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Er konnte nichts tun außer warten. Von Brookshire her
war er durch die ausgedehnte Prärielandschaft zwischen dem Brazos
und dem San Bernard gekommen. Er hatte den Truck über den schmalen
Asphaltstreifen gejagt, der die grüne Grasfläche durchschnitt. Als
er in die Ebene des Brazos abtauchte, schien das hohe Gras auf
beiden Seiten wie betrunken zu taumeln. Inzwischen hatte er Moline
zweimal angerufen und beide Male nichts Neues erfahren. Nichts aus
dem Computer, keine Identifizierung, kein sicheres Ergebnis der
ballistischen Untersuchung.
Er konnte nichts tun
außer warten.
Doch warten hatte er
schon vor langer Zeit gelernt und war längst Experte darin. Wenn es
nichts zu tun gab, dann tat man eben nichts. So einfach war das.
Die Weisheit eines älter werdenden Mannes. Die Erkenntnis, dass
Aktivität keinen Gewinn bringt, wenn ihr einziger Zweck darin
besteht, in Bewegung zu bleiben. Wenn ihr einziger Zweck im
Abreagieren liegt. Der Jäger, der nicht Wache halten kann, wird
nichts hören, wird nichts sehen. Sinnlose Vergeudung von Kraft war
das Resultat. Das gedankenlose Drängen eines jungen Mannes. Man
überwand es durch eine bestimmte Art der Selbstbeherrschung: Man
lernte zu handeln, indem man stillhielt. Den richtigen Augenblick
abpasste.
Also wartete
er.
Er fuhr durch die
Städte, die sich an der Mündung des roten, schlammigen Brazos
sammelten, Städte, die von dem breiten, sich dahinwälzenden
Flusslauf lebten. Lake Jackson, Clute, Jones Creek, Freeport – grob
geordnete Ansiedlungen in unmittelbarer Nähe zu Industrie und Öl.
Wie überall drängten sie ans Wasser in jeglicher Form. Sie saugten
Wasser auf und spuckten es wieder aus.
Er fuhr langsam.
Beobachtend, lauschend. Wartend.
Mit Ausnahme eines
weiteren Anrufs bei Katie. Wieder der Anrufbeantworter. Er
hinterließ die Nachricht, dass er an einem Fall unten an der Küste
arbeitete, in der Nähe von Freeport. Wenn sie wolle, könne sie ihn
über Handy erreichen. Wenn ihr nach Reden zumute war. Oder bloß
Hallo sagen, das wäre wirklich prima. Er hoffte, es ging ihr gut
und alle ihre Kurse liefen nach Wunsch. »Und sei keine Fremde.« Was
immer das heißen sollte.
Er wusste, was es
heißen sollte. Ruf an!
Doch das war
unwahrscheinlich. Er wollte es zu sehr.
Spätnachmittags nahm
er an der Küste oberhalb von Freeport die Surfside-Bridge über den
Intracoastal Waterway und fuhr die vorgelagerte Insel hinauf.
Follets Island, ein schmaler Sandstreifen, der von der Strömung
ganz langsam die Küste hinuntergetrieben wurden. Ohne Pause wogten
Brandung und Gezeiten an der windzugewandten Seite heran. Auf der
Leeseite lagen flache Lagunen oder Ausläufer der westlichen Bucht.
Er war an grüne Hügel und Felsnasen aus Kalkstein gewöhnt, und
diese Landschaft hier erschien ihm wie eine gigantische Wüste, die
eigentlich niemanden interessieren konnte. Trotzdem lebten hier
Menschen und nannten diese Gegend ihre Heimat.
Schließlich stoppte
er vor einem Bierlokal aus verwitterten Schindeln ganz am oberen
Ende der Insel, dem letzten Gebäude vor dem San Luis Pass. Er blieb
einen Augenblick auf dem mit scharfkantigen Venusmuscheln und
dichtem Unkraut bedeckten Parkplatz stehen und blickte zum
südlichsten Zipfel von Galveston hinüber. Lauschend legte er den
Kopf zur Seite.
Schließlich drehte
er sich um und betrachtete das Gebäude und die Reste eines
verwitterten Schildes mit der Aufschrift BOOMER’S PLACE. Die
Fensterscheiben waren eingeworfen, ein kaputter Schiffsanker mit
rostigen Enden lag verloren vor den Stufen der Eingangstreppe.
Jemand hatte Geschlossen auf die Tür
gemalt. Boomer hatte sich für immer aus dem Staub
gemacht.
Die grelle Sonne des
späten Nachmittags brannte ihm in den Augen. Er blinzelte ein paar
Schweißtropfen weg. Schließlich schob er den Hut zurück und wischte
sich das Gesicht am Hemdsärmel ab. Es war heiß wie in einem
Hochofen, dazu kam der feuchte, salzige Geruch des Meeres. Vom Wind
aufgewirbelter Sand brannte auf seinem Gesicht und geriet ihm
zwischen die Zähne. Noch einmal spähte er über das Wasser hinweg
zur südlichen Spitze von Galveston Island und dachte: Sie können
genauso gut diesen Weg genommen haben wie jeden anderen. Und
vielleicht haben sie ihn genommen.
Er blickte zum
anderen Ufer hinüber. Das Wasser zwischen den Inseln war in kleine,
graue, von Schaum bedeckte Pyramiden zerhackt. Aus dem grellen
Himmel drangen die spitzen Schreie der Möwen. Er stand jetzt ganz
still. Er hatte ein Gefühl. Diese Gefühle überkamen ihn hin und
wieder. Manchmal hörte er auf sie und manchmal nicht. Je nachdem.
Im Augenblick war er sich nicht sicher.
Also stieg er in
seinen Truck und fuhr die Strecke nach Süden zurück, über die
Brücke und nach Freeport hinein, wo er sich für die Nacht in einem
Motel anmeldete. Dieser Ort war so geeignet zum Warten wie jeder
andere. Und im Warten war er ein Meister.
Obwohl es auch
manchmal irgendwie schal schmeckte.