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Er sagte:
»Während die Ägypter
unter den Pharaonen prosaische Hieroglyphen in die Steine
meißelten, umgab das primordiale Meer hier, wo wir stehen, reißende
Flüsse und hinterließ seine unverwechselbare Signatur auf einem
unsicheren Vertrag – die vorgelagerten Inseln, zu denen auch diese
Halbinsel gehört.«
Er
sagte:
»Ein unsicherer und
provisorischer Vertrag, der auf Sand geschrieben wurde. Jedes
Körnchen ein uralter Überlebender, unsterblich, ein Zeuge aus der
Kreidezeit, aus dem Jura, Trias, Perm, Karbon. Ein Zeuge der
Erdzeitalter. Lassen Sie uns als Beispiel dieser einzelnen Stimme
lauschen.«
Der bärtige Mann mit
der Brille beugte sich zum Strand hinab. Er war um die fünfzig und
schwer gebaut. Zwischen seiner Khakihose und den Wanderstiefeln
schauten dicke, schwarzbehaarte Beine hervor. Mit ausgestrecktem
Arm erhob er sich wieder, die Handfläche nach oben gedreht und den
dicken Zeigefinger ausgestreckt. Vermutlich lag ein einzelnes
Sandkorn darauf.
Er
sagte:
»Dieses rastlos
umherreisende Körnchen begann sein Leben vor einer Milliarde
Jahren. Seitdem ist es in tausend Inkarnationen erschienen. Während
des Kambriums ruhte es auf dem Meeresgrund, durch spektakuläre
tektonische Ereignisse tief begraben im Inneren der Erde; dann
wieder nach oben befördert durch weitere derartige Ereignisse.
Eingeschlossen in riesige, sich ständig verändernde Berge, von der
Erosion befreit, methodisch zermahlen und von seinen nomadischen
Stammesgenossen getrennt, dann wieder ins urzeitliche Meer
geworfen. Später übrig gelassen, als die riesigen Wassermengen sich
zurückzogen, vom Wind verweht und von Hitze und Eis zermalmt, von
Flüssen mitgerissen und wieder dem Meer zurückgegeben, dann erneut
von der rollenden Brandung der Küste mitgespült. Schließlich
aufgehäuft zu Inseln, Halbinseln, zu den flachen Ufern vor der
Küstenlinie. All das, meine Freunde, ist auf der Oberfläche dieses
einzelnen, flüchtigen Körnchens Quartz verzeichnet. Da sollen die
Ägypter erst mal mithalten!«
Die Studenten, die
um den Mann herumstanden, beugten sich stirnrunzelnd vor, die
Notizbücher an sich gepresst. Sie starrten auf seinen
ausgestreckten Finger, als könnten sie tatsächlich auf diesem
winzigen Partikel die Geschichte wiederfinden, die er erzählt
hatte.
Eine langgezogene
Stille.
»Aber«, sagte dann
einer, »ich seh gar nichts.« Die anderen kicherten.
Ohne sonderliche
Überraschung blickte der Professor den jungen Mann an. Er schnippte
angewidert mit dem Finger und wischte ihn dann an seinem Hemd
ab.
»Ein Mangel an
Vorstellungskraft, wie gewöhnlich. Die Wissenschaft ist eine
Allegorie auf die Fakten, gebunden an die Theorie und begrenzt nur
durch die Schranken des menschlichen Verstandes. Deiner, Rusty, ist
unglücklicherweise in jeder Hinsicht beschränkt.«
Der Junge zuckte
gleichgültig mit den Schultern, während die anderen bösartig
grinsten. Dann stolzierte der Professor davon, und das Häuflein
Studenten folgte ihm den Strand hinauf.
Eddie starrte ihnen
nach. Sie kamen aus irgendeinem College in Beaumont und
veranstalteten eine Exkursion. Eine Weile war er ihnen neugierig
gefolgt und hatte dem Lehrer zugehört, wie er röhrenbauende Würmer
beschrieben hatte, die unter dem Sand lebten, Geister von Garnelen
in unterirdischen Silos, Schleim ausscheidende Mollusken und
merkwürdige Schnecken, die Venusmuscheln den Saft aussaugten. Der
Typ konnte richtig gut reden. Die Studenten allerdings waren
Schwachköpfe. Sie machten bissige Bemerkungen, gähnten und rollten
die Augen.
Als sie hinter einer
flachen grasbewachsenen Düne verschwanden, hob Eddie ein Stück
Treibholz auf und schrieb damit seinen Namen in den Sand. Eine
Welle rollte darüber hinweg und ließ seinen Schriftzug undeutlicher
zurück. Einige Wellen später war sein Name ganz verschwunden. Weg.
So lagen die Dinge, für ihn und für jeden anderen. Es gab keine
Wahl, außer vielleicht das Wann oder das Wie, wenn man das eine
Wahl nennen wollte. Du bist, oder du bist nicht. Man musste bloß
versuchen, es sich vorzustellen: nicht zu sein. Das war zu
gewaltig, um es wirklich zu kapieren.
Eddie dachte an den
Verkäufer oben in Austin, diesen Araber oder was immer er gewesen
war. Gerade noch hier, war er im nächsten Moment schon fort. Da,
nicht da. Tot, Mann. Einfach so. Wahrscheinlich hatte dieser Typ
Leute gehabt, die ihn jetzt vermissten, die um ihn
trauerten.
Weil er, Eddie, ihn
getötet hatte.
Weg.
Er warf den Stock
fort. Er landete auf einem klebrigen Flecken Öl, das angespült
worden war. Der bräunliche Sand war mit solchen Flecken dicht
übersät. Außerdem mit Plastikbechern, Stücken von Nylonschnüren,
Glasflaschen, Abfällen. Das meiste davon waren Überbleibsel von
Fördertürmen und Schiffen vor der Küste. Eddie konnte zwar kein
Sandkorn lesen, aber sicherlich einen Strand. Jesus! In meterhohen
Buchstaben: Menschen sind Schweine.
Eddie ließ den Blick
zum Horizont wandern, über die Wellen, ihre wogende Oberfläche und
die sandige Brandung. Hier kommt eine, und – upps – da ist schon
die nächste. War das nicht komisch? Mit einem Bier in der Hand in
die Wellen zu starren? Als gäbe es wirklich was zu sehen. Als
könnte irgendwas passieren, wenn man nur lange genug stehen
blieb.
Aber es passierte
tatsächlich etwas. Das Bier wurde wärmer, der Wind heißer und
feuchter. Er schwitzte. Zwischen den Zehen und zwischen den Zähnen
spürte er Sand. Ein Meer aus Sand. Trotzdem, eine beschissene Welle
war wie die andere. Man musste schon
Professor sein, um diesen Mist interessant zu finden.
Wieder musste er an
den Araber denken. Und an das weinende Mädchen im Park. Wie sie
zitternd am Flussufer gelegen hatte. Verängstigt. Mannomann. Der
ganze Schmerz, das ganze Leid. Seinetwegen. Bei dem Gedanken
überkam ihn ein Gefühl von … was?
Bedauern.
Er trank den letzten
Schluck des warmen Bieres, schleuderte die Dose in die Wellen und
beobachtete, wie sie ein Stück hinausgetrieben wurde, wieder ein
Stück näher kam und sich wieder entfernte, ohne letztlich vom Fleck
zu kommen. Eddie drehte sich um und folgte dem verdreckten Weg
zwischen den flachen Dünen hindurch, der offenbar genutzt wurde, um
mit dem Auto an den Strand zu fahren. Della nahm auf der Veranda
des Hauses ein Sonnenbad. Der Caddy war weg. Ray Bob klapperte die
Kneipen an der Strandpromenade ab, um herauszufinden, wo es das
kühlste Bier gab. Das hatte er jedenfalls gesagt.
Eddie stieg die
Treppe zum Haus hinauf und trat auf die Veranda. Della lag
bäuchlings auf einem großen gestreiften Handtuch, über und über mit
Bräunungscreme eingeschmiert. Den Kopf hochgereckt, las sie den
Houston Chronicle. Gleich neben ihr lag
die Bibel.
»Du hast diese Bibel
mitgenommen?«
Della sagte, sie
hätte sie in die Tasche gesteckt, ohne nachzudenken. Aber es fühlte
sich gut an, sie dabeizuhaben. Bloß für den Fall.
»Hast du darin
gelesen?«
»Na ja, ich hab sie
mir angeschaut.«
Eddie bemerkte, dass
die meisten Bibeln wohl auf diese Weise gelesen wurden, soweit er
es beurteilen konnte.
»So hab ich es nicht
gemeint«, erwiderte Della und blätterte auf die
Comicseite.
»Ich hab die rot
gedruckten Stellen gelesen, da, wo Jesus spricht.«
»Was hat er
gesagt?«
»Er sagt, man soll
versuchen, nett zu den Leuten zu sein. Zum Beispiel könntest du mir
noch etwas Öl auf den Rücken reiben.« Sie griff nach hinten, um den
Träger ihres Bikinis zu öffnen. »Weißt du, ich hab das Ding gerade
letztes Jahr gekauft, und schon ist es aus der Mode.«
»Was stört dich
daran?«
»Es ist so groß. Ich
brauche was mit ganz dünnen Riemchen.«
Auf Eddies Bemerkung
hin, sie könne genauso gut nackt gehen, erklärte sie, das wäre
nicht anständig. Während sie die Comics las, hockte er sich über
ihre Oberschenkel und trug das Öl dick auf. Als sie lachte, fragt
er, was so lustig wäre.
»Garfield. Er ist so
süß.«
Er beugte sich vor
und blickte über ihre Schulter. »Wer?«
»Garfield.« Sie
deutete mit dem Finger darauf. »Kennst du Garfield
nicht?«
Eddie musterte die
Zeichnung. »Ist das ein Waschbär?«
»Eine Katze,
Dummkopf.« Della erklärte, dass Fantasiefiguren nie real aussähen
und dass man sie deswegen ja auch Figuren nannte.
»Er schon.« Eddie
zeigte auf Dagwood, verschloss die Tube mit dem Sonnenöl und rieb
die Hände an seinen Armen ab. Dann drückte er sich aus der Hocke
nach oben und lehnte sich gegen die Wand im Schatten des
überhängenden Daches. »Er ähnelt meinem alten Herrn total, mit
diesen hochstehenden Haaren.«
Della sagte, jetzt
habe er ihn schon zum zweiten Mal erwähnt, seinen Daddy. Sie
stellte die Unterschenkel senkrecht und wackelte mit den Zehen,
deren Nägel grün lackiert waren. »Du musst ihn geliebt
haben.«
Eddie schaute hinaus
über die Dünen, den Strand und den bewegten Golf. Er roch die
Brise, brackig und heiß, das leichte Aroma von Rohöl und Seegras.
Er dachte nach und versuchte sich zu erinnern.
»Er war in Ordnung,
ein bisschen verrückt. Ein zäher alter Kerl. Hat viel getrunken.
Nicht besonders gebildet. Ist in den Sümpfen aufgewachsen und hat
die Schule nach der dritten Klasse geschmissen. Hat Sumpfbiber und
Waschbären gefangen, bis er mit neunzehn das trockene Festland
entdeckt hat. Er hat mir mal erzählt, dass ihm bis dahin gar nicht
klar war, dass die meisten Leute ohne Schlamm zwischen den Zehen
leben. Dann hat er seinem Bruder das Boot überlassen und ist nach
Lafayette gezogen, hat als Monteur für die Pipelines angeheuert und
geheiratet. Aber irgendwie ist er trotzdem nie klargekommen,
finanziell.
Sein Lohn war immer
schon weg, ehe er ihn überhaupt in die Hände bekam. Miete, Kinder,
Lebensmittel und alles. Ein Leben auf Raten. Sonderangebote und
Anzahlungen. Trotzdem hat es nie gereicht. Um ihn herum sprachen
alle vom wirtschaftlichen Fortschritt, was ihn noch mehr verwirrte.
Wenn die Geldeintreiber antanzten, kriegte er immer diesen
verrückten Gesichtsausdruck. Dann rannte er in die nächste Kneipe,
tankte auf und zettelte eine Schlägerei an.
Aber ganz egal, ob
er gewann oder verlor, die Schulden waren immer noch da. So leben
die armen Leute, die Arbeiterklasse. Das ist ihr Leben: kämpfen, um
irgendwie über die Runden zu kommen, und trinken, um zu überleben.
Manche Dinge ändern sich nicht. Sie stehen so fest, dass du sie in
Stein meißeln könntest.«
Er stützte einen
Ellbogen aufs Knie und hob die Hand schützend vors Gesicht. Das vom
Wasser reflektierte Sonnenlicht und der glasklare Himmel brannten
ihm in den Augen. Doch die Erinnerungen waren ganz
deutlich.
»Das eine ist
jedenfalls verdammt sicher: Mit der Fiedel konnte er umgehen. Sie
war alt und ziemlich ramponiert, sah richtig beschissen aus. Aber
er hat sie zum Singen gebracht. Samstagabends hockte er mit seinen
Kumpels zusammen und spielte den Cajun-Twostep. Dabei hat er mit
den Armen gewackelt wie ein junger Hahn, und er brachte die Leute
zum Toben. Das waren die Momente, wo er wirklich glücklich gewirkt
hat: wenn er die Fiedel unters Kinn geklemmt hatte und Musik
machte. Die meiste übrige Zeit war er damit beschäftigt, sich
schuldig zu fühlen, wie meine Momma es ausgedrückt
hat.«
»Schuldig
woran?«
»Keine Ahnung. An
allem, nehme ich an. Fühlst du dich nie schuldig?«
»Oh doch«, sagte
Della. »Ständig. Ich glaube, das ist normal.«
»Mein alter Herr kam
mir nie normal vor.«
»Du musst jedenfalls
drüber reden. Wenn du das in dir vergräbst, macht es dich verrückt.
Deswegen gibt es mehr labile Männer als Frauen. Frauen reden
mehr.«
»Hast du das
irgendwo gelesen?«
»In einer
Zeitschrift«, sagte Della. »Redbook,
glaube ich, die bringen interessante Artikel. Aber das wusste ich
schon vorher. Frauen sind auch cleverer.«
Eddie entgegnete,
davon hätte er noch nichts gemerkt, aber allzu viele clevere Leute
wären ihm sowieso noch nicht über den Weg gelaufen.
»Vielleicht
deswegen, weil du dich in bestimmten Kreisen
rumtreibst.«
Dem hielt er
entgegen, dass einige der cleversten Leute, denen er begegnet war,
im Gefängnis saßen und praktisch überhaupt nicht sprachen. Die
Verrückten dagegen redeten die ganze Zeit.
Della meinte, das
klinge irgendwie falsch.
Das sei ja nicht
seine Schuld, sagte Eddie. »Also, weswegen fühlst du dich schuldig?
Hast du ein Geheimnis?«
Della legte das Kinn
auf ihre Hände. »Vielleicht.«
»Und was ist
es?«
»Erzähl mir deins,
dann erzähl ich dir meins.«
Eddie spähte zum
Strand hinüber. Der Professor und seine Studenten tauchten gerade
zwischen den Dünen auf. Sie wanderten am Wasser entlang, schreckten
Strandläufer und Regenpfeifer auf. Während der bärtige Mann
dramatisch gestikulierte, trödelten die Studenten in weiten
Abständen hinterher wie eine ungeordnete Reihe schlecht gelaunter
Wehrpflichtiger auf Patrouille. Eddie dachte: Du kannst ein Pferd
zum Wasser führen, aber trinken muss es schon selbst.
»In Ordnung«, sagte
er. »Erzähl!«
»Nein, du zuerst!
Und es muss ein richtiges Geheimnis sein. Wenn Ray Bob Bescheid
weiß, gilt es nicht als Geheimnis.«
»Er weiß es
nicht.«
»Gut,
also?«
Er wollte schon
sagen, such dir eins aus, ich hab jede Menge. Stattdessen begann
er: »Mein richtiger Name ist nicht Eddie.«
Della kicherte.
»Ehrlich?«
»Ehrlich.«
»Und – wie heißt
du?«
»Wade.«
Sie verzog den Mund
und blinzelte ihn skeptisch an. »Du siehst gar nicht nach Wade
aus.«
»Tja, das ist doch
wohl egal. So heiße ich eben. Nach Onkel Wade, dem Bruder meiner
Mutter. Aber bitte nenn mich weiter Eddie, okay?«
»Okay.«
»Du bist
dran.«
Della runzelte die
Stirn, dachte nach, versuchte sich zu entscheiden. Da war zunächst
mal Mister Traumschiff, über den kein einziges verdammtes Wort in
der Zeitung stand. Dabei hatte sie auf jeder einzelnen Seite
gesucht, sogar im Wirtschaftsteil. Sie hatte keine Ahnung, was
schiefgelaufen war. Mister Manager war tot und wurde nirgendwo
erwähnt, als wäre es allen völlig egal.
»Du musst’ne Menge
Geheimnisse haben«, sagte Eddie. »Wenn du so lange überlegen
musst.«
»Ich versuch bloß,
mich an eines zu erinnern«, erwiderte Della. »Du musst bedenken,
dass ich eine Frau bin. Wir haben nicht so viele Geheimnisse. Also
gut, jetzt kommt’s. Bist du bereit?«
»Ich bin ganz
Ohr.«
»Gut, weißt du noch,
was ich dir über meine Modelkarriere erzählt hab?« Sie kratzte sich
am Oberschenkel und schaute ihn erwartungsvoll an.
Da sie nicht
weitersprach, bestätigte Eddie, dass er sich erinnerte. Was war
denn damit?
»Na ja, das
entspricht nicht ganz den Tatsachen.«
»Also gut.« Eddie
zuckte die Schultern. »Dann bist du also kein Model?«
»Natürlich bin ich
ein Model, Eddie. Aber ich bin keine Anfängerin. Was ich meine …
Ich bin schon eine Weile dabei. Ehrlich gesagt, hab ich in der
Junior High School angefangen.«
»Tatsache?«
»Ja. Dann hab ich
ein bisschen zugenommen und aufgehört. Jetzt bin ich in meiner
zweiten Phase.«
»Ehrlich?«
»Na ja, mir ist
schon klar, dass es keine große Sache ist.« Sie klang ein bisschen
enttäuscht. »Aber es ist etwas, das du noch nicht
wusstest.«
»Das stimmt«, sagte
Eddie. »Und wo schwindelst du sonst noch?«