1
 
Eddie hatte nicht vor, den Typen zu erschießen. Er hatte auch nicht vorgehabt, ihn zu berauben.
 
Nach Rippchensandwichs und Bier im T-Bones Bar-B-Q-House nahmen sie die Lamar in südlicher Richtung. An diesem trägen Tag im Mai hatten sie kein bestimmtes Ziel. Unter dem babyblauen Himmel, über den die Sonne glitt wie ein schmelzendes Stück Butter, ließen sie es ruhig angehen. Vorbei an Gebrauchtwagenläden mit flatternden Reklamebändern aus Plastik, an Reformkostgeschäften, Plattenläden und Bars. Um sie herum war alles erfüllt vom hellen Licht des Südens und der sommerlichen Hitze, von Auspuffgasen, die beißend vom Asphalt aufstiegen, vom hypnotischen nachmittäglichen Alkoholnebel.
Sie fuhren weiter nach Süden durch den äußeren Handelsbezirk und überquerten die Brücke über den türkis schimmernden Colorado. Weiter oben, wo hohe baumbestandene Ufer den Flusslauf flankierten, zog ein einsames Rennruderboot durch die vom Wind aufgewühlte Oberfläche wie ein über das Wasser eilender Tausendfüßler. Flussabwärts lagen die Brücken über die First Street und Congress Street und die an ein schiefes Gebiss erinnernde Silhouette des gläsernen Stadtzentrums.
Austin, Hauptstadt des Staates Texas, Universitätsstadt. Früherer Magnet der Gegenkultur und Zufluchtsort für Slacker – inzwischen nur noch geil auf Geld. Hier trieb man es mit dem Kapital auf Teufel komm raus. Die Balcones-Falte hatte die Beine zum Rudelfick mit Einkaufcentern breitgemacht. Die gedämpften, entspannten Tage waren nur noch Mythos und Geschichte. Und jetzt: Silicon Gulch, Hightech-Hysterie und der Zustrom aus Kalifornien, eine Stadt, die überrannt worden war von Cyberokies, die zwei Generationen nach dem allgemeinen Kopfsprung in die Wüsten des Westens allmählich zurückkehrten, die Taschen voll mit geraubtem Geld.
Sie waren zurückgekommen, um Austin an den Mainstream anzupassen. Und hatten Erfolg gehabt. Von einigen langhaarigen Relikten einmal abgesehen, die sich in vereinzelten universitären Enklaven gehalten hatten, überdauerten die einzigen noch spürbaren Outlaw-Instinkte in der kraftvollen Musikszene des ungezähmten innerstädtischen Club-Distrikts. Die rebellischen tätowierten Jugendlichen dort waren voll aufrührerischer Ideen und hatten unbegrenzt Zeit. Ansonsten jagten Möchtegernpolitiker nach coolen Hauptstadt-Schönheiten, während Dotcom-Kommandos mit Angst vor Bärenmärkten ihrer Bullenlust frönten. Entfesselte Profitgier des freien Marktes.
Auf dieses Szenario trafen Eddie und Ray Bob, Außenseiter aus dem ländlichen Grenzgebiet, aus den nicht wahrgenommenen und vergessenen Randbezirken der urbanen Medienlandschaften. Begafften die Großstadt, um zu sehen, was los war. Und waren nicht sonderlich beeindruckt. Noch mehr Leute, die sich für Dollars krummmachten. Zwei Fremde inmitten weit entfernter Verwandtschaft, jung, arbeitslos und pleite, die nach einem späten und fettigen Mittagessen in Langeweile verfielen. Und in einem gestohlenen Eldorado-Cabrio Fastfood-Lokale und Pfandleihen an sich vorüberziehen ließen.
Bis Ray Bob sagte: »Gib mir was zu rauchen, Kumpel.«
Eddie fischte ein Päckchen aus der Tasche seines T-Shirts, zerknautschte es und warf es aus dem Wagen. »Ich hab keine mehr, halt mal bei diesem 7-Eleven.«
Ray Bob lenkte den Caddy auf den leeren Parkplatz und bremste direkt vor den Doppelglastüren, die über und über mit Reklameschildern für RC-Cola-Zwölferpacks beklebt waren. Er schaltete das Automatikgetriebe in Parkposition und ließ den Motor laufen.
»Hey«, sagte er. »Kauf bloß nicht die beschissenen Filterlosen. Hol welche mit Filter.«
Eddie, der schon ausgestiegen war, stellte einen Fuß auf die Stoßstange und rollte sein Feuerzeug über den Handrücken. »Mann, du weißt doch, dass ich ohne Filter rauche. Wenn du Filterzigaretten willst, gib mir Geld!«
»Ich bin pleite.«
Eddie zuckte die Schultern. »Ich hab bloß vier Dollar, also kauf ich Filterlose.«
»Fick dich!«
»Ach ja? Ich steck ihn dir quer rein, Arschloch.«
»Nimm den Mund deiner Mutter.«
»Schon versucht.«
»Das wundert mich nicht«, sagte Ray Bob. Mit ernstem Gesicht fragte er: »Wie war es denn?«
»Deine war besser«, sagte Eddie. »Sie hat keine Zähne.«
»Dann versuch’s beim nächsten Mal mit ihrer Möse.«
Sie konnten so miteinander reden, sie waren schließlich Kumpel.
Als Eddie den Laden betrat, bimmelten Kuhglocken aus Kupfer an der Tür. Kaleidoskopischer Überblick: ein Konsumenten-Soixante-neuf. Hier drinnen gab es alles, was man wollte, dicht an dicht aufgereiht, um das Auge zu erfreuen und den Betrieb zu beschleunigen. Eddie blieb einen Moment stehen und schüttelte den Kopf. Dann marschierte er zur Kasse zwischen den Lottoscheinen und einem Ständer mit Lone-Star-Schlüsselanhängern. »Geben Sie mir ein Päckchen Camel ohne!«
Der Verkäufer, ein pummeliger junger Mann mit einer Haut wie polierte Bronze und einem schwarzen Schnurrbart, ein Inder oder Pakistani, legte das Päckchen auf die Theke und tippte den Betrag ein. »Vier Dollar und ein Cent«, sagte er.
Eddie schaute auf die Anzeige der Kasse. »Ich hab hier vier Dollar, Partner. Wo ist denn der Behälter fürs Wechselgeld?«
Der Mann deutete auf einen leeren Plastikaschenbecher. »Nichts mehr drin.«
»Hey, kein Problem. Ich bezahl’s beim nächsten Mal.«
Der Verkäufer legte eine Hand auf das Camel-Päckchen und zog es zurück auf seine Seite der Theke. »Es kostet vier Dollar und einen Cent.«
Eddie schaute ihn an. »Du willst das Geschäft wegen einem einzigen Cent platzen lassen?«
Der junge Mann zupfte den Kragen seines roten 7-Eleven-Hemdes zurecht und betrachtete irgendetwas oberhalb von Eddies linker Schulter, als wäre er völlig konzentriert. Als ginge ihn das Ganze gar nichts an. »Das ist eben der Preis.«
Eddie runzelte ungläubig die Stirn. Er ließ den Verschluss seines Feuerzeugs auf- und zuschnappen. Schnapp, schnapp. »Mann, du machst mich fertig.«
»Ich mache niemanden fertig.«
»Natürlich tust du das. Aus welchem Scheißland bist du überhaupt?«
»Aus einem guten Land.« Der Verkäufer blickte ihm einen Moment lang direkt in die Augen, dann drehte er sich nach hinten, um das Päckchen zurück ins Regal zu stellen. Als er sich wieder umwandte, presste er die dunkelbraunen Hände flach auf die Theke. Seine Fingernägel hatten die Farbe von Elfenbein, wie Knochen. Sein Haar war schwarz wie Kreosot, seine Gesichtszüge resolut und angespannt. Vielleicht auch etwas trotzig.
»Ein sehr gutes Land«, sagte er. »Da bezahlen wir für das, was wir bekommen.«
Ein heißer Blitz zuckte wie ein Krampf durch Eddies Schultern, kletterte seinen Hals hinauf und erreichte seinen Kiefer. Er musterte den Typen scharf. »Du gehst mir auf den Sack, Partner. Jetzt hör mal zu. Das hier ist Amerika. Gib mir die Zigaretten!«
»Vier Dollar und einen Cent.«
»Ich glaub’s einfach nicht.«
Aber der Typ gab keinen Fingerbreit nach. Ohne ein Wort stand er einfach da, ein schokoladenfarbener Deputy Doright. Einer seiner Mundwinkel hob sich ganz leicht, womöglich zu einem Grinsen.
»Zum Teufel damit«, fauchte Eddie.
Im selben Moment hob er das rechte Bein, griff in seinen Stiefel und zog einen Revolver Kaliber.22 heraus, einen alten Colt Police Positive mit einem zehn Zentimeter langen Lauf. Er wirkte wie ein Spielzeug. Eddie richtete ihn auf den jungen Mann, den Arm durchgedrückt, einen Finger am Abzug. »Her mit den beschissenen Zigaretten!«
»Überfall!«, kreischte der Mann. Er starrte auf den Revolver, seine dunklen Augen glänzten. Er biss sich auf die Oberlippe und schob den Kiefer vor. »Ich rufe die Polizei. Dann gebe ich Ihre Autonummer durch.«
Also betätigte Eddie den Abzug. Ein scharfer Knall, der Lauf ruckte hoch. Die Kugel traf den Verkäufer direkt in die Stirn. Sein Kopf wurde nach hinten gerissen, und ein kleines schwarzes Loch erschien auf der bronzenen Krümmung seiner Stirn. Einen Moment lang stand er ganz still, die Hände auf der Theke, die Augen über Kreuz. Dann stürzte er zu Boden und verschwand aus Eddies Blickfeld.
Eddie lehnte sich über die Theke. Der Typ lag seitlich auf der dicken Gummimatte, einen Arm über den Kopf gelegt, als wollte er ein Nickerchen halten. »Blödmann«, sagte Eddie. »Da siehst du, was du angerichtet hast.«
Er langte über den Zwischenraum hinter der Theke hinweg und nahm das Päckchen Camel vom Regal. Die vier Dollar ließ er liegen. Er steckte den Revolver wieder in seinen Stiefel und ging hinaus. Als er in den Caddy stieg, bimmelten hinter ihm noch die Kuhglocken.
»Was zum Teufel hast du gemacht?«, fragte Ray Bob. »Jemanden erschossen?«
»Der Schwanzlutscher wollte mir die Zigaretten nicht geben.«
»Ohne Scheiß?«
»Weil ich einen Cent zu wenig hatte.«
Ray Bob grunzte. »Leg dich nie mit einem Mann an, der rauchen will.«
»Mannomann!«, sagte Eddie. »Ich dachte, diese Kameljockeys werden vorher angelernt. Kannst du dir so was vorstellen?«
»Kann ich. Wo ist das Geld?«
»Ich hab’s auf der Theke liegen lassen.«
»Nicht das Geld, du Arsch.« Ray Bob trommelte mit den Handballen auf das Lenkrad. »Das Geld aus der Kasse.«
»Natürlich in der Kasse, wo soll’s denn sonst sein?« Eddie klemmte die Camel-Schachtel mit dem Handgelenk ein und riss das Zellophan mit den Zähnen auf. Seine Hände zitterten. »Ich bin reingegangen, weil ich Zigaretten wollte. Also hab ich Zigaretten geholt.«
»Diese verdammten Filterlosen, klar.« Ray Bob schüttelte den Kopf. »Mann, ich hab doch gesagt, mit Filter.«
Er öffnete die Tür, der Wagen surrte weiter im Leerlauf, und lief schimpfend in das Gebäude. Kurz darauf kam er mit einem von Dollarnoten, Münzrollen und losem Wechselgeld überquellenden Plastikbeutel zurück. Unter den Arm hatte er sich eine Stange Marlboros geklemmt. Er setzte sich hinters Steuer und begann, das Geld zu zählen.
Eddie stieß eine dünne Rauchfahne aus. »Denkst du nicht, wir sollten uns aus dem Staub machen?«
»Nur einen Moment.«
»Zähl das Zeug später, Mann, es wird schon nicht weglaufen!«
»Dieser Araber da drinnen auch nicht. Tot.«
»Das war mir schon klar. Ich hab ihm in den Kopf geschossen.«
Ray Bob grunzte. »Eine todsichere Methode.«
Er stopfte die Plastiktasche unter den Sitz und legte den Rückwärtsgang ein, dann trat er auf die Bremse. Durch die Windschutzscheibe starrte er auf die Ladenfront. »Verdammte Scheiße, wir hätten Bier mitnehmen sollen.«
»Ich hab keinen Durst«, sagte Eddie. »Los jetzt!«
Sie fuhren auf der rechten Spur der South Lamar, über ihnen der sanfte Himmel, transparent und wolkenlos, eine endlose hellblaue Höhe, in der die Sonne brannte. Im Radio sang Dwight Yoakam leise über das Kommen und Gehen der Liebe. Sie hörten nicht zu und sprachen nicht. Sie waren in Bewegung, und das war genug. Sie fuhren nach nirgendwo und überall, an keinen speziellen Ort. Der Motor des Caddy schnurrte.
In der Nähe des Brodie-Oaks-Einkaufszentrums murmelte Eddie: »Mann, ist das nicht ein Wetter?«
Ray Bob nickte. »So ist es, Kumpel. Gib mir was zu rauchen! Mach die Stange auf!«
Eddie riss die Verpackung an einer Seite auf und reichte Ray Bob ein Päckchen Marlboros. Seine Hände zitterten noch immer. »Wie viel ist in dem Sack?«, fragte er.
Ray Bob zuckte die Schultern. »Ich hab nicht zu Ende gezählt, du hattest es ja so eilig. Nicht viel. Wahrscheinlich hatte er gerade was zur Bank gebracht.«
Er riss das Zellophan vom Päckchen und lehnte sich zur Seite, sodass der Wind es an ihm vorbei mit sich riss. »Fünfundvierzig Eier, vielleicht auch weniger.«
»Scheiße«, sagte Eddie. »Und dafür machst du mich zum Komplizen bei einem Raubüberfall?«
»Das war kein Raubüberfall. Man kann keinen Toten überfallen.«
»Natürlich kann man das!«
»Kann man nicht!«
»Blödsinn«, sagte Eddie. »Es gibt für alles ein Gesetz.«
Robbers: Thriller
titlepage.xhtml
dummy_split_000.html
dummy_split_001.html
dummy_split_002.html
dummy_split_003.html
dummy_split_004.html
dummy_split_005.html
dummy_split_006.html
dummy_split_007.html
dummy_split_008.html
dummy_split_009.html
dummy_split_010.html
dummy_split_011.html
dummy_split_012.html
dummy_split_013.html
dummy_split_014.html
dummy_split_015.html
dummy_split_016.html
dummy_split_017.html
dummy_split_018.html
dummy_split_019.html
dummy_split_020.html
dummy_split_021.html
dummy_split_022.html
dummy_split_023.html
dummy_split_024.html
dummy_split_025.html
dummy_split_026.html
dummy_split_027.html
dummy_split_028.html
dummy_split_029.html
dummy_split_030.html
dummy_split_031.html
dummy_split_032.html
dummy_split_033.html
dummy_split_034.html
dummy_split_035.html
dummy_split_036.html
dummy_split_037.html
dummy_split_038.html
dummy_split_039.html
dummy_split_040.html
dummy_split_041.html
dummy_split_042.html
dummy_split_043.html
dummy_split_044.html
dummy_split_045.html
dummy_split_046.html
dummy_split_047.html
dummy_split_048.html
dummy_split_049.html
dummy_split_050.html
dummy_split_051.html
dummy_split_052.html
dummy_split_053.html
dummy_split_054.html
dummy_split_055.html
dummy_split_056.html
dummy_split_057.html
dummy_split_058.html
dummy_split_059.html
dummy_split_060.html
dummy_split_061.html
dummy_split_062.html
dummy_split_063.html
dummy_split_064.html
dummy_split_065.html
dummy_split_066.html
dummy_split_067.html
dummy_split_068.html
dummy_split_069.html
dummy_split_070.html
dummy_split_071.html
dummy_split_072.html