nichts
dagegen.«
Er zog an der
Zigarette, schnippte die Asche aus dem Fenster. »Es stammt aus
einem Bluessong.«
The old folks told me long time ago
Don’t trust nobody that I don’t know
I don’t trust nobody
Not even myself
Now I don’t trust you
Don’t trust nobody else4
Er schwieg, und nach
einer Weile schlang sie ihren Arm um seine Rückenlehne und legte
die Hand auf seine linke Schulter. »Das glaubst du nicht wirklich,
oder?«
»Nein«, sagt er,
»aber er hat das geglaubt.«
Wortlos fuhren sie
weiter, über die Rollover-Pass-Brücke, durch Gilchrist, nach
Crystal Beach; die Kinder unten im Fußbereich schliefen immer noch,
den Welpen in ihrer Mitte dicht an sich geschmiegt. Als sie vom
Highway auf die Straße Richtung Haus bogen, sagte sie: »Gibt es
sonst noch was, über das wir reden sollten?«
»Du hast da wohl an
was ganz Bestimmtes gedacht.«
»Ich hab mich
gefragt«, sagte sie, »was dein richtiger Name ist.«
Er wandte sich ihr
zu. »Mein Name ist DeReese Ledoux.«
Kurz darauf fuhren
sie auf den Parkplatz vor dem Haus, und er schaltete den Motor aus.
Abgesehen von den Brandungswellen am Strand und dem Wind, der im
Gras raschelte, war es still. Dann sagte sie: »Okay, ich muss dir
auch was sagen.«
»Was
denn?«
»Na ja, ich bin kein
richtiges Model.«
»Hab ich mir
gedacht«, sagte er.
Junge, das
überraschte sie jetzt wirklich.