36
Ray Bob erreichte die Brücke, die den Pine Island
Bayou überspannte. Der große Achtzylindermotor schnurrte bei Tempo
hundertzwanzig. Die küstennahe Prärielandschaft hinter sich, hielt
er aufs östliche Texas zu. Eine schaft hinter sich, hielt er aufs
östliche Texas zu. Eine Gegend, die er kannte. Im Autoradio lief
die morgendliche Talkshow von KLVI, in der ein paar
Frühaufsteherclowns gekaufte Witze zum Besten gaben. Er hatte den
Sender für den Fall eingeschaltet, dass sie ihr kerniges Gequatsche
einmal lange genug unterbrachen, um zu berichten, was passiert war.
Der Überfall.
Die
Scheiße.
Während er die
niedrige Brücke überquerte, sah er über den Zypressen und
Tupelobäumen unten am Bayou am östlichen Himmel die Dämmerung
durchbrechen. Bernsteinfarbene Streifen über einer dunkelgrünen
Pergola, die mit grauen Locken von Spanischem Moos und den weißen
Flecken der tief in den Bäumen sitzenden Reiher gesprenkelt war.
Das Wasser im Bayou stand hoch, und die kaffeefarbene Flüssigkeit
suchte sich ihren Weg über Zypressenstämme und dichtes Unterholz
und breitete sich in feuchte Wälder und undurchdringliches Dickicht
aus. Fetzen von dichtem Nebel trieben über der glatten
Wasserfläche. Ein unheimlicher brütender Ort, an dem sich Schönheit
und Tod vermählten. Die Luft auf Höhe der Straße füllte sich mit
dem Geruch von fauligem Schlamm und verwesender Vegetation, die dem
ansteigenden Wasser ausgesetzt war. In einem einzigen Moment nahm
er alles in sich auf. Dann wurde die Straße auf beiden Seiten von
Wäldern umschlossen, die hauptsächlich aus Sumpfkiefern und
Terpentinkiefern bestanden.
Ray Bob dachte an
die Scheiße. Schuld war nur, dass er allein arbeitete. Dann
passierten solche Sachen eben.
Er drehte das Radio
lauter. Die Typen im Frühprogramm rissen Witze über den
Präsidenten, schlüpfrige Bemerkungen, über die sie selbst kicherten
und johlten. Sie redeten laut und schnell, ganz in ihren eigenen
Mist vertieft, als ob die Leute so was hören wollten, wenn sie
morgens die Augen aufschlugen. Das Radio schmeißt dich aus dem
Bett, und dann präsentiert es dir diese Schwachköpfe. Ray Bob
zündete sich eine Zigarette an, hörte eine Weile zu und sagte:
»Kommt schon, ihr hirnlosen Idioten, jetzt berichtet endlich
davon!«
Er näherte sich dem
Silsbee-Kountze-Dreieck, als das Programm endlich für den
Nachrichtensprecher unterbrochen wurde. Der Kerl klang so
aufgeregt, als wäre er selbst dabeigewesen. Er meldete einen
bewaffneten Raubüberfall bei der RaceTrac an der College Street
gleich beim I-10. Offenbar war eine Person tot und eine weitere
verletzt. Der einzelne Räuber konnte mit einer ungenannten Summe
Bargeld entkommen. Die verwundete Angestellte hatte der Polizei
eine Beschreibung des Mörders gegeben, noch während man sie im
Krankenwagen in die Notaufnahme des Baptist-Memorial-Hospitals
brachte, wo sie an einer Schusswunde im Bein behandelt
wurde.
»Im Bein!«, schrie
Ray Bob. »Scheiße!«
»Meine Güte, was für
eine Art, den Tag zu beginnen«, sagte der DJ, der Dan hieß.
»Schrecklich, schrecklich.« Er fragte den Nachrichtensprecher, ob
die Namen der Opfer bekannt wären.
Der Nachrichtenmann
erklärte, dass die Namen zurückgehalten wurden, bis man die
Angehörigen informiert hatte. »Wir wissen nur, dass der Tote ein
männlicher Schwarzer ist und die Verwundete eine weibliche
Schwarze.«
»Mein Gott«, sagte
Dan, der DJ. »Eine Frau.«
»So ist es«, fuhr
der Nachrichtensprecher fort. »Die Polizei glaubt, einen Hinweis
auf den Schützen zu haben. Die Personenbeschreibung passt auf einen
von zwei Raubmördern, die in der letzten Zeit mehrere Geschäfte
zwischen Austin und Houston überfallen und mindestens fünf Menschen
getötet haben, darunter einen Detective der Polizei von
Austin.«
»Ins Bein, verdammt!
Mein Gott!« Ray Bob schlug auf das Lenkrad ein. »Verdammte
Scheiße!«
Nach einer kurzen
Pause fuhr Dan fort: »Junge, Junge, Leute. Die Welt geht vor die
Hunde. Ich sag’s euch. Also muss man wohl davon ausgehen, dass der
Räuber bewaffnet und gefährlich ist?«
Der Nachrichtenmann
druckste einen Moment herum. »Ja, nun, es klingt jedenfalls danach,
schließlich haben wir einen Toten.« Dann hatte er sich wieder
gefangen und erklärte: »Auf jeden Fall, Dan. Kein Zweifel,
bewaffnet und gefährlich.«
Schließlich folgte
die Personenbeschreibung. »Ein männlicher Weißer mit kurzem roten
Haar, circa ein Meter achtzig groß und kräftig gebaut. Er trug
Jeans und ein weißes T-Shirt.«
Ray Bob grinste.
Einsachtzig, das war gut. Wahrscheinlich wirkte er riesig, wenn er
die Waffe in der Hand hielt.
»Was für ein Auto
fährt er?«, fragte der zweite DJ. »Wir sollten unsere Zuhörer
warnen.«
Der
Nachrichtensprecher entschuldigte sich damit, dass auch diese
Information im Augenblick noch zurückgehalten wurde. Allerdings
waren sämtliche Polizeistationen über Funk informiert worden, denn
der Täter konnte noch nicht weit gekommen sein. Die Polizei kannte
Farbe und Typ des Fahrzeugs also offensichtlich, wollte aber
verhindern, dass irgendwelche Bürger versuchten, sich dem Täter zu
nähern.
»Quatsch«, platzte
Ray Bob heraus.
Der
Nachrichtensprecher erklärte, er würde sich wieder melden, sobald
er über nähere Informationen verfügte.
»Quatsch«,
wiederholte Ray Bob. »Nie im Leben.«
Erstens war der
Angestellte, der den Caddy als Einziger gesehen haben konnte, tot.
So viel stand fest. Eine 9mm-Kugel im Kopf und eine in der Brust –
damit war niemand mehr in der Lage, ein Fluchtfahrzeug zu
beschreiben. Es war die Frau, die ihn gesehen hatte. Nach seinen
Schüssen war sie aus der Toilette marschiert. Hinter dem Regal mit
Limonade, in dem kurzen Durchgang mit dem Münztelefon. Sie war in
aller Eile herausgekommen, als ob sie nicht die geringste Ahnung
hätte, was los war. Hatte sich noch die Hände mit einem Papiertuch
abgetrocknet, das Miststück. Dann war sie wieder in die Toilette
gerannt und hatte die Tür abgeschlossen, ehe er einen Schuss
abgeben konnte. Ein großes dünnes Mädchen mit so schwarzer Haut,
dass sie beinahe bläulich wirkte. Knochig, mit großem Mund und
einer Cornrows-Frisur. Er hatte ungläubig dagestanden, war ihr dann
gefolgt und hatte ihr befohlen, die Tür zu öffnen.
»Nein.«
»Mach die verdammte
Tür auf!«
»Nein, das mach ich
nicht. Was haben Sie mit meinem Bruder gemacht?«
»Mit
wem?«
»Mit meinem Bruder
Charles.«
»Wo?«
»Da
draußen.«
»Ist das dein
Bruder?«
»Hmm.«
»Ist tot«, sagte Ray
Bob. Gott, jetzt redete er schon wie sie. Er hob die Stimme. »Mach
sofort auf!«
»Du verrücktes
Arschloch!«, brüllte sie. »Hau ab!«
Er senkte die Stimme
und drohte, durch die Tür zu schießen, falls sie nicht
öffnete.
»Mach doch,
Arschloch, die is aus Stahl! Los! Los!« Ihr Brüllen klang
hysterisch.
Also tat er es. Er
feuerte die Walther sechs Mal ab. Zwei unten, zwei in der Mitte,
zwei oben. Die Tür mochte aus Stahl sein, war aber nicht sehr dick,
sodass die Kugeln sie durchschlugen. Er hörte, wie sie aufschrie
und stürzte. Dann war es still. Er brüllte, sie sollte die Tür
aufschließen. Nichts. Also war sie wohl tot. Er schoss auf gut
Glück noch zweimal ziemlich tief und wandte sich ab. Dann nahm er
die Scheine aus der Kasse, ohne sich um das Wechselgeld zu kümmern
oder nach Münzrollen zu suchen, da die Zeit drängte.
Also hatte sie ihn
gesehen. Nur kurz, aber immerhin. Seine roten Haare und die
Kleidung hatte sie korrekt beschrieben, darüber ließ sich nicht
streiten. Aber niemals konnte diese Niggerschlampe den Caddy am
anderen Ende des Parkplatzes bemerkt haben. Niemals. Diesen Teil
hatten die verdammten Bullen sich aus den Fingern
gesogen.
Ray Bob zog ein
letztes Mal an der Zigarette und schnippte den Stummel angewidert
zur Seite. Acht verdammte Schüsse, von denen nur einer sie
getroffen hatte. Vielleicht auch mehrere, wer wusste das schon,
davon hatten sie nichts gesagt. Aber bloß ins Bein? Mit dem
Handballen hieb er aufs Lenkrad. Gott im Himmel.
Eine einzige
verdammte Scheiße, das war es. So was passierte eben, wenn dein
Kumpel den Schwanz einkniff und abhaute.
Er erreichte den
Abzweig, wo die Bäume von der Straße zurückwichen, nahm die
Ausfahrt nach links und gelangte auf den Highway 69 Richtung
Kountze. Die schmale zweispurige Straße war eine wichtige
Nord-Süd-Route gewesen, ehe die großen Highways gebaut
wurden.
Die Kiefern drängten
jetzt wieder bis an die Straße heran. Die Sonne stand ziemlich hoch
und tauchte die Baumkronen in helles Grün. Am Himmel waberten
einzelne silbrige Wolken, und Habichte beschrieben ihre
spiralförmigen Bogen. Der Wind blies über die Frontscheibe und
badete ihn in dem Aroma von Kiefernharz. Die Luft schien dermaßen
mit Sauerstoff und Feuchtigkeit angereichert, als hätte er ein
tropisches Land betreten.
Eineinhalb Kilometer
weiter fuhr er an den Straßenrand. Auf einer Lichtung im Schatten
einer Gruppe Eichen stand eine Blockhütte. Über der Veranda hing
ein Schild aus Zedernholz mit einer Aufschrift in rustikalen
Buchstaben: BÜCHSENMACHER – MASSANFERTIGUNGEN. Ray Bob parkte auf
dem leeren Stellplatz neben der Hütte, stieg aus und erleichterte
sich hinter einem Baum. Dann hob er das offene Verdeck des Caddy an
und zerrte so lange an seinem Rahmen, bis es sich löste und der
elektrische Motor protestierend aufheulte. Schließlich befestigte
er das Verdeck an der Windschutzscheibe und fuhr zurück auf die
Straße. Der Verkehr Richtung Norden war noch schwach, doch
innerhalb weniger Minuten war die Gegenfahrbahn in Richtung
Beaumont voll mit frühen Pendlern auf dem Weg zur Arbeit.
Buchhalter und Lehrer, Krankenschwestern und Verkäufer, Banker,
Anwälte, Bibliothekare, alle weiß, in Chryslern und Buicks. Sie
quollen aus ihren Mittelklasse-Backsteinhäusern in ländlichen
Siedlungen zwischen den Kiefern, sicher versteckt vor den Schwarzen
und Mexikanern, die inzwischen das Leben in der Stadt bestimmten.
Sie hatten genug Mumm zum Abhauen, aber nicht genug Mumm, um was
dagegen zu unternehmen, dachte Ray Bob.
Er fügte sich der
Geschwindigkeitsbegrenzung, beobachtete mit einem Auge den
entgegenkommenden Verkehr und mit dem anderen Auge den Rückspiegel.
Dabei hielt er Ausschau nach Bullen, Highway-Polizisten, die den
morgendlichen Berufsverkehr überwachten. Allerdings hatte er sich
inzwischen entspannt. Er roch die Wälder, atmete das dichte Grün
und drang immer tiefer ins östliche Texas vor, ins Land der
endlosen Wälder und Flussbettgehölze, der kleinen Flüsse und
Bayous, der hinterwäldlerischen Rednecks und bösartigen
Landbewohner. Seine Leute, mit denen er groß geworden war. Nicht
dass er vorgehabt hatte, in diese Richtung zu fahren, auch wenn ihm
die Umgebung vertraut war. Er hatte nach Houston gewollt. Er war
vom Strand über Beaumont hochgekommen, hatte einen Bogen zurück
geschlagen, um Galveston auszuweichen, weil er dort schon gewesen
war. Nimm nie denselben Weg zurück, sagte einem der gesunde
Menschenverstand, denn jemand könnte dir folgen. Die Idee war, in
Beaumont einen Laden auszuräumen und dann ab nach Westen Richtung
Houston zu düsen. Er wollte diesen Cajun-Verräter aufspüren und aus
dem Verkehr ziehen. Wie er es Eddie versprochen hatte. Eine Sache
der Ehre, denn darum ging’s bei der Loyalität.
Bis ihm die Scheiße
dazwischenpfuschte.
Mist, er hatte
gewusst, das irgendwas schieflief. Er hatte es in den Knochen
gespürt, irgendwie gewusst, dass das Niggermädchen nicht tot war.
Wie’ne Art zweites Gesicht. Er hatte sich für den Freeway Richtung
Westen entschieden, dann gemerkt, dass es nicht richtig war, und
gleich die erste Abfahrt genommen. Richtung Westen auf dem
Interstate musste alles voller Bullen sein, vielleicht gab es sogar
eine Straßensperre. Zu riskant. Also war er nördlich in die Wälder
abgetaucht. Wo er sich auskannte.
Die ganze Zeit hatte
er an den verdammten Feigling Eddie gedacht. Wenn zwei bewaffnete
Männer sich einen Laden vorknöpften, passierten solche Sachen
einfach nicht. Wofür war ein Kumpel sonst da? Und alles wegen
diesem Miststück Della. Er und Eddie waren Gift für die Bullen
gewesen, bis sie sich eingemischt hatte.
Eine halbe Stunde
später wichen die Bäume erneut zurück. Er durchquerte Kountze, ein
unbedeutendes Städtchen mit Sägemühle, ein paar abgewrackten
Geschäften und Tankstellen und mit Niggerhütten auf der Ostseite
der Straße. Big Daddy’s Kneipe mit Jukebox, Grillbuden, ein
Fried-Chicken-Drive-in. Dann fuhr er wieder durch Wälder, an der
Abzweigung nach Honey Island vorbei. Einmal, zweimal überquerte er
angeschwollene Flussarme. Die Straße verlief jetzt gerade wie ein
Gewehrlauf zwischen den dichten Bäumen. In den hohen Ästen nisteten
Krähen, und Truthahngeier kreisten in der Luft. Dieses Land war ihm
vertraut, hier fühlte er sich zu Hause.
East Texas, der Teil
von Texas, über den man nie etwas hört. Tiefster Süden. Die ganze
Strecke bis hinüber nach Louisiana und die ganze Strecke hoch nach
Arkansas: dunkelgrüne Wälder, undurchdringliches Dickicht und
Weinreben, Sumpfland, Zypressenmoor, Morast und alte Flussbetten,
wo sich Erde und Wasser überall einen Kampf lieferten. Ein
Dschungel. Ein von der Welt abgekapseltes, auf sich selbst
bezogenes Land der feuchten Vegetation, der sich tagsüber
verschiebenden Schatten und der tierischen Schreie in Nächten,
mondlos und sternenlos wie unter einer undurchdringlichen Pergola.
Seine düsteren Ausläufer wurden von Alligatoren und
Wassermokassinschlangen bewohnt, von Waschbären, Gürteltieren,
Luchsen und Panthern. Und von Menschen, die womöglich selbst aus
diesen Sümpfen gekrochen waren, vor langer Zeit oder auch erst
kürzlich: ein unveränderlicher Ort.
Sein Land, sein
Zuhause, seine Leute. Dort wollte er hin.
Aber nicht, um
länger zu bleiben. Bloß lange genug. Bis es wieder ungefährlicher
wurde. Dann würde er nach Houston umkehren und sich ums Geschäft
kümmern. Und dann weiter zum Strand, um seinem Kumpel eine Lektion
zu erteilen.
Aber zuerst würde er
sich mit der Schlampe befassen.