18
 
Östlich von Columbus überquerte Rule den Colorado ein weiteres Mal. Durch flache Hügel und Ebenen jagte er den Truck in östlicher Richtung über den Interstate Highway. Die Sonne brannte auf den Asphalt und wurde dort gnadenlos reflektiert. Er setzte die Sonnenbrille auf und wählte Molines Nummer in Austin.
»Dana hat mich angerufen«, sagte Moline.
Rule hielt sich das Handy ans andere Ohr. »Das ist nicht der Grund meines Anrufs, Moline. Haben wir was?«
»Nicht viel. Ich warte immer noch auf die Bilder aus Brookshire.«
»Dorthin bin ich gerade unterwegs«, sagte Rule. Er kündigte ihm den Umschlag aus Columbus mit der Kugel und den Fingerabdrücken an.
»Vergleich das Kaliber mit Bernies Fall und auch mit diesem Inder. Habt Ihr diese beiden schon verglichen?«
»Sie passen nicht zusammen«, erklärte Moline. »Zwei Schützen. Oder jedenfalls zwei Waffen. Sobald die Kugeln aus Columbus und Brookshire hier sind, machen wir weitere Tests.«
»Halt mich auf dem Laufenden. Immer noch kein Ergebnis vom Computer?«
»Nichts über DeReese, was wir nicht schon wussten. Kleinigkeiten. Er spielt jetzt wie gesagt in einer anderen Liga. Der Rothaarige ist noch nicht identifiziert.«
»In Ordnung. Ruf mich an, wenn du mich brauchst.« Er wollte gerade auf den Knopf drücken, als er bemerkte, dass Moline weiterredete.
»Was?«
»Ich sagte, Dana hat erzählt, sie wäre gestern Abend bei dir gewesen.«
Rule antwortete nicht. Er steuerte nach links, um einem Gürteltier auszuweichen, das tot auf der Straße lag. Dann führte der Highway über die niedrige Brücke, die sich über das trockene Flussbett des San Bernard spannte. Dünne grüne Weiden lehnten sich durstig über das felsige Ufer, ihre dürren Äste raschelten im Wind. Er hörte das Atmen Molines, der am anderen Ende wartete.
»Das hat sie gesagt?«
»Ja.« Moline machte eine Pause. »Du hast es heute Morgen nicht erwähnt.«
Rule sagte, er habe es vergessen. Und dass es sehr früh gewesen sei, als Moline angerufen hatte. Außerdem sei es in seinen Augen sowieso nicht wichtig gewesen. »Ich bin kein Anwalt. Ich will nicht dazwischengeraten, also lasst mich da raus.«
»Ich hätte erwartet, dass du auf meiner Seite stehst.« Moline klang verärgert. Als Rule nicht antwortete, fuhr er fort: »Sie sagt, sie hätte dich im Broken Spoke getroffen.«
Rule räusperte sich. »Und wahrscheinlich hat sie dir gesagt, wir hätten miteinander geredet. Und dann ein oder zwei Mal getanzt. Ich hätte ihr ein Bier ausgegeben und gesagt, sie sähe wirklich gut aus. Und eines hätte zum anderen geführt. Hat sie das gesagt?«
»Nein.«
»Lass sie die Scheidung haben, Moline. Ich muss jetzt aufhören. Bleib am Ball.«
Er schaltete das Telefon aus und legte es neben sich auf die Sitzbank. Dann nahm er es wieder in die Hand und wählte die Nummer seines unmittelbaren Nachbarn, Elmore Westland. Elmore, ein Generalstaatsanwalt im Ruhestand, besaß ein Stück hügeliges Land gut zwanzig Kilometer südlich von Austin, gleich neben seinem eigenen Grundstück. Elmore ging ans Telefon. Sie redeten übers Wetter und kamen überein, dass ein paar heiße Tage bevorstanden. Dann bat Rule ihn, hinüberzufahren und sich einen oder zwei Tage lang um Leftys Futter zu kümmern. »Wahrscheinlich bin ich unterwegs.«
»Wen jagst du diesmal?«, fragte Elmore.
»Zwei üble Burschen. Sind Richtung Houston unterwegs.«
»Dann schnapp dir die Scheißkerle«, sagte Elmore.
»Das hab ich vor.«
»Gut.«
Rule schaltete das Telefon aus und wählte Katies Nummer in Houston, wo sie ein Apartment in einer Seitenstraße des Speedway nahe der Universität bewohnte. Als der Anrufbeantworter ansprang, lauschte er ihrer Stimme, zögerte und legte dann auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Er wusste nicht, was er tun sollte. Sie hatten sich einmal so nahegestanden. Als sie noch jünger war, vor der Scheidung und auch danach. In letzter Zeit allerdings nicht mehr. Sie schien immer wütend auf ihn zu sein. Er wusste nicht, was passiert war. Es jagte ihm Angst ein. Sein einziges Kind, und sie entglitt ihm einfach.
Er überquerte den Brazos kurz nach Mittag. Die Straße lag so gerade in der weißen Ebene wie die Wasserwaage eines Zimmermanns, deren Luftblase exakt in der Mitte schwebte. Sein Magen knurrte. Er ignorierte das. Er hatte in seinem Leben schon viele Mahlzeiten versäumt und machte sich nichts mehr daraus. Die Landschaft huschte vorbei, flache grüne Felder, die in noch mehr flache grüne Felder übergingen. Ihre Abgrenzungen waren nicht zu erkennen, abgesehen von vereinzelten Ansammlungen von Pyramidenpappeln an Bachläufen, die manchmal dazu dienten, Grenzen zu markieren. Manchmal aber auch nicht.
Nach einer Weile näherte er sich Brookshire. Die Stadt lag ein Stück nördlich abseits vom Freeway, als hätte sie nicht das geringste Interesse an der Betriebsamkeit einer Fernstraße und als hätte sie mit Erfolg versucht, ihr aus dem Weg zu gehen. Er rollte die Ausfahrt hinunter zur Kreuzung mit einer Straße, die in die Stadt hineinführte. Die nahegelegene Einfahrt zu einem Exxon-Shop wurde von einem Streifenwagen der städtischen Polizei blockiert. Er passierte den Wagen, bog in die Ausfahrt und parkte neben den Zapfsäulen. Ein grüner Abschleppwagen mit einer Winde stand neben dem Gebäude.
Er wurde von Chief Wharton und einem Mann im grauen Overall begrüßt. Wharton war früher Highway-Polizist gewesen und hatte dort wegen zu vieler Beschwerden Ärger gekriegt. Aus dieser Zeit kannte ihn Rule. Sie schüttelten sich die Hände. Der Chief hatte merkwürdig bösartige Züge und raue Manieren – und der äußere Schein trog nicht. Eine dunkelrote Narbe zog sich quer über sein Gesicht von der rechten Schläfe bis zum Kinn. Er deutete mit dem Kopf auf den zweiten Mann.
»Das hier ist Harvey Lomax. Seine Frau hat hier gearbeitet.«
Rule musterte den Mann. Ein grobes Gesicht, von der Sonne gegerbte Haut, der ganze Mann groß und drahtig, riesige raue Hände mit verschorften Knöcheln. Seine ausgefransten Ärmel endeten kurz über den kräftigen Handgelenken. Vermutlich war er um die vierzig, wirkte mit seinen geschwollenen roten Augen aber wie fünfzig.
»Wir kriegen sie doch«, sagte er mit gebrochener Stimme. Es klang eher nach einer Frage als nach einer Feststellung, und er lieferte gleich selbst die Antwort. »Und wie wir sie kriegen. Jede Wette. Die schaffen’s nicht in den Knast.« Er rieb sich mit der Rückseite des Handgelenks über den Mund.
»Harvey ist Deputy hier im County«, erklärte Wharton.
Rule nickte. »Tut mit leid wegen Ihrer Frau.«
Aber Lomax hörte nicht zu. Er war irgendwo weit weg, in seinen Schmerz versunken, über den ihn nur Rache würde hinwegtrösten können. Er murmelte etwas Unverständliches. Dann fuhr er deutlicher fort: »Die haben keine Ahnung von der Gerechtigkeit in Waller County. Und auch nicht von der Gerechtigkeit des Allmächtigen. Aber sie werden beides kennenlernen.«
Rule wandte sich an den Chief. »Vielleicht sollte ich mich mal drinnen umsehen.«
Sie traten durch die Eingangstür. Während Rule sich einen Überblick verschaffte, beschrieb Wharton, was er auf dem Überwachungsvideo beobachtet hatte. »Das Gesamtbild ist klar«, sagte er. »Sie sind schon auf dem Weg nach Austin. Auch über die Waffe wissen wir Bescheid. Auf dem Bildschirm sah es nach einer.38er Automatik aus, vielleicht auch 9mm.« Wharton verschränkte die Arme und schob beide Hände in die Achselhöhlen. »Ich hab gehört, einer der Typen ist schon identifiziert.«
»DeReese Ledoux«, sagte Rule. »Der mit dem Pferdeschwanz.«
Der Chief wippte auf den Fußballen und ließ sich dann zurück auf die Fersen fallen. Eins, zwei, drei. »Tja, es ist der andere, den wir wollen.«
»Ich will sie beide.«
»Bloß eine Frage der Zeit. Kerle wie die kommen nicht weit.« Er zog einen Beutel Red Man aus der Gesäßtasche und stopfte sich einen Klumpen in den Mund. Die rote Narbe wölbte sich über seiner Wange. Er zog eine Augenbraue hoch. »Ja, die kommen nur noch bis zur Hölle. Und dabei werden wir ihnen früher oder später helfen.«
»Was mich angeht, lieber früher«, erklärte Rule. »Gibt es hier irgendwas, das uns nützlich sein könnte?«
Wharton deutete mit einem Daumen zur Rückseite des Gebäudes. »Wir könnten uns die Toilette anschauen. Das Video zeigt, wie er mit dem Schlüssel rausgeht. Ich kann ihn nirgends finden, wahrscheinlich hat er ihn mitgenommen. Hat nicht mal abgezogen, das verdammte Schwein.«
Wharton trat zur Tür, öffnete sie einen Spaltbreit und spuckte einen dunklen Fleck Tabaksaft auf den Boden. Dann wischte er sich den Mundwinkel mit einem Fingerknöchel ab. »Ich vermute, dass er den Türknopf drehen musste, wenn er wirklich hier drin war. Einen Versuch ist es wert. Man weiß ja nie.«
»Nein«, stimmte Rule ihm zu. »Man weiß nie. Aber es ist eine öffentliche Toilette. Da würde ich mir wenig Hoffnung machen.«
»Natürlich«, erwiderte Wharton. »Ich bin schon zu lange in diesem Geschäft. Mit Hoffnung schaffen wir niemanden hinter Gitter, so war es nie und so wird es nie sein. Man jagt sie und bringt sie irgendwann zur Strecke, um jeden Preis. Nein, Hoffnung hat mir so oder so nie was bedeutet. Das ist was für die Armen und die religiösen Spinner.«
Er stützte den Arm, der dick wie der Ast einer Eiche war, gegen das Glas der Eingangstür. »Der Kerl da draußen zum Beispiel.«
Wharton deutete mit dem Kinn auf Lomax, der in der Einfahrt wartete. »Jetzt hat er jede Hoffnung verloren. Eine wandelnde Zeitbombe. Er fährt den Abschleppwagen da drüben, liest in der Bibel. Wenn wir nicht gut auf Harvey aufpassen, wirst du seinen Abschleppwagen ständig im Rückspiegel sehen. Vergiss die Gerichte. Er ist das fleischgewordene Gesetz, und ich spreche hier vom Alten Testament.«
»Soll ich mit ihm reden?«
Der Chief schüttelte den Kopf. »Bringt nichts. Der einzige Mensch, auf den Harvey je gehört hat, war seine Frau, und die ist tot.«
»Versteht er was von Polizeiarbeit?«
»Um Himmels willen, nein. Harvey ist Deputy. Die fahren durch die Gegend, tragen ein Abzeichen und erzählen den Leuten, dass sie das Gesetz vertreten. Reden sich gegenseitig mit ihrem Titel an und sorgen dafür, dass der Sheriff wiedergewählt wird. Du weißt, wie das läuft.« Er beobachtete den Mann durch das Glas. »Aber ich sag dir, wovon der alte Harvey was versteht. Von Waffen. Mit Waffen kennt er sich aus.«
Rule trat auf Wharton zu und blieb neben ihm stehen. Draußen auf der Einfahrt schien Lomax Gespräche mit sich selbst zu führen – oder mit jemandem, den niemand außer ihm sehen konnte. »Was trägt er bei sich?«
»Scheiße.« Der Chief neigte seinen großen Kopf zur Seite, ein Auge geschlossen. »Harvey? Der hat alles dabei, was nicht zu schwer zum Tragen ist. Harvey ist ein wandelndes Waffenarsenal.«
Robbers: Thriller
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