22
 
Er konnte nichts tun außer warten. Von Brookshire her war er durch die ausgedehnte Prärielandschaft zwischen dem Brazos und dem San Bernard gekommen. Er hatte den Truck über den schmalen Asphaltstreifen gejagt, der die grüne Grasfläche durchschnitt. Als er in die Ebene des Brazos abtauchte, schien das hohe Gras auf beiden Seiten wie betrunken zu taumeln. Inzwischen hatte er Moline zweimal angerufen und beide Male nichts Neues erfahren. Nichts aus dem Computer, keine Identifizierung, kein sicheres Ergebnis der ballistischen Untersuchung.
Er konnte nichts tun außer warten.
Doch warten hatte er schon vor langer Zeit gelernt und war längst Experte darin. Wenn es nichts zu tun gab, dann tat man eben nichts. So einfach war das. Die Weisheit eines älter werdenden Mannes. Die Erkenntnis, dass Aktivität keinen Gewinn bringt, wenn ihr einziger Zweck darin besteht, in Bewegung zu bleiben. Wenn ihr einziger Zweck im Abreagieren liegt. Der Jäger, der nicht Wache halten kann, wird nichts hören, wird nichts sehen. Sinnlose Vergeudung von Kraft war das Resultat. Das gedankenlose Drängen eines jungen Mannes. Man überwand es durch eine bestimmte Art der Selbstbeherrschung: Man lernte zu handeln, indem man stillhielt. Den richtigen Augenblick abpasste.
Also wartete er.
Er fuhr durch die Städte, die sich an der Mündung des roten, schlammigen Brazos sammelten, Städte, die von dem breiten, sich dahinwälzenden Flusslauf lebten. Lake Jackson, Clute, Jones Creek, Freeport – grob geordnete Ansiedlungen in unmittelbarer Nähe zu Industrie und Öl. Wie überall drängten sie ans Wasser in jeglicher Form. Sie saugten Wasser auf und spuckten es wieder aus.
Er fuhr langsam. Beobachtend, lauschend. Wartend.
Mit Ausnahme eines weiteren Anrufs bei Katie. Wieder der Anrufbeantworter. Er hinterließ die Nachricht, dass er an einem Fall unten an der Küste arbeitete, in der Nähe von Freeport. Wenn sie wolle, könne sie ihn über Handy erreichen. Wenn ihr nach Reden zumute war. Oder bloß Hallo sagen, das wäre wirklich prima. Er hoffte, es ging ihr gut und alle ihre Kurse liefen nach Wunsch. »Und sei keine Fremde.« Was immer das heißen sollte.
Er wusste, was es heißen sollte. Ruf an!
Doch das war unwahrscheinlich. Er wollte es zu sehr.
Spätnachmittags nahm er an der Küste oberhalb von Freeport die Surfside-Bridge über den Intracoastal Waterway und fuhr die vorgelagerte Insel hinauf. Follets Island, ein schmaler Sandstreifen, der von der Strömung ganz langsam die Küste hinuntergetrieben wurden. Ohne Pause wogten Brandung und Gezeiten an der windzugewandten Seite heran. Auf der Leeseite lagen flache Lagunen oder Ausläufer der westlichen Bucht. Er war an grüne Hügel und Felsnasen aus Kalkstein gewöhnt, und diese Landschaft hier erschien ihm wie eine gigantische Wüste, die eigentlich niemanden interessieren konnte. Trotzdem lebten hier Menschen und nannten diese Gegend ihre Heimat.
Schließlich stoppte er vor einem Bierlokal aus verwitterten Schindeln ganz am oberen Ende der Insel, dem letzten Gebäude vor dem San Luis Pass. Er blieb einen Augenblick auf dem mit scharfkantigen Venusmuscheln und dichtem Unkraut bedeckten Parkplatz stehen und blickte zum südlichsten Zipfel von Galveston hinüber. Lauschend legte er den Kopf zur Seite.
Schließlich drehte er sich um und betrachtete das Gebäude und die Reste eines verwitterten Schildes mit der Aufschrift BOOMER’S PLACE. Die Fensterscheiben waren eingeworfen, ein kaputter Schiffsanker mit rostigen Enden lag verloren vor den Stufen der Eingangstreppe. Jemand hatte Geschlossen auf die Tür gemalt. Boomer hatte sich für immer aus dem Staub gemacht.
Die grelle Sonne des späten Nachmittags brannte ihm in den Augen. Er blinzelte ein paar Schweißtropfen weg. Schließlich schob er den Hut zurück und wischte sich das Gesicht am Hemdsärmel ab. Es war heiß wie in einem Hochofen, dazu kam der feuchte, salzige Geruch des Meeres. Vom Wind aufgewirbelter Sand brannte auf seinem Gesicht und geriet ihm zwischen die Zähne. Noch einmal spähte er über das Wasser hinweg zur südlichen Spitze von Galveston Island und dachte: Sie können genauso gut diesen Weg genommen haben wie jeden anderen. Und vielleicht haben sie ihn genommen.
Er blickte zum anderen Ufer hinüber. Das Wasser zwischen den Inseln war in kleine, graue, von Schaum bedeckte Pyramiden zerhackt. Aus dem grellen Himmel drangen die spitzen Schreie der Möwen. Er stand jetzt ganz still. Er hatte ein Gefühl. Diese Gefühle überkamen ihn hin und wieder. Manchmal hörte er auf sie und manchmal nicht. Je nachdem. Im Augenblick war er sich nicht sicher.
Also stieg er in seinen Truck und fuhr die Strecke nach Süden zurück, über die Brücke und nach Freeport hinein, wo er sich für die Nacht in einem Motel anmeldete. Dieser Ort war so geeignet zum Warten wie jeder andere. Und im Warten war er ein Meister.
Obwohl es auch manchmal irgendwie schal schmeckte.
Robbers: Thriller
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