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Als er sich Woodville, dem Verwaltungssitz von Tyler
County, näherte, drosselte er das Tempo. Die schmale Fahrbahn
schlängelte sich sanft durch die hügelige Landschaft, die zu beiden
Seiten, mal spärlich, mal dicht, von grünen Wäldern gesäumt wurde.
Holztransporter brausten vorbei, die Zugmaschinen rödelten durch
die Gänge, und auf ihren Anhängern türmten sich riesige
Kiefernstämme. Auf kleinen staubigen Lichtungen entlang der Straße
standen mehrere Mobile Homes, umgeben von Gerümpel und
Hühnerkäfigen. Davor standen meist Pick-ups, kaum Pkws. Sandpisten
führten zu versteckten Bauernhöfen, und an einige Bäume waren
handbeschriebene Schilder genagelt: STAMMFRÄSEN, FRISCHE EIER,
FEUERHOLZ, ERDTRANSPORTE.
»Fräs meinen Stamm,
Baby«, murmelte Ray Bob, »wühl in meiner Erde.«
Er fuhr weiter.
Vorbei an einem mobilen Sägewerk, an einer von Eichen umgebenen
Weide mit grasenden Herefordrindern, an einem Esel und einer weiß
getünchten Kirche, die auf Backsteinpfeilern ruhte. Full Gospel
Tabernacle of Jesus Our Saviour. Kurz darauf passierte er das
eingezäunte Grundstück eines Gasversorgers mit Aluminiumgebäuden in
Fertigbauweise. Um das Gelände herum waren die Bäume dem Erdboden
gleichgemacht worden. Dann folgten ein Laden für Tierzubehör mit
Zaumzeug im Sonderangebot und ein Traktorhändler. Niedrige
Ranchstyle-Häuser unter Kiefern. Und Anhänger mit gebrauchten
Sportfischerbooten, die zum Verkauf standen.
Schließlich
erreichte er Woodville mit seinen vier- bis fünftausend
Einwohnern.
Dort passierte er
erneut eine Kirche mit einem Aufsteller davor: Frühaufsteher gehen nicht spät zu Bett, denkt dran, Jesus
ist für euch gestorben. Seid ihr bereit? Es folgten weitere
Kirchen. Nazarener, Assembly of God, Apostolen, eine
Pfingstgemeinde. Bethäuser, Gemeinden, heilige Orte. Und alle
möglichen Baptisten: First, Shiloh, Zion, Ebenezer, Missionary,
Pilgrim. Kirchen, wohin man schaute. Ein gottverdammt religiöser
Ort, auf den doch so viel Niedertracht wartete, dachte Ray
Bob.
Er fuhr am
Ortsschild von Woodville vorbei, hinter dem das
Hauptgeschäftsviertel begann. Die Bezirkshauptstadt, in der alle
einkauften. Er parkte beim Wal-Mart und vertrat sich die Beine.
Später Nachmittag, und im Westen hing die rote Sonne. Es war immer
noch warm, doch es würde bald abkühlen. Einige Stärlinge
inspizierten den Gehweg, gefiederte Wegelagerer, die auf und ab
stolzierten und nach Leckerbissen Ausschau hielten. Von den Bäumen
drang das Zirpen der Zikaden und Grillen herüber.
Er betrat den Laden,
kaufte eine Zwei-Liter-Plastikflasche Dr. Pepper und eine riesige
Tüte Käse-Flips. Im Eingangsbereich steckte er die aktuelle Ausgabe
des East Texas Peddler ein und
studierte das Schwarze Brett. Frischer Wels zu verkaufen, sowie
eine Remington Pumpgun Kaliber.12. Auf Karteikarten wurden
Ackerland, gebrauchte Babykleidung und Deckhengste angeboten.
Außerdem hingen hier Flugblätter für eine Gospel-Musik-Show in der
Highschool mit den Clouds of Glory und dem True Light Gospel Trio.
Sein Blick wanderte zur Seite und verweilte auf einem Stück braunem
Papier, das von einer Einkaufstüte abgerissen worden war:
Mayhaw-Gelee, frisch eingemacht, 2 Dollar das
Pfund. Ethel Matthews, Jasper. Rufen Sie mich
an.
Ray Bob lächelte.
Keine Telefonnummer. Tante Ethel, die Schwester seiner Mutter. Zum
vierten Mal verheiratet, zumindest war das sein letzter Stand. Den
ersten Mann hatte sie unter die Erde gebracht, indem sie sein Essen
vergiftete, den zweiten mithilfe eines Eispickels. Der dritte war
spurlos verschwunden. Und den aktuellen, Onkel Hardy, hielt sie
ordentlich auf Trab. Falls er überhaupt noch unter den Lebenden
war.
Er startete den
Caddy und fuhr Richtung Norden, bremste dann an einer roten Ampel,
dort, wo die Straße den Highway 190 kreuzte. Der Ortskern. Zu
seiner Linken das Gerichtsgebäude und die Bank. Bog man nach rechts
ab, vorbei am Pfandleiher, führte die Straße in östlicher Richtung
nach Jasper, unten in der Flussniederung. Der Ort, in dem Tante
Ethel lebte. Wie der ganze Clan.
Ein getunter Honda
Civic bremste rechts neben ihm und quetschte sich zwischen Caddy
und Bordstein, um abzubiegen. Im Wagen hockten zwei junge Schwarze
mit Goldketten und verkehrt herum aufgesetzten Baseballmützen über
ihren Cornrows, der Wagen wackelte in der Aufhängung, und aus der
Stereoanlage dröhnte laute Rapmusik. Ray Bob warf einen Blick
hinüber und zeigte ihnen den Stinkefinger. Die beiden starrten ihn
einen Moment lang an und rollten dann langsam um die Kurve. Die
Ampel sprang auf Grün, er fuhr geradeaus über die Kreuzung, vorbei
am Sonic Drive-in und dem Woodville Inn, und bog dann auf den
Highway 287, Richtung Westen. Eine schmale, zweispurige Straße
durch den hübschen Teil der Stadt. Backsteinhäuser lagen heimelig
zwischen dunkelgrünen Magnoliensträuchern, von Heckenkirschen
überwucherten Zäunen und Gärten mit Azaleen unter niedrigen,
blühenden Hornsträuchern. Einige Kilometer außerhalb der Stadt
drosselte er das Tempo und wechselte auf die Fahrspur, die bergauf
zu einem kleinen Rastplatz führte. Kirkland Springs, errichtet im
Zuge einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme während des New Deal. Er
parkte unter einer alten Buche oberhalb der Quellen und hockte sich
mit der Wal-Mart-Tüte auf einen Picknicktisch aus
Beton.
Im Schatten der
Hügel war es kühl, und abgesehen vom Gezwitscher der Blauhäher und
Singvögel herrschte Stille. Er trank die lauwarme Dr. Pepper und
verschlang schmatzend die Käse-Flips, während er den East Texas Peddler las, das kostenlose Wochenblatt
für Leute, die was zu verkaufen hatten. Nichts als Anzeigen, alles
vom Zweiachser bis zum Verlobungsring mit echten Diamanten, noch in
der Originalverpackung, garantiert. Jede Menge gebrauchte Trucks
und Sportfischerboote. Außerdem Werkzeug, Vieh, Jagdhunde,
Schleifketten, neuwertige Sofagarnituren, was auch immer, die ganze
Welt stand zum Verkauf. Sorgfältig studierte er die Anzeigen für
Sportfischerboote. Dagegen hätte er nichts einzuwenden. Zwischen
hier und Jasper erstreckte sich der Neches River, und dahinter
lagen der Dam B Lake und die benachbarten großen Stauseen, der Sam
Rayburn und der Toledeo Bend, beide berühmt für ihre
Angelwettbewerbe. Mit der richtigen Ausrüstung konnte man eine
ganze Woche auf dem Wasser verbringen. Er war noch nie mit einem
Sportfischerboot gefahren. Eine dieser sieben Meter langen
Fiberglas-Maschinen mit benzinbetriebenem V-6 Mercury-Motor am
Heck, doppelter Steuerkonsole über einem belüfteten Köderkasten,
verstellbarem Steuerrad, einem leistungsstarken Echolot von
Lowrance und einem Trolling-Motor am Bug. So eine Ausstattung
kostete dreißig Riesen. Gebraucht vielleicht zehn, irgendwo im
Peddler, von jemandem, der gerade
seinen Job verloren hatte und die Raten für sein Haus nicht mehr
zahlen konnte.
Ray Bob war so tief
in Gedanken versunken, dass er gar nicht hörte, wie der Wagen den
Hügel heraufkam. Erst als die Türen zuschlugen, bemerkte er die
beiden Typen. Es waren die schwarzen Jungs aus dem Honda Civic,
denen er den Stinkefinger gezeigt hatte. Er war sich ziemlich
sicher, dass sie die Musik diesmal nicht angehabt hatten. Sie
standen da und stierten ihn an wie zwei Eingeborene, die ihn mit
einem Voodoozauber belegen wollten. Genau zwischen ihm und dem
Caddy. Dort, wo sich seine Pistole befand. Er versuchte sich einen
Überblick zu verschaffen. Sie trugen beide Schlabberhosen, einen
weiten Pullover und ein Paar Nikes. Der eine war groß, der andere
klein, der eine hatte tiefschwarze, der andere hellbraune Haut und
Sommersprossen. Beide waren weder dick noch besonders muskulös –
zwei dünne, schmalschultrige Burschen. Noch im Teenageralter oder
Anfang zwanzig, schwer zu sagen. Wahrscheinlich nicht besonders
schnell, bei dem zusätzlichen Gewicht ihrer Goldketten. Das konnte
lustig werden. Seit seinem Knastaufenthalt vor mittlerweile drei,
vier Monaten hatte er keinem schwarzen Burschen mehr den Arsch
versohlt.
Schließlich lehnte
sich der größere der beiden zurück und griff in den Honda. Er zog
einen Baseballschläger aus Aluminium hervor und legte ihn sich über
die Schulter.
Ray Bob betrachtete
den Schläger, dann den Typen. »Ich dachte, in eurer Volksgruppe
spielt man Basketball?«
»Willst wohl Stress,
Alter, was?«
»Eine Frage noch«,
sagte Ray Bob, »das interessiert mich einfach. Es geht um Lärm in
der Öffentlichkeit. Warum glaubt ihr eigentlich, dass die ganze
Welt hören will, wie Run XYZ und Snoopy Dogshit diesen Niggerdreck
herausbrüllen, den ihr Musik nennt?«
Der kleine Bursche
tastete jetzt nach seiner Gesäßtasche und brachte ein Teppichmesser
aus rostfreiem Stahl zum Vorschein. Er schob die Klinge heraus.
»Hmm«, sagte er, »das Weißbrot hier hält sich für ganz schlau,
Lionel.«
»Ihr müsst mal raus
aus diesem Kuhdorf hier, Bruder«, sagte Ray Bob, »damit ihr wisst,
wie man inzwischen so redet. Oder mal die Glotze einschalten, einen
dieser Sender für Niggermusik. Weißbrot nennt man uns schon lange
nicht mehr. Und Landei auch nicht.« Er grinste. »Das wär so, als
würd ich euch Kaffer nennen.«
»In einer Minute
wirst du mich Sir nennen«, erklärte der Kleinere.
»Der Wichser wird
gleich nach seiner Mutter rufen«, sagte der andere.
»Ich werd nur eins
rufen«, sagte Ray Bob, »nämlich den Krankenwagen. Wenn ihr zwei
Arschlöcher euch nicht vom Acker macht. Ihr habt zehn
Sekunden.«
Doch das taten sie
nicht, und sie waren schneller, als er gedacht hatte. Dem Kurzen
konnte er zwar das Teppichmesser aus der Hand reißen und ihm einen
kräftigen Tritt in die Eier verpassen, worauf er kreischend zu
Boden stürzte, doch der andere, der Lionel hieß, erwischte ihn mit
dem Schläger am Kopf. Mit einem kurzen, wuchtigen Schlag. Ein
metallischer, dumpfer Knall ertönte, und Ray Bob wirbelte durch den
Staub. Sein Kopf dröhnte, und er sah nur noch Sterne. Taumelnd
rappelte er sich wieder auf, stürzte nach vorne und wich dabei
einem weiteren Schlag aus, sodass dieser lediglich seine Schulter
streifte. Allerdings tat er höllisch weh, schlimmer als der erste,
und sein linker Arm hing jetzt schlaff herab. Er ging in die Knie,
tauchte unter dem dritten Schlag hindurch und schlitze dem Burschen
mit dem Messer den Oberschenkel auf, während dieser sich um die
eigene Achse drehte. Ray Bob hörte, wie er aufschrie, doch bevor er
selbst aufstehen oder sich umwenden konnte, traf ihn der Schläger
im zweiten Anlauf flach auf den Rücken; er kriegte keine Luft mehr
und fiel vornüber aufs Gesicht. Während er dort im Staub lag,
wartete er auf den Schlag, der ihm den Rest gab.
Doch der kam nicht.
Stattdessen rollte der größere der beiden Ray Bob auf den Rücken
und setzte sich rittlings auf seinen Brustkorb; schwer atmend
hockte er über ihm, in der einen Hand den Baseballschläger, die
andere fest gegen den Oberschenkel gedrückt. Er blutete kaum,
stellte Ray Bob fest, er konnte ihm höchstens einen kleinen Kratzer
verpasst haben. Er schloss die Augen und riss sie wieder auf. Er
konnte kaum etwas erkennen, sah immer noch Sterne, doch wenigstens
konnte er allmählich wieder atmen. Den Blick nach oben gerichtet,
lag er da und umklammerte seine Schulter. Sie wurde von Schmerzen
durchzuckt. Jetzt beugte sich der Kerl zu ihm herunter, sein
tiefschwarzes Gesicht schwebte ganz dicht vor seinem. Er sprach
leise, flüsterte fast.
»Zeig das nächste
Mal’n bisschen Respekt, Weißbrot, oder du bist tot.«
Ray Bob grinste.
Zwar nur schwach, das konnte er spüren, aber er grinste. Er hob
seine rechte Hand und zeigte dem anderen den
Stinkefinger.
Schnaubend richtete
sich Lionel auf, schüttelte den Kopf und ging davon. Ray Bob hörte,
wie er seinem Kumpel zum Wagen half, dann heulte der Motor auf. Die
Stereoanlage wurde voll aufgedreht, Bässe bis zum Anschlag, als
gäbe es gar keine Höhen – ein einziges übersteuertes Durcheinander.
Ray Bob lag da und starrte in die oberen Äste der Buche, bis das
Wummern den Hügel hinunterwanderte und sich schließlich verlor.
Keuchend betrachtete er den tiefblauen Nachmittagshimmel durch die
dunkelgrünen Blätter und lauschte dem Gesang der Zikaden. Seine
Schulter würde wohl ein Weilchen wehtun. Er fragte sich, warum er
den Wagen ohne Waffe verlassen hatte.
Er hatte es mal
wieder vermasselt.
So ein Scheiß
passiert eben, wenn du alleine unterwegs bist, wenn dein Kumpel den
Schwanz einzieht.
Die Schlampe
verdiente ihre Lektion.