ZWISCHENSPIEL
Eddie und Ray Bob waren drinnen im Gulf Coast Market
an der Küstenstraße und kauften Lebensmittel ein, während Della ein
paar Anrufe erledigte. Das Telefon war draußen an der Wand in der
Nähe des Eingangs angebracht, unter freiem Himmel, kein bisschen
Schatten. Es war Mittagszeit an einem heißen Tag, die Sonne im
Zenit, kein Wind, hohe Luftfeuchtigkeit. Mit den zwei Rollen
Vierteldollars, die Eddie ihr gegeben hatte, stand sie in der Hitze
und schmolz dahin.
Della machte vier
Anrufe.
Anruf Nummer
eins:
Sie besorgte sich
bei der Auskunft die Nummer des Houston
Chronicle, ließ sich mit der Redaktion verbinden und fragte
nach dem Reporter, der für Verbrechen zuständig war. Schwere
Verbrechen. Mord und solche Sachen.
»Sie meinen den
Polizeireporter«, sagte die Stimme. »Einen
Augenblick.«
Drei Vierteldollars
später meldete sich ein Mann am anderen Ende der Leitung.
»Ja?«
»Ja«, echote Della.
»Ich bin eine interessierte Leserin des Chronicle und habe etwas im Fernsehen gesehen, das
ich in der Zeitung nicht gefunden habe. Da habe ich mich gefragt,
warum. Ich wollte was darüber lesen. Sie liefern ja immer mehr
Einzelheiten und so.«
»Worum geht es
denn?« Der Typ klang gelangweilt.
»Also, da gab es
wohl einen Mord im Holiday Inn, draußen am Interstate 10, glaube
ich, noch hinter der Schleife.« »Wann soll das gewesen
sein?«
Della zählte. »In
der Nacht vor drei Tagen, glaube ich.«
Der Reporter redete
mit jemandem an seinem Ende der Leitung. Sie lauschte dem Murmeln
seiner Stimme. Dann war er wieder da. »Davon weiß ich nichts. Auch
der Kollege von der Nachtschicht hat nichts davon gehört, er sitzt
gleich neben mir. Was können Sie mir darüber sagen?«
Della schwieg einen
Moment. Herr im Himmel, sie war gerade dabei, sich selbst ans
Messer zu liefern. Ein Krimineller, der an den Schauplatz eines
Verbrechens zurückkehrt, von dem niemand etwas weiß.
»Also … Ich bin
nicht sicher, dass es passiert ist.
Deswegen rufe ich ja an. Vielleicht hab ich was missverstanden. Ich
war im anderen Zimmer und konnte es nicht so gut hören. Danke, dass
Sie das aufgeklärt haben.«
»Sie haben vom
Holiday Inn gesprochen, stimmt’s?«
»Lanes«, antwortete
Della. »Holiday Lanes, die Bowlingbahn. Aber ich hab mich wohl
geirrt. Es war ja sowieso nicht wichtig, ich war bloß neugierig.
Hoppla, bei mir klingelt’s an der Tür. Ich muss los. Danke,
wiederhören.«
Sie hängte ein.
Verdammt.
Anruf Nummer
zwei:
Erneut rief sie bei
der Auskunft an und ließ sich die Nummer der Houstoner Polizei
geben, Mordkommission. Ein Sergeant Eastland war am Apparat. Sie
gab sich als Reporterin der Fernsehnachrichten aus.
»Welcher
Sender?«
Della kniff die
Augen zusammen und dachte schnell nach. »KPRC«, sagte
sie.
»Wie war Ihr
Name?«
»Stone«, sagte
Della. »Stone … Waters.« Sie zuckte zusammen.
»Das ist ein
komischer Name«, sagte der Sergeant. »Ist das ihr Pseudonym fürs
Fernsehen?«
Della sagte: »Ich
komme aus New York.«
»So klingen Sie gar
nicht.«
»Ich bin ganz oben
in Minnesota aufgewachsen.«
»Für mich klingen
Sie wie eine Texanerin«, stellte Eastland fest. »Wie ist denn ihr
richtiger Name?«
Della schwieg einen
Moment. »Das ist mein richtiger
Name.«
»Sie sind mir im
Fernsehen nie aufgefallen. Manchmal sehe ich Ihren Kanal. Aber
wahrscheinlich sind Sie neu. Frisch aus New York.«
»Ganz genau«, sagte
Della. »Ich habe diese Woche gerade angefangen. Ziemlich heiß hier
unten. Puh!«
»Allerdings. Ich sag
Ihnen was, Miss Waters, ich stecke bis zum Hals in einer
Morduntersuchung, eine Leiche aus dem Schifffahrtskanal,
Vietnamese, wenn es also kein Notfall ist, würde ich Sie gern so
bald wie möglich zurückrufen. Was halten Sie davon?«
Della stieß den Atem
aus und überlegte, wie eine echte Reporterin wohl reagieren würde.
Wahrscheinlich würde sie nach dieser Leiche fragen. Plötzlich
überkam sie die Gewissheit, dass der Kerl Bescheid wusste. Er nahm
sie bloß auf den Arm.
»Wie ist Ihre
Telefonnummer, Miss Stone?«
»Vergessen Sie’s«,
sagte Della kurz angebunden. »Wenn Sie nicht mit den Medien
sprechen wollen, rufe ich einfach beim Polizeichef an. Vielleicht
hat der ja Zeit.«
Sie hängte ein.
Verdammt.
Anruf Nummer
drei:
Sie wählte die
Nummer des Schönheitssalons in Sugar Land. LeeAnne, die am zweiten
Stuhl arbeitete, hob ab.
»Clippers and
Curls.«
»LeeAnne, hier ist
Della. Kann ich mit Ruby sprechen?«
»Della, Mädchen, wo
bist du? Momentchen.«
Sie hörte, wie
LeeAnne den Hörer mit einem dumpfen Geräusch weglegte und Ruby ans
Telefon rief.
Kurz darauf meldete
sich Ruby. »Da werd ich doch zum Chinesen. Ich hab echt gedacht, du
bist tot, Mädchen. Wohin hast du dich verdrückt?«
»Mir ging’s nicht
gut, Ruby. Ich hatte doch diesen Freund, von dem ich dir noch nicht
erzählt hatte. Er hat mich aus heiterem Himmel verlassen. Das hat
mich echt umgehauen. Ehrlich, ich war im Bett, und es ging mir
sooo schlecht.«
»Dieser Scheißkerl.
Wie heißt er?«
»Egal, Ruby, der ist
schon Geschichte. Mach dir keine Sorgen.«
»Warum bist du nicht
ans Telefon? Ich hab nämlich angerufen, Schätzchen. Ich hab mir
furchtbare Sorgen gemacht.«
»Ich konnte einfach
nicht, Ruby. Deswegen ruf ich ja an. Ich brauch noch etwas frei.
Und ich hab mich gefragt, ob ich wohl LDs Hütte für ein paar Tage
benutzen könnte. Ich brauch ein bisschen Zeit zum
Nachdenken.«
»Was ist mit den
Kindern?«
»Meine Mama hat sie.
Gott, ich weiß nicht, was ich ohne sie tun würde. Die Kinder machen
mich fertig. Meinst du, LD hätte was dagegen?«
»Nein, Schätzchen,
dem ist die Hütte egal. Der Pisser geht sowieso nur hin, wenn er
vor dem Telefon flüchten und sich besaufen will. Aber das kann er
vergessen. Gestern war er beim Arzt. Sein Blutdruck war
hundertfünfundneunzig zu hundertfünfzig, kannst du dir das
vorstellen? Eigentlich unglaublich, dass er nicht umkippt. LD ist
weg vom Alkohol. Warum hast du mir eigentlich nie von diesem Freund
erzählt?«
»Ich wollte nicht,
dass du dir Hoffnungen machst. So wie ich sie mir gemacht
hab.«
»So ein
Scheißkerl!«
»Du hast also nichts
dagegen?«, fragte Della. »Dass ich mir ein paar Tage
freinehme?«
»Nee, geht klar, so
viel ist hier im Moment nicht los. Außerdem will LeeAnne mehr
Stunden arbeiten, sie plant einen Trip nach Cancun. Sie hofft, dass
Carl ihr da unten einen Antrag macht. Ich hab gesagt, sie soll sich
keinen Illusionen hingeben, aber sie hört ja nicht auf mich. Weißt
du, wo der Schlüssel ist?«
»Unter dem
Treppenhaus?«
»Jawohl, Schätzchen.
Vergiss deine Sonnenmilch nicht. Du willst schließlich keinen
Hautkrebs kriegen.«
Einen Moment lang
lag Della auf der Zunge: Ruby, erinnerst du dich an das Messer aus
Nuevo Laredo, das du mir geschenkt hast? Bloß zum Spaß? Also, du
errätst nie, was damit passiert ist.
Stattdessen sagte
sie: »Prima, danke tausendmal, Ruby! Ich ruf dich bald
an!«
Sie legte auf.
LeeAnne war also dabei, sich zu verloben. Verdammt.
Anruf Nummer
Vier:
Sie rief ihre Mutter
in Missouri City an. Randy hob ab, vielleicht auch Waylon, sie war
sich nicht ganz sicher, einer von ihnen atmete jedenfalls in den
Hörer, während sie immer wieder sagte: »Hier ist deine Mutter, hol
mal Grandma an den Apparat.« Auf diese Weise verschwendete sie vier
Vierteldollars – jetzt war sie schon bei der zweiten Rolle.
Schließlich meldete sich ihre Mutter.
»Hallo?«
»Ich dachte schon,
du kommst gar nicht mehr«, sagte Della. »Ich bin’s.«
»Ich war nebenan
beim Fernsehen, um ein bisschen auszuspannen. Oprah hat diesen
Jungen da, der seine Mutter umgebracht hat. Ich hab das Telefon
nicht mal gehört. Hat es geklingelt?«
»Natürlich hat es
geklingelt. Wer von den beiden hat denn abgenommen?«
»Waylon. Hast du mit
ihm gesprochen?«
»Na ja, ich hab’s
versucht. Aber er hat bloß geatmet.«
»Ich glaube, er
vermisst dich. Er spricht kaum. Er steht nur rum und lutscht seinen
Daumen wund.«
»Sag ihm, er soll
damit aufhören«, sagte Della. »Er wird sich noch die Zähne
ruinieren. Er ist bloß nervös.«
»Das sind sie wohl
beide. Weißt du, dass sie noch ins Bett machen? Randy hat
gehustet.«
»Hast du ihm seine
Medizin gegeben?«
»Ich versuch es«,
sagte ihre Mutter. »Er mag sie nicht. Die beiden sind furchtbar
anstrengend. Wann kommst du zurück?«
»Ich weiß noch
nicht. Es sind ja gerade mal drei Tage, weißt du. Ich fang gerade
an, mich zu entspannen. Hat jemand angerufen?«
Sie hörte, wie ihre
Mutter nachdachte. »Wer soll hier schon für dich
anrufen?«
»Ich weiß nicht.
Himmel, es könnte doch immerhin jemand
anrufen. Die Finanzierungsgesellschaft zum Beispiel, wegen meinem
Auto. Dann sollen sie einfach eine Nachricht hinterlassen. Sag
ihnen, ich rufe zurück.«
»Was soll ich auch
sonst tun«, bemerkte ihre Mutter. »Solange du mir nicht sagst, wo
du bist. Und wenn nun irgendwas passiert, ein
Notfall?«
»Dann wählst du 911,
was denn sonst. Wo ich im Moment bin, gibt es kein Telefon. Und
negative Gedanken führen sowieso nur dazu, dass solche Sachen
passieren. Denk positiv!«
Ihre Mutter machte
ein leises saugendes Geräusch mit dem Mund. »Ich verstehe gar
nicht, wie du ohne Telefon leben kannst.«
»Du wärst
überrascht«, entgegnete Della. »Also, ich muss Schluss machen, mir
gehen die Münzen aus. Küss Randy und Waylon von mir. Sag ihnen,
Mama hat sie lieb.«
Ihre Mutter schwieg,
traf aber keine Anstalten, das Gespräch zu beenden. »Randy hat
Waylon geärgert, das arme kleine Ding.«
»Na, dann gib ihm
ordentlich was hinter die Löffel und stell ihn in die Ecke. Ich
will keinen Ärger.«
»Er keilt nach mir
aus.«
»Dann hol deinen
Gürtel raus. Meine Güte, du weißt doch, wie man das macht, Mama, du
hast vier Kinder großgezogen.«
»Deshalb bin ich ja
so kaputt.«
»Ich muss los«,
sagte Della. »Ich ruf später an. Bis dann.«
Sie hängte ein.
Verdammt. Sie hätte sie daran erinnern müssen, ihr Eisen zu
nehmen.
Della stand in der
Hitze neben dem Telefon und wartete auf Eddie und Ray Bob. Sie
dachte an Mister Traumschiff und fragte sich, was wohl passiert
war. Es ergab keinen Sinn, dass die Zeitung nicht Bescheid wusste.
Und sie hatte keine Chance gehabt, etwas aus diesem Polizisten
herauszukriegen, Sergeant Eastland. Für ihren Geschmack war er ein
Klugscheißer. Vielleicht hielten sie es auch geheim, wo Mister
Traumschiff doch so ein wichtiger Manager war. Wegen der Public
Relations vielleicht. Große Unternehmen kamen auch mit Mord durch,
das hatte sie in Dateline gesehen. Die
ganze Sache machte sie jedenfalls verrückt. Wenigstens hatte sie
sich mit Ruby geeinigt, wegen der Hütte. Und dass sie nicht zur
Arbeit kommen würde. Natürlich wurde sie für die freien Tage nicht
bezahlt. Am Monatsende musste sie sich
um dieses kleine Problem kümmern, aber eins nach dem anderen. Sie
fragte sich, wo der Hyundai jetzt war. Sie dachte an Waylon, der am
Daumen lutschte. Junge, die Probleme hörten einfach nicht
auf.
Sie hörte, wie Eddie
ihren Namen rief. Er und Ray Bob saßen schon im Auto, draußen auf
dem Parkplatz, und tranken Bier. Wahrscheinlich wäre es das Beste,
überhaupt nicht bei ihnen einzusteigen. Sondern zu Fuß nach Hause
zu gehen. Ray Bob war schon halb zugedröhnt. Als sie neben Della
bremsten, rollte der Caddy langsam auf die Straße. Sie stieß einen
Schrei aus, und das machte Ray Bob wütend. Sie warfen sich
gegenseitig Schimpfwörter an den Kopf, während Eddie still wie ein
Mäuschen auf dem Beifahrersitz hockte.
Aber in dieser Hitze
würde sie auf keinen Fall zu Fuß gehen.
Als sie auf den
Rücksitz kletterte und sich zwischen die Lebensmitteltüten
quetschte, beobachtete Ray Bob sie im Rückspiegel, eine nicht
angezündete Zigarette im Mundwinkel. Immer noch sauer, der
Scheißkerl. Ohne sich zu ihr umzudrehen, sagte er: »Der verdammte
Zigarettenanzünder ist weg. Hast du ihn dir unter den Nagel
gerissen?«
»Was für eine
Frage«, sagte Della. »Ich bin doch kein Dieb. Aber falls du ihn
finden solltest, steck ihn dir in den Arsch.« Sie kreuzte die Arme
und schaute zur Seite hinaus. Im Stillen ergänzte sie: Entschuldige
meine Ausdrucksweise.
Ray Bob starrte
immer noch in den Rückspiegel. »Wenn gewohnheitsmäßige Lügner für
kleine Dinge beschuldigt werden, die sie nicht getan haben, dann
reagieren sie viel beleidigter als normale Leute.«
»Tatsächlich«,
murmelte Della.
»Das behauptet
jedenfalls Dashiell Hammett«, erklärte Ray Bob. »Er hat es mal in
einem Buch geschrieben.«
»Tja, dafür solltest
du ihm einen Preis verleihen.«
Mit quietschenden
Reifen bog Ray Bob auf die Küstenstraße. Eddie stützte sich am
Armaturenbrett ab, um sein Bier nicht zu verschütten. Als sie die
Kurve hinter sich hatten, zupfte er an seinem Ohrring. Mann, er
hasste es, wenn Della und Ray Bob sich stritten. Sie taten es ja
nicht bloß zum Spaß. Diese ganze Wut verursachte einen Klumpen in
seinem Bauch.
Er lehnte den Kopf
hinaus in den Wind und schloss die Augen. Es schien ihm, als hätte
er den Namen von dem Kerl schon einmal gehört, der Ray Bobs Zitat
geschrieben hatte. Hamlet. Ja, ziemlich sicher sogar.
Schwungvoll wandte
er sich zu Della um und fragte, ob sie wüsste, wer der Typ war.
Vielleicht konnte er so die Unterhaltung ein bisschen in Gang
bringen. Als sie nicht antwortete, startete er einen neuen Versuch
und fragte, ob sie noch genug Vierteldollars zum Telefonieren
hatte. Sie würdigte ihn keines Blickes. Schließlich fragte er, ob
sie sich Sorgen um ihre Kinder machte. Diesmal antwortete
sie.
»Was glaubst du
wohl, du Penner?«